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Spinner

Benedict Wells

 

Verlag Diogenes, 2018

ISBN 9783257609288 , 336 Seiten

3. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR


 

{9}Montag


{11}Gelächter im Dunkeln


Ich habe diese eiskalten Hände. Menschen schrecken immer zurück, wenn sie mir die Hand geben. Und dann starren sie auf meine langen, weißen Finger, die einem gerade verstorbenen Pianisten gehören könnten, und nachdem sie auf meine Finger gestarrt haben, schauen sie mir ins Gesicht und wirken für einen Augenblick überrascht, dass ich noch lebe, bei diesen toten Händen. Deshalb bekam ich schon früh einen Komplex. Immer wieder holte ich meine Hände aus ihrem Lieblingsversteck, den Hosentaschen, hervor und betrachtete sie minutenlang. Vor allem, wenn ich nervös war. Und vor einigen Jahren, als der ganze Wahnsinn geschah, war ich oft nervös.

Ich fuhr damals mit der S5 Richtung Ostbahnhof. Es ruckelte, doch die Frau mir gegenüber hielt die Augen geschlossen. Ich musste gähnen und legte den Kopf in den Nacken. Dann ruckelte es zum zweiten Mal, und mein Koffer fiel auf den Boden. Ich stand auf und stellte ihn wieder hin.

Ein Blick auf die Uhr: kurz nach Mitternacht, Montag früh. Es war wenig los, niemand stieg ein außer einem angetrunkenen Obdachlosen, der vergeblich versuchte, seine Zeitungen und seine Lebensgeschichte loszuwerden. »Alles Wichser!«, rief er in meine Richtung, als er ausstieg.

{12}Ich sagte nichts, betrachtete nur meine Hände mit den dünnen langen Fingern. Dann ruckelte es erneut, und mein Koffer fiel wieder um. Diesmal ließ ich ihn liegen.

 

Wir hielten am Bahnhof. Ich dachte an meine Rückkehr nach München. Meine Mutter zog mit meinem Bruder in eine kleinere Wohnung, und ich hatte versprochen, ihnen zu helfen und meinen Kram auszumisten. Seit der Sache mit meinem Vater und meinem Umzug hatte ich mich zu Hause nicht mehr blicken lassen. Das war über ein Jahr her. Nach München zurückzukehren war das Letzte, was ich wollte. Wahrscheinlich war ich eine Woche früher aufgebrochen als geplant, um es schneller hinter mich zu bringen. Vielleicht vermisste ich aber auch nur das, was von meiner Familie übriggeblieben war. Vielleicht.

Ich betrat die Bahnhofshalle. Während ich meinen schwarzen Samsonite-Trolley hinter mir herzog, kam mir ein blondes Mädchen entgegen, das genau den gleichen Koffer im Schlepptau hatte.

»Schichtwechsel«, sagte ich zu ihr, dann war sie auch schon an mir vorbeigegangen.

Ich musste lächeln, da ich mir einbildete, sie hätte mir einen intensiven Blick zugeworfen. Träumer, dachte ich. Nach ein paar Schritten drehte ich mich noch mal um, doch das Mädchen war weg.

 

Mein Zug traf erst in dreißig Minuten ein. Ich kauf‌te mir einen Kaffee, nippte daran und verbrannte mir die Zunge. Während ich zum Gleis ging, versuchte ich mir die Wohnung in München vorzustellen, den Geruch, mein altes Zimmer, {13}die gemütliche Küche. Dort hatten wir, als mein Bruder und ich noch Kinder gewesen waren, oft Mensch-ärgere-dich-nicht gespielt. Ich hatte es geliebt, wenn es draußen regnete und wir drinnen im Warmen saßen und würfelten. Lange her. Jetzt kam es mir so vor, als seien es die Erinnerungen eines anderen.

Es war kalt am Bahnhof, ich knöpfte meinen Mantel zu und setzte mich. Eine Familie kam an mir vorbei. Der Vater schob einen Gepäckwagen, auf dem ein kleiner Junge saß. Die Mutter strich ihm liebevoll über den Kopf. Der Kleine murmelte etwas, und dann lachten alle. Deprimierend, wie glücklich die waren. Das passierte mir immer. Wenn ich schlecht drauf war, tauchten auf einmal von irgendwoher so scheißfröhliche Menschen auf. Ich schmiss den Kaffeebecher weg.

Plötzlich fuhr ich hoch. Die Kerze! Ich hatte beim Verlassen der Wohnung bestimmt wieder vergessen, die Kerze auf meinem Schreibtisch auszublasen. Vielleicht brannte schon das ganze Zimmer! Sicher war ich mir zwar nicht, aber besser kein Risiko eingehen. Ich stand auf und umklammerte den Griff des Koffers. München muss erst mal warten, dachte ich. Ich verließ den Bahnhof und fuhr wieder zu meiner Wohnung zurück.

Immerhin hatte ich es diesmal bis zum Gleis geschafft. Die letzten dreimal war ich bereits vorher umgekehrt.

 

Das Schrillen des Telefons riss mich aus dem Schlaf. Auf der Suche nach dem Hörer stießen meine Hände gegen leergetrunkene Bierflaschen. Es musste früher Nachmittag sein.

{14}»Ja … bei Lier«, sagte ich. Mit dem »bei Lier« ließ ich mir, obwohl ich allein lebte, immer alle Optionen offen. So konnte ich notfalls die Identität eines fiktiven Mitbewohners annehmen und sagen, dass Jesper nicht da sei, ich ihm aber gern etwas ausrichten könne. »Wer ist da?«

»Jesper, bist du das?«

Die Stimme kam mir vertraut vor. Ich beschloss, mich zu erkennen zu geben. »Ja …«, sagte ich, um dann viel zu laut hinzuzufügen: »Ich bin Jesper Lier!«

Da ich mich im Halbschlaf befand, war ich froh, mich an die Dinge klammern zu können, die ich mit Sicherheit wusste. Ich hätte zwar auch sagen können: Ich heiße Jesper Lier, aber mich beschleicht schon länger das Gefühl, dass ich es auch tatsächlich bin. Obwohl ich mich früher schwer damit tat, denn Jesper klingt ein wenig nach einem Knusperfrühstück oder einem Biomüsliriegel aus Dänemark.

»Und Sie sind …«, fragte ich.

»Die Andrea natürlich.«

»Ah, ja … toll, dass Sie anrufen!« Ich hatte keinen Schimmer, mit wem ich da sprach.

»Siezt du mich etwa? Jesper, du erinnerst dich doch noch an mich, ich bin’s, deine Tante Andrea.«

Ich wühlte in meinen Erinnerungen herum und sah mich in unscharfen Bildern vor ungefähr drei Millionen Jahren als kleines Kind auf ihrem Schoß sitzen.

»Hab ich dich geweckt, Jesper? Schläfst du um diese Zeit etwa noch?«

»Wieso, welche Zeit haben wir denn?«

Das schien nicht die richtige Antwort gewesen zu sein. {15}Eine Pause trat ein. Ich überlegte, wie sie eigentlich an meine Nummer gekommen war. Die hatte doch niemand! Dann erinnerte ich mich, wie ich vor ein paar Wochen zufällig ihren Mann auf der Straße getroffen und sie ihm gegeben hatte.

»Tja … sag mal, wie geht’s dir denn so?«, fragte sie mich. »Ich wollte mich schon längst mal bei dir melden, auch wegen deinem Vater …«

»Mir geht’s gut«, unterbrach ich sofort.

»Schön.« Sie schien nun intensiv nachzudenken, was sie mich noch fragen könnte. »Und sonst? Was machst du, schreibst du eigentlich immer noch an deinem Buch, diesem … Gesellen

»Du meinst, Der Leidensgenosse

»Ja, richtig. Der Leidensgenosse, wie konnte ich das vergessen.« Sie lachte, was mich doch ein wenig ärgerte. »Und, wie läuf‌t es, bist du fertig, hast du schon einen Verleger? Ich hab ja neulich gelesen, dass es für junge Autoren immer schwieriger wird, etwas zu veröffentlichen.«

»Ach, da brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Erstens ist das Ding schon lange fertig, und zweitens habe ich auch schon einen Verlag, also alles bestens.«

Das war mehr oder weniger gelogen.

»Na, das ist doch super. Aber mal was anderes. Ich wollte dich, falls du noch nichts vorhast, für heute Abend einladen. Ich hab Geburtstag. Willst du nicht bei uns vorbeischauen?«

Ich wollte natürlich nicht, auf keinen Fall. Doch leider war das nicht meine Entscheidung, da ich an der Langschläfer-Krankheit litt: Ich war fröhlichen Frühaufstehern hilf‌los {16}ausgesetzt, denn im Halbschlaf versuchte ich es aus mir unverständlichen Gründen immer allen recht zu machen und nickte dann jeden Wunsch oder jede Bitte einfach ab. Und noch bevor ich etwas dagegen unternehmen konnte, hörte ich mich freudig in den Hörer plärren: »Geht klar, Andrea, heute Abend, ja? Natürlich bin ich dabei, das wird sicher lustig … Also, schon mal alles Gute, und bis später, ich freu mich.«

 

Nachdem ich aufgelegt hatte, schlurfte ich in den Flur. Die Dusche stand, wie bei Arbeiterwohnungen am Prenzlauer Berg damals üblich, in der Küche. Warmes Wasser gab es nur anderthalb Minuten lang. Danach kam der eiskalte Guss, der durch die verkalkten Rohre des Hauses rauschte. Ich hatte mich im vergangenen Jahr, was die Duschgeschwindigkeit anging, sehr gesteigert. Wenn ich gut drauf war, konnte ich in etwa zwei Minuten mit allem fertig sein. Doch da war nichts zu machen. Das Mistding ließ nicht mit sich feilschen und beharrte stur auf exakt anderthalb Minuten.

Vorsichtig schob ich den Plastikvorhang beiseite. Ich nannte ihn »die zweite Haut«, denn das Teil klebte immer sofort an mir. Ich drehte den Hahn auf und rieb mir Shampoo in die Haare. Vielleicht schaff ich’s ja heute rechtzeitig, dachte ich.

Ich war ein Idiot. Der polarkalte Strahl lähmte meinen Verstand und entlockte mir tiefe und dumpfe Laute des Entsetzens. Irgendwie vergaß ich jeden Tag aufs Neue, wie grausam das eigentlich war. Ich schrie auf und musste dabei vor Schreck fast lachen, während auch schon der Duschvorhang angeflogen kam und an mir klebte.

{17}Einige Sekunden hielt ich es noch unter dem eisigen Wasser aus, dann war ich endlich fertig und warf mich wieder ins Bett. Ich wollte nie mehr aufstehen.

 

Kurze Zeit später stapf‌te ich mit einem schlechten Gefühl durchs Zimmer. Was sollte das eigentlich heißen, junge Autoren hätten es immer schwerer, etwas zu veröffentlichen? Das ist doch Quatsch, dachte ich.

»Das ist doch Quatsch!«, sagte ich laut. »Das ist doch verdammter Quatsch!«, schrie ich und lachte. Auf einmal war ich gut gelaunt. Ich legte Musik auf, sprang im Zimmer umher und spielte Luftgitarre.

Irgendwann schnappte ich mir beim Rumzappeln einige...