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Der Eiscremekönig

Der Eiscremekönig

Brian Moore

 

Verlag Diogenes, 2018

ISBN 9783257609011 , 304 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR


 

{5}1


Das gnadenreiche Jesulein von Prag war nur elf Zoll groß, aber schwer genug, um einem die Zehen zu brechen, falls es von der Kommode fiel. Es trug das Krönungsornat eines Monarchen, verbrachte sein Leben jedoch in Wirklichkeit damit, als ein verzweifelter, kleiner Prediger Gavin Burkes Blick aufzufangen. Was ihm gelang, als Gavin vor Kälte zitternd und in Unterwäsche nach der neuen Uniformhose griff.

»Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten«, sagte Gavin.

»Du bist meine Angelegenheit«, sagte das Jesulein. »Deine Mutter hat mich in dieses Zimmer gestellt, damit ich auf dich und Owen aufpasse. Nun ja, was soll’s, so weit mußte es ja kommen. Diese Uniform. Und dann diese Arbeit. Aber was will man auch von einem Jungen wie dir erwarten, der doch nur das macht, wozu er Lust und Laune hat? Faul und ungezogen bist du. Außerdem hemmt das Rauchen dein Wachstum. Übrigens einer der Gründe, weshalb du in diesen Sachen so lächerlich aussiehst. Die Wollust auch. Im Bett liegen und in deiner Phantasie unschuldige Mädchen beschmutzen, wo du doch eigentlich für deinen Schulabschluß büffeln solltest. Kein Wunder, daß du durchgefallen bist. Tja, so kommt eins zum anderen.«

»Ich weiß, was dich nervt, Jesulein«, sagte Gavin. »Drastisch gesagt – und so muß ich es jetzt mal sagen –, kommen dir die Tränen, weil ich dir und deinem Verein durch {6}die Lappen gehe. Keine Schule mehr, den Lohn in der Tasche. Und wenn ich Lust habe, kann ich losziehen und mir ein paar richtig scharfe Nutten leisten.«

»Was denn für Nutten?« fragte das Jesulein. »Wenn du eine Nutte siehst, wirst du doch blaß vor Schreck.«

»Möglich«, sagte Gavin, »dann besaufe ich mich eben vorher. Das kann ich mir dann nämlich leisten. Versuch doch, mich davon abzuhalten. Laß ein Wunder geschehen, Jesulein. Für Wunder bist du doch zuständig, nicht?« Doch kaum hatte er das gesagt, meinte er, das Schicksal herausgefordert zu haben, und klopfte auf Holz.

»Das wird dir kaum helfen«, warnte das Jesulein. »Merkst du nicht, daß du dich auf heidnischen Aberglauben berufst, um den Zorn Gottes von dir abzuwenden? Da kannst du mal sehen, wie dich diese ganze Sache mit der Religion durcheinanderbringt.«

»Hey, deine Uniform«, sein älterer Bruder Owen stürzte ins Zimmer und warf die Jurabücher aufs Bett, »zeig mal her.« Er griff sich den schwarzen Stahlhelm und las die weißen Buchstaben. »E.H.T. Was soll das denn bedeuten?«

»Erste-Hilfe-Trupp.«

»EHT-EHT-EHT.« Owen setzte den Helm auf und tat, als feuerte er eine Maschinenpistole ab. Dann lief er ans Schlafzimmerfenster und rief: »Hier ist der E.H.T., Fräulein. Lassen Sie die Jalousien runter, Fräulein. Ziehen Sie sich an, Fräulein. Es herrscht nämlich Krieg, kapiert?«

»Nicht so laut. Mutter könnte dich hören.«

»Ist das die Jacke? Darf ich sie anprobieren?«

»Von mir aus.«

»Links, zwo, drei, vier. Müßt ihr exerzieren?«

»Weiß ich noch nicht. Ich fang erst morgen mit der Arbeit an.«

{7}»Arbeit nennt er das. Was denn für eine Arbeit? Glaubst du tatsächlich, die Deutschen denken im Ernst daran, das gute alte Ulster zu bombardieren? Bist du wirklich so blöd, Söhnchen?«

»Warum nicht? Militärische Ziele gibt’s genug.«

»Ach, hör doch auf. Hitler hat noch nie was von dieser Gegend gehört. Erst mal muß er Frankreich schlagen, klar? Und dann bleiben da noch ganz England, Schottland und Wales. Das dauert Jahre, bis der zu diesem gottverdammten Flecken vorstößt. Ich sag dir was. Wie lang ist jetzt Krieg? Ein, zwei Monate? Und weißt du, wie viele Kommilitonen aus meinem Jahrgang an der Queen’s University sich freiwillig gemeldet haben? Vier. Das beweist dir doch, daß sich die Protestanten kein bißchen von den katholischen Bombenwerfern unterscheiden, wenn es ans Sterben geht für König George VI, den Stammler. Und überhaupt, warum sollten sich die Deutschen um ein Land Sorgen machen, in dem sich die halbe Bevölkerung beim ersten Gerücht einer allgemeinen Wehrpflicht in die Berge verdrückt?«

Zufrieden mit dem Schluß seiner Rede nahm Owen den Stahlhelm ab und gab ihn Gavin mit schwungvoller Geste zurück. »Hier«, sagte er. »Und hör auf, den verdammten Helden zu spielen. Ich kenn dich, Söhnchen. Luftschutz, daß ich nicht lache. Erste Hilfe! Du hast dich doch bloß zu diesem Trupp gemeldet, um dich vor einem Jahr Schule zu drücken. Du bist ein Blödmann, Söhnchen.«

»Nenn mich nicht ›Söhnchen‹.«

»Schon gut«, sagte Owen, setzte sich aufs Bett und starrte auf seine angeknabberten Fingernägel. »Weißt du«, sagte er, »ich halte nichts von Daddys Gerede über Bildung, die einen besseren Menschen aus dir macht. Ich weiß {8}nur, daß man mit einem Studium bessere Jobs bekommt. Und Jura habe ich belegt, weil ich den Abschluß brauche, wenn ich in die Firma eintreten will. Und bin ich da erst drin, hab ich ausgesorgt. Verdammt, willst du vielleicht an irgendeiner Straßenecke enden und mit einem Haufen Tagediebe herumlungern?«

»Wenigstens wäre ich dann besser dran als die anderen. Ich hätte immerhin Anspruch auf kostenlose Rechtsberatung.«

»Mach keine Witze. Ich mein’s ernst. Laß diese Luftschutzgeschichte bleiben und geh wieder zur Schule. Noch ist es nicht zu spät.«

»Es ist zu spät. Die Schule hat schon angefangen, und ich habe die Stelle fest zugesagt. Außerdem bleibt mir massenhaft Zeit, mich auf die Londoner Uniprüfung vorzubereiten. Mathe soll in London viel leichter sein. Hast du selbst gesagt.«

»Na schön, dann lern aber auch, verdammt noch mal. Versprochen?«

»Ich versprech’s. Ende der Predigt?«

»Nein, verflucht«, sagte Owen. »Aus irgendeinem idiotischen Grund, über den ich mich jetzt aber nicht weiter auslassen will, habe ich dich nämlich ganz gern. Ich mag dich, du dämlicher Affe. Ich finde es unverantwortlich und herzlos vom Alten, dich so in diese Geschichte reinschlittern zu lassen. Das könnte dir dein ganzes Leben versauen.«

»Tut es aber nicht. Diesmal schaff ich die Uniprüfung, und bis dahin verdien ich drei Pfund zehn die Woche. Hinterher geh ich ans Queen’s College und hol mir einen Abschluß, mit dem man finanziell was anfangen kann. In Ordnung?«

{9}»Das will ich hoffen«, sagte Owen. »Das will ich verdammt noch mal hoffen.« Er stand auf und knipste seine Schreibtischlampe an. Dann ging er mit gutem Beispiel voran, beugte sich über seine Bücher und lernte mit jener unerschütterlichen Konzentration, die Gavin noch nie hatte aufbringen können. Es war kalt im Zimmer. Gavin zog die Uniformhose an. Der Mann in der Kleiderkammer vom Luftschutzdienst hatte gemeint, sie würde passen. Der Mann hatte keine Ahnung. Sie war einen Zoll zu lang, die Jacke viel zu groß. Er betrachtete Owens gebeugten Rücken. Wie konnte er Owen das Gefühl erklären, das ihn vor jeder Klassenarbeit befiel, diese Ahnung, daß die Lehrer sein Versagen irgendwie schon vorherbestimmt hatten? Owen mußte sich an Prüfungstagen nicht übergeben; Owen hatte noch nie zitternd vor einem leeren Klassenarbeitsheft gesessen und auf das drohende Knarzen der Schuhe des Aufpassers gehorcht. Wie konnte er Owen seine Vermutung erklären, daß mit ihm irgendwas nicht stimmte, daß er ein Sexbesessener war, den alle Augenblicke Gedanken an Mädchen plagten, der damit rechnete, bei der erstbesten Gelegenheit zum Säufer zu werden, der nicht länger an Gott und an seine eine, heilige, katholische und apostolische Kirche glaubte, aber immer noch eine völlig unlogische Angst vor Gottes Strafe hatte? Wie ließ sich jemandem wie Owen erklären, daß ihm alles egal war, ob Kaiser, König, Edelmann – Bürger, Bauer, Bettelmann, ob Rechtsanwalt, Arzt, Priester oder Dieb, und daß seine einzige Beschäftigung mit der Zukunft jene ausführlichen Tagträume waren, in denen er ein berühmter Auslandskorrespondent oder der jüngste Schauspieler wurde, der je die englischsprachige Bühne erobert hatte? Wie konnte er Owen erzählen, daß die eigentliche Zukunft der eigenen {10}Generation bereits von einigen modernen Dichtern vorhergesagt worden war, die Owen niemals gelesen hatte und niemals lesen würde? Dichter wie W.H. Auden wußten, daß das Spiel aus war; sie wußten, daß die Reichen und Berühmten mit dem Rest der Menschheit zugrunde gehen würden:

Du kannst dann nicht fort, nein,

Es sei denn, du packst deine Sachen noch diese Stunde,

Flüchtest, braust über die Fernstraße davon …

Oder MacNeice, ein Mann aus Ulster:

Wie der Steinzeitmensch werden wir untergehen

Angesichts einer neuen Eiszeit, eines Dschingis-Khan

Und Yeats hat es auch schon gewußt:

Alles fällt auseinander, die Mitte hält nicht mehr;

Bare Anarchie bricht aus über die Welt.

Es war alles so prophetisch deutlich. Hitler war Yeats’ ›Jüngster Tag‹. Er war das wilde Ungeheuer, dessen Stunde gekommen war, das sich nach Bethlehem schleppte, um dort geboren zu werden. Yeats wußte, wie unsinnig es war, in diesen Tagen und Zeiten von Zukunft und von Arbeit zu reden. Aber wie ließ sich mit Owen darüber reden, der seit den Boys’-Own-Weekly-Heften seiner Pfadfinderzeit nichts mehr aus eigenem Antrieb gelesen hatte? Wie sollte er ihm erklären, daß bei dem Gedanken an Krieg ein schändlicher, klammheimlicher Jubel in ihm aufstieg, das Bild von einer Erwachsenenwelt in Trümmern? Und in {11}dieser Trümmerwelt würde es unwichtig sein, ob Gavin Burke seinen Schulabschluß gemacht hatte oder nicht. Die Zeugnisse würden unter Schutt und...