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Westwall - Thriller. Auf welcher Seite willst du stehen?

Benedikt Gollhardt

 

Verlag Penguin Verlag, 2019

ISBN 9783641238032 , 496 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

1

Einige Wochen zuvor

Julia zog die Krawatte über ihren Kopf und fluchte. Sie hatte sie seit dem ersten Tragen nicht mehr aufgebunden, jetzt war das lose Ende durch den Knoten gerutscht. Ohne Schlips brauchte sie gar nicht erst zum Morgenappell hinunterzugehen, dachte sie, Ausbilder Roosen würde ihr den Kopf abreißen. Die anderen waren längst aus der Umkleide verschwunden, nur Julia stand immer noch in Unterwäsche und Bluse vor der Bank, neben ihr die riesige Sporttasche und ein Rollkoffer, aus denen haufenweise Klamotten quollen. Im Hintergrund rauschte eine Toilettenspülung, wenige Momente später kam Daria herein. Sie war Anfang dreißig, etwas füllig und trug einen dicken Zopf, der genauso tiefschwarz war wie ihre breiten, geschwungenen Augenbrauen. Sie war schon angezogen, schnallte den Gürtel ihrer Hose zu und musterte Julia skeptisch: »Das wird eng, Frollein.«

»Ich brauch dich!«, rief Julia.

Daria nahm die Krawatte und legte sie um Julias Hals. »In drei Minuten kommt der Alte!«

»Sag einfach nichts«, entgegnete Julia und durchwühlte hektisch die Sporttasche und den Koffer mit dem blauen Parka, der kurzen Jacke, zwei Cargo- und zwei einfachen Hosen, zwei Pullovern, zwei Unterziehrollis, zwei Krawatten, einem Trainingsanzug, Handschuhen, Schnürstiefeln, Halbschuhen, Sportschuhen, einem Gürtel, einer Mütze, Schulterklappen und der kugelsicheren Weste. Auf dem Rücken der blauen Jacke prangte groß ein reflektierender Aufdruck: POLIZEI.

»Hast du das Zeug gebügelt?«, fragte Daria und schlang die Krawatte routiniert zu einem Knoten.

»Hab’s versucht«, antwortete Julia, knöpfte mit fahrigen Fingern die Bluse zu und stieg anschließend in ihre weite Cargo-Hose. »Sieht man, dass ich sie abgenäht hab?«

»An dir sieht alles abgenäht aus. Du musst mehr essen!«, erwiderte Daria grinsend, ging zur Tür und schaute auf die Uhr. »Noch zwei Minuten!«

Julia schnürte die halbhohen Lederschuhe zu. Sie konnte hören, wie die letzten Polizeischüler die Treppen hinuntergingen, bereit für den Morgenappell, frisch geduscht, munter vom ersten Kaffee in der Mensa, scherzend und flirtend. Hastig zog sie die Uniformjacke an und knallte den Spind zu. Eine Minute vor sieben. Ein schneller Blick in den großen Spiegel neben der Tür. Sie leckte über ihre Handfläche und wischte fest über die kurzen braunen Locken – vergeblich, die drahtigen Haare wollten nicht am Kopf festkleben. Als sie mit der Frisur halbwegs zufrieden war, gab sie sich zwei kleine Ohrfeigen und zwickte sich fest in die müden Wangen. Da stand sie, Julia, die zukünftige Polizistin, Hüterin von Recht und Ordnung. Wirklich? Er war immer noch da, der leise Zweifel, als wäre alles nur ein Theaterstück, für das sie nachbesetzt worden war. Sogar heute, an dem Tag, dem sie so entgegengefiebert hatte.

Der Wecker hatte um halb sechs geklingelt, mehr schlafend als wach war Julia in das winzige Bad unter der tiefen Dachschräge gekrochen. Nach einer kurzen Katzenwäsche hatte sie im Stehen in einen Toast mit blassem Schnittkäse gebissen, dazu gab es löslichen Kaffee, ein Genuss im Vergleich zu dem selbstgerösteten Gebräu aus Eicheln und Zichorien, das ihr Vater ihr jeden Morgen vorgesetzt hatte. Um Viertel nach sechs hatte Julia in der Linie 16 gesessen, die sie zusammen mit den ersten verschlafenen Berufspendlern zum Hauptbahnhof brachte, wo sie erschrocken bemerkte, dass sie ihren Rucksack mit ihrem Handy und Portemonnaie zu Hause liegen lassen hatte. Egal, es steckte immer ein loser Geldschein in einer ihrer Taschen, also weiter mit der Regionalbahn 48. Ihre schlafverquollenen Augen hatten die trostlose Peripherie der Großstadt kaum wahrgenommen, die ersten Staus auf der Autobahn, den Baumarkt mit dem fußballfeldgroßen Parkplatz, das riesige Schienenareal des Containerbahnhofs, die gigantischen Lagerhallen der Speditionen, die Kiesgrube, an deren kargen Hängen noch der Müll der Wochenendschwimmer lag, und schließlich die Ölraffinerie am Horizont mit ihren rostig-braunen Schloten. Am Brühler Bahnhof hatte Julia wie so oft den 930er-Bus verpasst, weshalb sie die letzten anderthalb Kilometer zum Ausbildungsgelände rennend zurücklegen musste. Die riesige Sporttasche mit der Uniform wippte schwer auf ihrer Schulter, der gelbe Rollkoffer vom Sperrmüll holperte durch die Schlaglöcher. An der Schranke hatte die Pförtnerin sie mit dem gewohnt aufmunternden Lächeln gegrüßt, in dem Julia immer eine Prise Mitleid zu sehen glaubte. Natürlich hatten die anderen schon längst die Schranke passiert und frühstückten gerade in der Mensa oder saßen schwatzend in der Umkleide. Julia hätte sich einer der Fahrgemeinschaften anschließen können, aber sie schaffte es einfach nicht, noch früher aufzustehen, und sie schaffte es noch weniger, sich um diese Uhrzeit mit Menschen zu unterhalten, auch nicht mit netten.

Die Morgensonne hatte frisch durch die Bäume geblitzt, als Julia den Koffer die lange Straße entlang ins Herz des Geländes zog. Ein umzäunter Campus, eingerahmt von der Autobahn 553 Richtung Phantasialand und dem kleinen Park eines Rokoko-Jagdschlosses. Verstreut auf dem Gelände befanden sich Bauten mit Hörsälen, Turn- und Schwimmhallen, ein Mensagebäude, Stellplätze für Übungswagen, Wasserwerfer und Absperrgitter, ein Sportplatz, ein Übungsparcours aus rostigen Containern zum Häuserkampftraining und einige mehrstöckige Bürogebäude. Den ganzen Tag lang trieben sich überall auf dem Areal Gruppen aus je sechzehn Studierenden in Uniform herum; es wurden Verkehrskontrollen geübt, Zeugenbefragungen und Festnahmen mit und ohne Gegenwehr vorgenommen, Fahrtests mit Streifenwagen und Lauftrainings auf dem Sportplatz absolviert.

Julia mochte Brühl, es war ihr eigentlicher Geburtsort als Polizistin. Hier hatte sich das Mädchen aus der Bauwagensiedlung mit seinen selbst genähten Klamotten und den wilden braunen Locken in eine junge Frau verwandelt. Hier hatte sie zum ersten Mal eine Uniform getragen. Hier hatte sie zum ersten Mal in einem Streifenwagen gesessen und das Martinshorn und Blaulicht eingeschaltet. Mit weichen Knien hatte sie im unterirdischen Schießstand gestanden, die Arme ausgestreckt, in der rechten Hand die Walther P99, Kaliber 9 x 19 Millimeter, 680 Gramm schwer, die Beine leicht eingeknickt, den Po rausgestreckt. In ihrer Uniform war ihr der Schweiß die Achseln hinuntergetropft, als die Ausbilderin ihr die Hand beruhigend auf die Schulter gelegt und das Kommando gegeben hatte: »Laden! Entschlossene Schusshaltung! Schießen!« Der Schlag hatte Julias rechte Hand hochgerissen, und sie hatte auf ihrer Zunge den metallischen Geruch von Schmauch schmecken können. Der Knall war trotz der dicken Schallschutzkopfhörer gewaltig gewesen und hatte Julia für einen Moment paralysiert und gleichwohl fasziniert: Sie hatte das metallene Ding in ihren Händen zum Leben erweckt, sie hatte seine Macht gespürt, die Macht zu töten. Und sie hatte eine Ahnung bekommen, wie eine Waffe einen Menschen umschmeicheln konnte. Sie machte einen stark.

Nach dem Schießtraining hatte Julia ihre Pistole auseinandergebaut, gereinigt und wieder zusammengesetzt, und die Ausbilderin hatte ihr die Patronenhülse des ersten Schusses gegeben, zusammen mit der postergroßen Pappe, die sie damit durchlöchert hatte. Wieder zu Hause in ihrer Dachwohnung, hatte Julia das Andenken mit dem winzigen Loch über ihr Bett gehängt. Sie war endlich angekommen. Am anderen Ende der Welt bei der Polizei.

Eine Minute vor sieben. Julia stopfte die leere Sporttasche in den Rollkoffer, knallte den Spind zu, rannte aus der Umkleide und sprang in großen Schritten Stock für Stock die Treppen hinunter zum Parkplatz, wo schon über sechzig Polizeischüler in U-Form aufgereiht warteten, sich leise flüsternd miteinander unterhielten, an ihren Uniformen zupften und schnell ihre Kaugummis in Taschentücher spuckten. Julia ordnete sich ein, drückte den Rücken durch und wurde eins mit dem blauen Block. Um Punkt sieben öffnete sich die Tür des Hauptgebäudes, Hauptkommissar Berthold Roosen kam mit den anderen Ausbildern heraus und stellte sich vor seinen Kurs. Schlagartig wurde es ruhig, keiner rührte sich. Roosen hatte die Statur einer gedrungenen, alten Bulldogge. »Guten Morgen. Wie ist Ihre Stärke?«

Vom Rand der Gruppe meldete sich Sebastian, ein kräftiger Polizeischüler mit kantigen Gesichtszügen. »Soll sechzehn, Ist sechzehn!«

Hauptkommissar Roosen nickte und musterte die Uniformierten. Er war der älteste Lehrer in Brühl. Trotz seiner beinahe sechzig Jahre hatte er dichte, dunkelgraue Haare, und bei den Sportübungen hatte Julia sehen können, dass seine Bizepse immer noch in den Ärmeln der Hemden und T-Shirts spannten. Sein Griff bei den Hilfestellungen an den Geräten hatte eine roboterhafte Kraft, und wenn er brüllte, schwollen die Adern an seinem baumstammdicken Hals an wie Blutegel. Der Eindruck täuschte, das wusste Julia. Sie hatte in der Bauwagensiedlung lange genug mit Menschen unterschiedlichsten Alters auf engem Raum gelebt, um die Zeichen der Abnutzung an Roosens Körper zu bemerken: Sein vorsichtiger Gang deutete auf verschlissene Kniegelenke hin, an den Fingern waren die ersten arthritischen Knoten zu erkennen, zwei Sorgenfalten gruben sich tief von der Nasenwurzel in die Stirn, und unter den hellblauen Augen schwollen die Tränensäcke.

Roosen stand vor seinen Studenten und tastete mit scharfem Blick die Uniformen und Schuhe auf Falten und Verschmutzungen ab. Julia musste gegen den Drang ankämpfen, zu Boden zu starren. Er ist ein Wolf, dachte sie, er wittert es. In der Einöde hatte es keine Strenge gegeben, aber in den letzten Jahren hatte sie es immer stärker herbeigesehnt – Struktur und Klarheit, ein normales Leben. Dafür hatte sie alles hinter sich gelassen,...