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Die Farbe des Blutes

Die Farbe des Blutes

Brian Moore

 

Verlag Diogenes, 2018

ISBN 9783257608861 , 208 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR


 

{5}1


Es war zwischen neun und Viertel nach neun, als das Auto, das ihn in die Residenz zurückbrachte, auf den Platz der Proklamation einbog. Seit er aus der Sitzung gekommen war, hatte er nicht mehr auf die Uhr gesehen. Es regnete. Naß glänzten unter dem Sommerschauer die Statuen, die Dächer und Monumentalbauten am Platz; das Straßenpflaster glitzerte. Er knipste das Lämpchen über seiner Schreibunterlage an und begann zu lesen, nicht seine Notizen, sondern in einem Büchlein von Bernard de Clairvaux.

Denket ihr nicht, daß ein Mensch, der mit Vernunft geboren, nach dieser Vernunft jedoch nicht handelt, auf eine Weise nicht besser ist als die Tiere selbst? Das Tier nämlich, das sich von Vernunft nicht leiten läßt, sei damit entschuldigt, daß die Natur ihm diese Gabe vorenthält. Der Mensch indessen kann sich nicht entschuldigen.

Bei Bernard de Clairvaux konnte er manchmal die Welt seiner Pflichten vergessen und sich diesem Schweigen hingeben, in dem Gott wartete und richtete. Doch soeben sah er aus dem Augenwinkel einen schwarzen Wagen heranrasen und ganz dicht neben dem seinen herfahren. Er wandte den Kopf. Am Steuer dieses Wagens saß eine Frau mit grünem Kopftuch. Auf dem Beifahrersitz hob ein bärtiger Mann beidhändig einen Revolver und zielte auf ihn. In dem {6}Moment riß Joseph, sein Chauffeur, das Steuer herum und fuhr dem schwarzen Wagen voll in die Seite. Er fühlte sich umhergeschleudert wie in einer Zentrifuge, dann flog er aus dem Wagen und schlug hart aufs nasse Pflaster. Ein paar lange Sekunden lag er von Schmerz betäubt da und starrte in die unentrinnbare Dunkelheit des Nachthimmels.

Autos hupten; er hörte schnelle Schritte. Eine junge Frau mit grünem Seidentuch um den Kopf sah auf ihn herab; ihr Gesicht blutete, gespickt mit winzigen Glassplittern. Er setzte sich auf und sah einen großen dunklen Fleck an ihrem Oberschenkel, wo das Blut ihr durchs Kleid sickerte. »Alles in Ordnung?« fragte er ohne Sinn und Verstand. »Sind Sie verletzt?«

Sie antwortete nicht. Sie machte kehrt und ging schnell, wenn auch humpelnd, in Richtung Marktstraße davon. Autos, die auf den Platz kamen, bremsten und hielten, wie hypnotisiert von dem Unglück. Als er sich aufrichtete, wurde ihm schwindlig. Dann wurde sein Kopf wieder klar, und er sah aus einem Wagen einen Mann mittleren Alters zu ihm herüberstarren. »Sie …«, sagte der Mann, als wisse er nicht recht, wie er ihn anreden solle. »Alles in Ordnung … Ehrwürden?«

Er nickte. Er ging zu den Autowracks, wo ein paar Männer versuchten den schwarzen Wagen von seinem alten Mercedes wegzuziehen. Einer, ein Polizist, rief laut: »Alle zusammen! Eins … zwei … los!« Die beiden Wagen trennten sich mit einem häßlichen Knirschen.

Er betrachtete die Verwüstung darunter. Der Tod war ihm vertraut. Er gehörte zu seinem Alltag. Er wußte genau, wann er eintrat, wann die Seele den Körper verließ. Joseph war übel zugerichtet, ein Arm hing lose in seiner Chauffeursjacke, ein Bein war so verdreht, daß der Fuß nach {7}hinten zeigte. Nur sein Gesicht war unversehrt. Es war bleich und so teilnahmslos, als hätte ein geschickter Chirurg den Verstand dahinter wegoperiert. Noch während sein Mund Worte des Gebetes formte, wußte er schon, daß Joseph nicht mehr bekam, wonach er am meisten verlangt hätte: den Trost der Sterbesakramente.

Blaulichter blitzten in gestaffelter Reihe über den Platz und spendeten gespenstisches Licht, als er sich von Josephs Leiche abwandte und zu dem anderen Mann ging. Man hatte ihn aus dem schwarzen Autowrack gezogen und in den Lichtkegel eines Scheinwerfers gelegt. Glassplitter glitzerten wie Edelsteine in dem bärtigen Gesicht und auf seiner blutenden Nase. Als er sich zu ihm hinunterbückte, stieg ihm starker Wodkageruch entgegen. »Hören Sie mich?« fragte er, und das entstellte Gesicht drehte sich zu ihm nach oben. Die Augen weiteten sich in Wut oder Angst, und er machte den Mund auf, als wollte er etwas sagen. Dann fiel das sterbende Gesicht abrupt wieder zur Seite, als wollte es nichts von ihm wissen. Aber Gottes Gnade ist unendlich. Er kniete nieder, machte ein Kreuzzeichen und begann zu beten. Ein paar Umstehende nahmen dabei zum Zeichen des Respekts die Hüte ab. Während er betete, traten zwei Sanitäter in den Scheinwerferkegel, legten ihre Bahre ab und gingen in die Hocke, um sich den Bärtigen anzusehen. »Betrunken«, sagte der eine. Der andere erhob sich und sagte zu den Umstehenden: »Der ist tot.«

Sie legten die Leiche auf die Bahre, und wieder sah er in das zerschundene, bärtige Gesicht. Wer ist das? Warum wollte er mich ermorden? Joseph hat mir das Leben gerettet. Joseph.

Einer der Sanitäter kam und nahm ihn am Arm, um ihn ins Licht zu drehen und ihn zu betrachten wie eine Mutter {8}ihr Kind. »Wie fühlen Sie sich, Ehrwürden? Wo tut es weh?«

»Nichts, nein«, sagte er. »Mir fehlt gar nichts. Aber es ist noch jemand verletzt. Eine Frau.«

»Eine Frau?« Der Sanitäter drehte sich suchend zu den Umstehenden um. Ein Mann mit Windjacke trat in den hellen Scheinwerferkegel, ein Komparse im Rampenlicht, die Wichtigkeit selbst in dieser, seiner Minute. »Es waren nur drei beteiligt«, sagte der Mann. »Die beiden Toten und Seine Ehrwürden.«

»Seine Eminenz«, sagte eine Stimme aus der Dunkelheit. »Nennen Sie ihn gefälligst Eminenz. Das ist der Kardinal.«

Wer hatte das gesagt? War es einer der »Regenmäntel«, einer von der Staatspolizei, die ihm auf Schritt und Tritt folgte? Natürlich mußten sie den Unfall beobachtet haben, die Frau und alles. Wo sind sie denn, die Männer im blauen Lada?

Er wandte sich um und spähte in die Dunkelheit jenseits des Lichtkegels. »Ist einer von Ihnen hier, meine Herren?« fragte er.

Niemand antwortete. Der Sanitäter, der ihn untersucht hatte, faßte ihn wieder am Arm. »Ihnen ist schwindlig, nicht wahr?« fragte der Sanitäter. »Kommen Sie, wir bringen Sie zum Krankenwagen.«

Im Krankenwagen hatten sie Josephs Leichnam ins untere Fach geschoben. Jetzt glitt die Bahre mit der Leiche des Bärtigen quietschend ins obere Fach. Er setzte sich auf die andere Seite, Joseph gegenüber. Gesichter schauten zu ihm herein, als die Sanitäter die Tür zuschoben. Der Krankenwagen fuhr an, die Sirene verschaffte ihm freie Bahn, dann wurde sie ausgeschaltet, während sie durch leere, regennasse Straßen rasten. Er betete für Josephs Seele. Gib {9}ihm die ewige Ruhe, Herr, und laß Dein ewiges Licht auf ihn leuchten. Joseph, dessen Hände, so hart wie Holz, seine lange, in Rom gefertigte blutrote Schärpe zusammenfalteten und ordentlich das blutrote Barett darauflegten. Mich, den Sohn eines Stallknechts, hat Joseph, der Bauer aus der Provinz Kripke, an meinem ersten Tag im Amt des Kardinals unterwiesen. »Einen Kardinal müssen die Leute sehen können, Eminenz. Das hat der alte Kardinal gesagt. Und er hat gesagt, daß die rote Robe, die ein Kardinal trägt, an das Blut erinnern soll, das Christus für uns vergossen hat. Tragen Sie also die Robe in Ehren, Eminenz. Und nun lassen Sie sich mit der Schärpe helfen.« Joseph. O Joseph.

Die Sirene heulte wieder los, um den Krankenwagen anzumelden, als sie auf einen Hof fuhren. Er kannte diesen Ort: Es war das frühere Heiligkreuz-Krankenhaus, jetzt Marschall-Konew-Zentralkrankenhaus genannt. Die Sanitäter klappten einen tragbaren Rollstuhl auseinander, dann schoben sie ihn durch die Schwingtüren, die zu seinem Empfang aufgerissen wurden. In einer grell erleuchteten Vorhalle, wo es durchdringend nach Desinfektionsmitteln roch, erwartete ihn ein Schwarm Ärzte und Pfleger. Jemand mußte ihn telefonisch angekündigt haben. Ein älterer Arzt im weißen Kittel kam mit ehrerbietigem Kopfnicken auf ihn zu und hätte seinen Bischofsring geküßt, wenn er die Hand nicht weggezogen hätte. Sie rollten ihn in ein kleines Untersuchungszimmer und setzten ihn auf einen hohen Tisch aus Edelstahl. »Wenn Eure Eminenz bitte die Jacke und das Hemd ausziehen möchten? Der Pfleger wird Ihnen dabei helfen.«

Er tat wie geheißen. Der Pfleger schnitt ihm die zerrissenen Hosenbeine auf, wobei sich zeigte, daß er eine Schnittwunde am Unterschenkel hatte. Er fragte, ob er in der {10}Residenz anrufen und einen seiner Sekretäre, Malik oder Finder, bitten dürfe, mit einem Wagen herzukommen. Ein jüngerer Arzt, der soeben die Wunde an seinem Unterschenkel zu säubern begann, sah auf und sagte, das sei schon geschehen. Da wußte er, daß die Regenmäntel angerufen und sein Kommen angekündigt hatten. Der ältere Arzt untersuchte seinen Brustkasten und tat Jod und ein Pflaster auf einen häßlich aussehenden Schnitt unterhalb des Schlüsselbeins. Dann schien ihm ein Licht in die Augen; das vergrößerte Auge des Arztes sah ihn scharf an. »Nur eine leichte Gehirnerschütterung. Nichts weiter. Sie hatten ausgesprochenes Glück, Eminenz.«

»Es war ein Betrunkener, nicht wahr?« fragte der junge Arzt, indem er zu ihm aufsah.

»So?« Er sah den jungen Arzt an, doch dessen Gesicht wirkte arglos.

»Alkohol ist der Fluch unseres Landes«, sagte der ältere Arzt. »Er ist die Schande der Nation.«

Der ältere Arzt wies jetzt den Pfleger an, ihn zum Röntgen zu bringen. »Nur sicherheitshalber.« Der Pfleger legte ihm einen weißen Kittel um und setzte ihn wieder in den Rollstuhl. Während sie über den Korridor glitten, folgte ihnen eine untersetzte Frau mit Schreibblock. »Entschuldigen Sie«, sagte sie, »wir brauchen ein paar Angaben. Ihren Vor- und Nachnamen, bitte.«

»Bem«, sagte er. »Stephan Bem.«

»Und Ihr Alter?«

»Sechsundfünfzig.«

»Geburtsort?«

»Ich bin hier geboren. In dieser Stadt.«

Während er sprach, sah er Finder, seinen...