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Dark Call - Du wirst mich nicht finden - Thriller Neuerscheinung

Mark Griffin

 

Verlag HarperCollins, 2019

ISBN 9783959678001 , 416 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

Drei

Die grauen Wolken, die den gesamten Vormittag die Sonne verdeckt hatten, hingen immer noch am Himmel. Heftige Regenschauer jagten wie dichter Qualm über die Stadt.

Um diese Zeit waren sämtliche Durchgangsstraßen in London verstopft. Holly fuhr über Embankment und klopfte den Rhythmus eines Liedes auf dem Lenkrad mit, während der Regen auf das Wagendach prasselte und von der Windschutzscheibe spritzte. Sie liebte ihren knallroten MG, Baujahr 1982 – ein Klassiker, bildete sie sich ein. Sie ließ das Fenster ein Stück runter, um Luft hereinzulassen und den Regen zu riechen. Londoner Regen. Leicht salzig wegen der Themse. In dem Verkehr konnte sie den Fluss kaum ausmachen, aber wenn sich eine Lücke auftat, sah sie die Lichter und Schiffsmasten. Der November hatte begonnen, spätestens in einem Monat würden die Autos hier Stoßstange an Stoßstange stehen, wenn Weihnachtsbegeisterte und Käufer auf der Suche nach Schnäppchen in die Innenstadt strömten.

Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Fast drei, sie bog also auf die Westminster ab, vorbei an Belgrave Square Garden, und schon wenig später war sie auf der Cromwell Road, wo die Geschäfte bereits mit bunten Fähnchen für den Schlussverkauf warben. Fünf Minuten später befand sie sich in einer ruhigen Wohnstraße mit georgianischen Häusern zu beiden Seiten und bog dort in die Auffahrt zum Wetherington Hospital ein. Mit den kannelierten Säulen am Eingang und der Fassade aus weißem Stein hatte es etwas Hochherrschaftliches. In den Achtzigerjahren, als Gentrifizierung noch der letzte Schrei gewesen war, hatte man es umgebaut. Holly fuhr über die verkehrsberuhigenden Schwellen und parkte auf einem den Mitarbeitern des NHS vorbehaltenen Parkplatz, der mit ihrem Namen gekennzeichnet war. Der Weg wurde von Azaleen gesäumt und endete an der schweren Stahltür, die in das Krankenhaus führte. Über der Tür war ein Bewegungsmelder angebracht, daneben eine Weitwinkelkamera, die alles einfing, was sich näherte oder auf den Parkplatz fuhr.

Sie zog ihre Schlüsselkarte durch den Scanner und wurde mit einem schweren Knacken belohnt. Die magnetische Verbindung wurde unterbrochen, und die Tür ließ sich mit sanftem Druck öffnen. Drinnen war es warm und, dank der Neonröhren an der Decke, hell. Sie ging weiter zur Sicherheitskontrolle, wo sie den Metalldetektor und Edyta passierte, die Wärterin, die Hollys Namen in ein Buch eintrug und ihre Handtasche gründlich durchsuchte.

»Guten Tag, Holly.«

»Hi, Edyta. Das Wochenende ist schon wieder vorbei, keine Ahnung, wieso das so schnell ging. Wie geht’s Mike mit seinem Bein?«

»Nächsten Samstag kommt der Gips ab. Er hat sich wieder mit der Stricknadel darunter gekratzt. Wär mir ja egal, aber dabei trennt er jedes Mal ein Stück von meinem Pulli auf.« Sie gab Holly die Tasche zurück. »Schönen Tag.«

Im Raum mit den Schließfächern zog Holly ihren weißen Arztkittel über und nahm ihr Klemmbrett. Auf dem Weg durch den langen Gang in die Behandlungszimmer, die in einem separaten Gebäude untergebracht waren, grüßte sie Ärzte und Schwestern. Neben dem bogenförmigen Anmeldungsschalter befand sich eine Tür, die tiefer in das Gebäude führte. Die Stationsschwester sortierte Unterlagen in kleine Stapel, als Holly näher trat.

»Hi, Jackie, viel zu tun?«

»Kann man wohl sagen. Heute gab’s kein heißes Wasser in der Männerdusche.«

»Kalte Duschen in einer Irrenanstalt? Welches Jahr schreiben wir denn, 1869?« Sie nahm ihre Checkliste und legte die Stirn in Falten. »Wie geht’s Lee heute?«

»Tut mir wahnsinnig leid, Liebes, aber Lee hatte heute Morgen einen kleinen Anfall.«

»O nein. Dabei ging es ihm mit dem Risperidon doch so viel besser.«

»War ganz schön schlimm. Er wurde isoliert.«

»Ist Max in seinem Büro?«

Jackie nickte. »Er erwartet dich.«

Max Carrington, der Anstaltsleiter, sagte nichts, während Holly vor seinem Schreibtisch im Kreis ging. Sie hatte die Hände so fest ineinander verschränkt, dass ihre Fingerknöchel weiß wurden.

»Du hättest mich rufen müssen, Max. Ich kenne ihn besser als alle anderen.«

»Das ist richtig, aber …«

»Was ist denn überhaupt passiert?«

Max nahm die Brille ab und massierte sich die Nasenwurzel, als wäre ein Kopfschmerz im Anflug. »Er hatte eine heftige Wahnstörung und fing an, sich selbst zu verletzen. Ein Pfleger hat die Zellentür aufgemacht, und Lee hat ihn angegriffen. Dabei wurde Alarm ausgelöst.« Er sah sie mit zusammengekniffenen Augen an, setzte aber schnell wieder seine Brille auf. Die Gläser waren so dick, dass es schwierig war, seinen Blick zu deuten.

»Geht’s dem Pfleger gut?«

»Alan war’s, einer von den neuen. Er hat sich erschrocken, mehr nicht. Ich habe mit ihm gesprochen, er wird keine offizielle Beschwerde einreichen.«

»Gut. Danke dir, Max. Okay – also jetzt bin ich ja da. Hol Lee, und lass mich mit ihm reden.«

»Du weißt, dass ich das nicht darf.« Wieder nahm er die Brille ab, wieder führte er Daumen und Zeigefinger an die Nasenwurzel. »Wir können niemandem eine Vorzugsbehandlung geben. Der Vorstand würde auf die Barrikaden gehen.«

»Max …«

»Nein, Holly. Hör mir bitte zu. Lee ist … er ist einer unserer schwierigeren Fälle. Drei Jahre in Parkhurst und jetzt seit zehn Jahren hier. Bis morgen bleibt er isoliert. Schlag dir das aus dem Kopf.«

»Dann holst du ihn eben nicht raus. Aber wie wär’s, wenn du mich zu ihm lässt?«

»Du lieber Himmel, Holly. Er ist ein Mörder. Du weißt, wie gefährlich er ist.«

»Er hört auf mich, Max.« Sie senkte die Stimme. »Ich übernehme die volle Verantwortung für alles. Bitte.«

Lee Miller spielte Solitär, als Holly seine Zelle betrat. In seinem grauen Gesicht zeichneten sich tiefe Falten ab, es schien, als würde es kaum durchblutet werden. Von seinen Augenbrauen war nichts mehr übrig, sein rotes Haar kaum noch zu erahnen. Er saß an einem aufgebockten Tisch, hielt den Blick gesenkt, die Augen verborgen, und deckte Karten auf. Er schien Holly gar nicht wahrzunehmen, aber sie wusste, dass er sie beobachtete. Die Stille, abgesehen vom leisen Schaben der Karten, war absolut. Dann hob er ganz leicht den Kopf, und durch die leichte Bewegung schien auch in den Rest seines Körpers Leben zu kommen.

»Hallo, Holly.«

Eine Einladung.

»Hallo, Lee.« Sie zog ihre Jacke aus und hängte sie über die Lehne des Stuhls, der seinem gegenüberstand. Dann hielt sie einen Augenblick lang inne, beobachtete ihn, zog den Stuhl zurück und setzte sich, so leise sie konnte. »Wie geht’s dir heute?«

»Besser, jetzt wo ich dich sehe. Wie lief’s mit den Studenten heute früh?«

»Gut. Einige sind ganz vielversprechend. Sie zitieren schon Seto.«

»Wird völlig überschätzt. Newman und Lykken sind viel spannender. Aber jetzt ist das Seminar zu Ende, und du bist den Rest der Woche wieder hier, bei den Bösen.«

»Das Böse lebt ›nicht in den Räumen, die wir kennen, sondern dazwischen‹.«

»Lovecraft.«

»Sehr gut.«

Noch immer weigerte er sich, ihr in die Augen zu sehen. Er hielt weiterhin den Kopf gesenkt, den Blick ausschließlich auf sein Spiel gerichtet.

»Was war los, Lee?«

Sie hob die Hand über den Tisch und ließ sie in seiner Reichweite liegen. Dabei war sie sich sehr wohl bewusst, dass sie von Kameras beobachtet wurden. In diesem Moment blickte er auf. Seine glasigen Augen waren hellblau und von feinen roten Äderchen durchzogen. Trotz der Blutergüsse in seinem Gesicht konnte sie sehen, dass er geweint hatte. Er legte seine Hand ebenfalls auf den Tisch, dicht neben die von Holly, aber ohne sie zu berühren.

»Egal. Du siehst müde aus. Bist du spät ins Bett?«

»Kann man wohl sagen.«

»Neuer Freund?«

»Nein.«

»Was dann?«

»Arbeit.«

Er kniff ganz leicht die Augen zusammen. »Ich merke das, wenn du lügst.«

»Ich lüge nicht. Was war los, Lee?«

»Ah, und schon sprechen wir wieder über mich oder wie?«

»Genau.«

»Mein Lieblingsthema.« Pause. »Abgesehen von dir.«

»Komm schon, lass uns darüber reden.«

»Muss das sein?«

Ein paar Sekunden lang wirkte die Situation verfahren, aber dann schlug er die Augen nieder, und sie verstand dies als Signal, weiter Druck auf ihn auszuüben.

»Wie schlimm waren die Bilder, Lee? Was hast du gesehen?«

Er zog die Hand weg und wirkte plötzlich verletzlich.

»Was ich immer sehe. Die Bestie.«

Sie wartete ab.

»Nicht im empirischen Sinne. Trotzdem ist er eine Bestie. Dieses Mal dachte ich, er würde mich finden. Ich musste ihn aufhalten. Das ging nur, indem ich ihm mein Blut schenkte. Also fing ich an, mich zu ritzen.«

»Womit?«

Er hob die Hände und spreizte die Finger. »Die haben mir beim letzten Mal die Nägel nicht besonders gut geschnitten. Frechheit.« Er senkte seine Hände und seufzte. »Wie geht’s dem Pfleger? Den hab ich noch nicht oft hier gesehen. War ein Schock für mich, ein unbekanntes Gesicht zur Tür hereinkommen zu sehen. Hat er einen grauen Bart?«

»Nein.«

»Hm. Aber jemand anders hat einen grauen Bart. Ich hab jemanden mit einem grauen Bart gesehen.«

»Warum hast du aufgehört?«

»Ich dachte, dass ich ihn umbringen wollte. Aber das darf ich jetzt nicht mehr, oder?«

»Nein.«

»Er hat immer wieder...