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Welche EU? - -

Peter Güller

 

Verlag vdf Hochschulverlag AG, 2018

ISBN 9783728139252 , 134 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz DRM

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23,99 EUR


 

Die Schweiz – auf Europa angewiesen

Wir wissen, wie wichtig Europa für uns ist

Bei allen Differenzen in den Anschauungen ist uns bewusst geworden, dass wir auf die europäische Umgebung, auf ihre Politik und gemeinschaftliche Handlungsfähigkeit angewiesen sind. Zwar hat sich die im Vorfeld der EWR-Abstimmung von 1992 für den Ablehnungsfall befürchtete Gefahr einer Isolation und wirtschaftlicher Rückschritte nur beschränkt bewahrheitet. Nach dem Volksentscheid kam es zu einer Stagnation im Inland und Schweizer Firmen reagierten auf die fehlende Verlässlichkeit von stabilen politischen Rahmenbedingungen mit massiven Direktinvestitionen im Ausland (as 32). Unsere Aussenwirtschaftspolitik fand dann neue Wege für den Marktanschluss und wir konnten vom wirtschaftlichen Aufschwung der EWG profitieren.

Die Bedeutung Europas für die Schweiz reicht aber weit über den ökonomischen Kontext hinaus:

Die Schweiz braucht

□ ein demokratisches Umfeld: Ein Europa, in dem die Rechte und Pflichten der Bürger wahrgenommen werden, die staatliche Gewaltentrennung beachtet wird und jene Werte verteidigt werden, die auch die unseren sind.

□ ein stabiles Umfeld: Ein Europa, in dem sich die Wirtschaft gedeihlich entwickelt, genügend Aufsicht über risikolastige Unternehmungen ausgeübt wird und es keine störenden Ungleichgewichte unter den Staaten und Regionen gibt. Denn nur so lässt sich der soziale Friede und politische Solidarität erhalten.

□ ein Schutzschild: Ein Europa, das nach aussen verteidigungsfähig ist und vermag, weltweit zum Frieden beizutragen und Terror zu bekämpfen, sowie ein Europa, das den internen Wanderungsbewegungen durch eine gleichgewichtige Entwicklung entgegenwirkt und die interkontinentale Migration – vor allem die Flüchtlingsproblematik – nachhaltig angeht, indem es seinen Einfluss geltend macht, um sie an den Wurzeln zu bekämpfen.

□ eine Marktausweitung für die hier produzierten Waren und Dienstleistungen im Rahmen von sozial- und umweltverantwortlichen überstaatlichen Regelungen sowie einen erweiterten Entfaltungsraum für unsere bildungswillige Jugend und kreativen Geister.

□ ein ausländisches Arbeitskräftereservoir, um auf unserem Arbeitsmarkt die Angebotslücken zu füllen, welche sich zufolge der wirtschaftlichen Dynamik und der Überalterung der Bevölkerung ergeben. Europäer sind hier nach wie vor wichtig.

□ Strom- und Verkehrsnetze, die uns international effizient einbinden und die eine europaweit auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Ressourcenbewirtschaftung, Versorgung und Transportgestaltung erlauben.

□ den Verbund mit einem starken Global Player, der besser als wir allein in der Lage ist, sich im Rahmen weltweiter Ordnungsbemühungen für ein freiheitliches wirtschaftliches Handeln einzusetzen, welches mit den Anforderungen einer europäische Werte beachtenden Entwicklung übereinstimmt.

Das Wissen um diese Abhängigkeit bedeutet für die meisten von uns zwar nicht, sich aktiv um die Zukunft der EU zu bemühen, geschweige denn den Beitritt ins Auge zu fassen. Jakob Kellenberger, Schweizer Chefunterhändler für die Bilateralen I, spricht von einem beschränkten Interesse für die europäische Wirklichkeit. Für Dieter Freiburghaus, Professor für europäische Integration in Lausanne, war in der Schweiz ein eigenständiges Anliegen, sich am Aufbau Europas zu beteiligen, kaum je vorhanden (kj 8, fd 381).

Was sodann die Souveränität betrifft, muss man sich mit den Sozialwissenschaftern Katya Gentinetta und Georg Kreis fragen, wie weit diese faktisch – also punkto Handlungsspielraum und die Fähigkeit zu entscheiden und Wirkung zu erzielen – noch reicht bzw. was man durch Mitwirkung und Erweiterung der nationalen Handlungsmöglichkeiten gewinnen könnte. Würde eine geteilte Souveränität nicht mehr bringen, und in welchen Bereichen wäre sie sinnvoll? Der Europarechtler Thomas Cottier sieht unsere Demokratie durch fehlende Mitbestimmung bei der Ausarbeitung von Rechtsakten gefährdet, welche aus wirtschaftlichen Gründen von der Schweiz übernommen werden. Und gemäss dem Politikwissenschafter Alois Riklin riskiert unser Land durch das Festhalten an einem formaljuristischen Souveränitätsbegriff, Schritt für Schritt zu einem nicht autonomen, scheinsouveränen Nachvollzugsland der EU abzusinken (gk/kg 278, ct1 18, ra 270).

Wir haben international eine lange politische Erfahrung

Zwar braucht man der Schweiz nicht zu sagen, wie wichtig grenzüberschreitende Lösungen sind. Die Historiker Kurt Messmer und André Holenstein berichten über unsere vielfältige Bündniserfahrung. So wurde etwa die Reichsvogtei, welche die drei Waldstätte 1309 zusammengefasst hat, knappe 20 Jahre später in den rheinischen Städtebund eingegliedert, einem Bündnis zur Wahrung von Frieden und Sicherheit. Weitere Vorfahren trafen mit den umliegenden Mächten Vereinbarungen über das Söldnerwesen, die Rüstungsfinanzierung und den Warenhandel. In der frühen Neuzeit unterhielten die eidgenössischen Orte mit allen wichtigen Mächten langfristige Vereinbarungen und verschafften sich durch das mehrseitige Allianzsystem Sicherheit und damit die Möglichkeit, den eigenen Rüstungsaufwand zu reduzieren (mk 15, ha 150).

Auslanderfahrung brachte aber auch die Arbeitsmigration von Schweizer Handwerkern und Gewerbetreibenden. Und es bildeten sich intensive wirtschaftliche Austauschbeziehungen heraus – im Spätmittealter gehörte die Eidgenossenschaft zu einem „transnationalen“ Wirtschaftsraum, der auch Süddeutschland und das Elsass einschloss. Die Westschweiz hingegen zählte zum italienischen Wirtschaftsraum. Die Genfer Messen spielten eine wichtige Rolle in der Geschäftsstrategie der grossen italienischen Handels- und Bankhäuser (ha 80 ff.).

Nach der Reformation führten die Religionskriege in Europa zu Einwanderungswellen von hochqualifizierten Protestanten, die mit ihren unternehmerischen Initiativen entscheidend zum Aufschwung der Schweiz beitrugen. So entstand eine neue Wirtschaftselite von Händlern, Verlegern und Fabrikanten, welche noch vorhandene Zunftsysteme aufbrachen. Während der Reformation wurde der Grundstein für die globalisierte Wirtschaft und eine international vernetzte Schweiz gelegt (stt).

Interne Bündnisfragen handhabten wir Schweizer hingegen nicht immer mit Geschick. Die Kantone mussten mehrfach erfahren, dass ihre Querelen erst dank ausländischer Interventionen gelöst werden konnten. Auch der Zusammenhalt der Eidgenossenschaft und ihre Einbindung in eine europäische Friedens- und Schutzordnung wurden erst durch internationale Dispositionen gewährleistet. 1815 haben die Grossmächte den Kantonen einen Bundesvertrag abgerungen und der Eidgenossenschaft am Wiener Kongress zu einem völkerrechtlich garantierten, klar definierten Staatsgebiet unter Festschreibung der Neutralität verholfen (ha 156 ff.).

Angesichts zunehmender weltweiter Verflechtungen wurde sich die Schweiz dann schon früh der Bedeutung internationaler Organisationen bewusst. Man denke an das von Henri Dufour und anderen Genfern gegründete Internationale Komitee vom Roten Kreuz. Und der Sitz des Weltpostvereins ist seit jeher Bern. In jüngerer Zeit machte uns die Beteiligung an europäischen Institutionen jedoch eher Mühe. Während wir in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) seit Anbeginn mitwirkten, vergingen nach der Gründung des Europarates knapp 15 Jahre bis zum Beitritt – die Schweiz hat sich dabei nur allmählich von einem reservierten zu einem engagierten Mitglied gewandelt (hg1 172, sj 50). Dem Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen (GATT) trat die Schweiz erst knapp 20 Jahre nach seiner Gründung bei. Und nach der Lancierung der Europäischen Menschenrechtskonvention dauerte es noch länger, bis auch wir unterzeichnet haben.

Mit der EU sieht sich die Schweiz nun aber einer supranationalen Entscheidungs- und Handlungsebene gegenüber, die unsere Nachbarländer – und teils uns selbst – in wichtigen Politikbereichen bestimmt, also nicht nur als Diskussionsplattform dient oder Verhaltensempfehlungen erlässt. Wir haben uns zunächst anders entschlossen und sind unter anderem mit Grossbritannien, Schweden und Österreich der gegengewichtigen Freihandelsassoziation EFTA beigetreten. Als diese drei Partner später in die EWG wechselten, verlor diese Assoziation an Bedeutung. Die Schweiz behielt zwar die Mitgliedschaft, hat 1992 in einer Volksabstimmung aber die mit der EFTA grundsätzlich verbundene Möglichkeit des Beitritts zum EWR ausgeschlagen.

Ähnlich wie die Gestalter der EWG haben die Akteure der schweizerischen Bundespolitik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts über die Friedensschliessung hinaus zunächst einen gemeinsamen Binnenmarkt geschaffen. Erst später nahmen sie die sozialpolitischen Probleme und die Aufgaben des regionalen Ausgleichs in Angriff, nota bene mit viel mehr Verzögerung als dies die EWG getan hat. Das Schweizer Modell ist das Beispiel für ein sich langsam entwickelndes föderales Wirken und, mit Konkordaten, nicht zuletzt auch für unterschiedliche Geometrien bei der zwischenstaatlichen Aufgabenbewältigung. Gret Haller sieht durchaus Parallelen zwischen der Entstehungsgeschichte der Schweiz und jener der EU (hg1 172).

Greifen wir jedoch noch etwas weiter zurück. Wenige erinnern sich wie der Club Helvétique daran, dass 1758 einer unserer Vorfahren, der...