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HERKUNFT - Ausgezeichnet mit dem Deutschen Buchpreis 2019

Sa?a Stani?i?

 

Verlag Luchterhand Literaturverlag, 2019

ISBN 9783641163242 , 368 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

SPIEL, ICH UND KRIEG, 1991


Hier ist eine Reihe von Dingen, die ich hatte:

Mutter und Vater.

Großmutter Kristina, die Mutter meines Vaters, die immer wusste, was mir fehlt. Wenn sie mir das selbstgestrickte Jäckchen brachte, dann war mir wirklich kalt gewesen. Ich gab es bloß ungern zu. Welches Kind will schon, dass seine Großmutter immer recht hat?

Nena Mejrema, die Mutter meiner Mutter, die mir aus Nierenbohnen die Zukunft las. Sie warf die Bohnen, und die Bohnen warfen Bilder eines noch ungelebten Lebens auf den Teppich. Einmal prophezeite sie mir, eine ältere Frau werde sich in mich verlieben, oder ich würde alle Zähne verlieren, die Nierenbohnen zeigten da eine gewisse Unschärfe.

Eine Furcht vor Nierenbohnen.

Ich hatte einen gut rasierten Großvater, den Vater meiner Mutter, der gern angeln ging und gern zu allen freundlich war.

Jugoslawien. Das aber nicht mehr lang. Der Sozialismus war müde, der Nationalismus wach. Fahnen, jeder eine eigene, im Wind, und in den Köpfen die Frage: Was bist du?

Interessante Gefühle gegenüber meiner Englischlehrerin.

Einmal lud sie mich zu sich nach Hause ein, bis heute weiß ich nicht, warum. Ich hin, aufgeregt wie Frühlingsanfang. Wir aßen selbstgemachten Englischlehrerinnenkuchen und tranken schwarzen Tee. Es war der erste schwarze Tee meines Lebens, ich kam mir irrsinnig erwachsen vor, tat aber so, als tränke ich schwarzen Tee seit Jahren, wurde auch den Expertensatz los: »Ich mag es, wenn er nicht so richtig schwarz ist.«

Ich hatte einen C-64. Sportspiele waren mein Lieblingsgenre, Summer Games, International Karate Plus, International Football.

Eine Menge Bücher. 1991 hatte ich ein neues Genre entdeckt: Choose your own adventure. Als Leser entscheidest du selbst über den Fortgang der Geschichte:

Rufst du: »Aus dem Weg, Höllengezücht, sonst schneid ich dir die Adern durch!« – lies weiter auf Seite 306.

Und ich hatte meine Mannschaft: Crvena Zvezda – Roter Stern Belgrad. Ende der Achtziger holten wir in fünf Jahren drei Mal den Meistertitel. Standen 1991 im Viertelfinale des Pokals der Landesmeister gegen Dynamo Dresden. Zu wichtigen Spielen kamen hunderttausend in unserem Marakana von Belgrad zusammen, davon mindestens fünfzigtausend Wahnsinnige. Immer brannte was, immer sangen alle.

Meinen rot-weiß gestreiften Schal trug ich oft zur Schule (gern auch im Sommer) und schmiedete für die Zukunft Pläne, die mich in die Nähe der Mannschaft bringen sollten. Den Weg, selbst Fußballer zu werden und vom Roten Stern für 100.000.000.000.000 Dinar (die Inflation) gekauft zu werden, sah ich als wenig wahrscheinlich an. Also wollte ich Physiotherapeut werden oder Ballwart oder von mir aus auch Ball, Hauptsache, ich wurde Teil vom Roten Stern.

Ich verpasste keine Spielübertragung im Radio und keine Zusammenfassung im Fernsehen. Zum dreizehnten Geburtstag wünschte ich mir eine Dauerkarte.

Nena befragte die Bohnen und sagte: »Du kriegst ein Fahrrad.«

Woher die Bohnen das wüssten, fragte ich.

Sie warf erneut eine Handvoll und sagte ernst: »Verlass an deinem Geburtstag das Haus nicht.« Dann stand sie auf, warf die Bohnen aus dem Fenster, wusch sich die Hände und legte sich schlafen.

Eine realistische Chance auf die Erfüllung meines Wunschs gab es schon deswegen nicht, weil Belgrad knapp 250 Kilometer entfernt lag. Das Einzelkind in mir spekulierte dennoch darauf, dass die Eltern sich meinetwegen zu einem Umzug in die Hauptstadt entschließen würden.

Am 6. März fegte Roter Stern im Hinspiel Dynamo Dresden mit 3:0 weg. Vater und ich sahen die Übertragung, unsere Stimmen waren schon nach dem ersten Treffer heiser. Nach dem Abpfiff nahm er mich zur Seite und sagte, er werde versuchen, uns Tickets für das Halbfinale zu besorgen, falls sich die Mannschaft qualifizieren sollte. Mit uns meinte er auch Mutter, die tippte sich aber bloß mit dem Zeigefinger an die Schläfe.

Das Rückspiel in Dresden wurde nach Ausschreitungen beim Stand 1:2 abgebrochen und als 0:3-Sieg für uns gewertet. Das Halbfinal-Los fiel auf die Bayern. Schon damals theoretisch unbesiegbar. Vater und ich verfolgten das Hinspiel wieder gemeinsam im Fernsehen. In der Halbzeitpause wurde von Unruhen in Slowenien und Kroatien berichtet. Schüsse waren gefallen. Roter Stern schoss zwei Tore, die Bayern eins.

Es ist so: Das Land, in dem ich geboren wurde, gibt es heute nicht mehr. Solange es das Land noch gab, begriff ich mich als Jugoslawe. Wie meine Eltern, die aus einer serbischen (Vater) bzw. einer bosniakisch-muslimischen Familie stammten (Mutter). Ich war ein Kind des Vielvölkerstaats, Ertrag und Bekenntnis zweier einander zugeneigter Menschen, die der jugoslawische Melting Pot befreit hatte von den Zwängen unterschiedlicher Herkunft und Religion.

Dazu muss man wissen: Auch jemand, dessen Vater Pole und Mutter Mazedonierin war, konnte sich zum Jugoslawen erklären, sofern ihm Selbstbestimmung und Blutgruppe mehr bedeuteten als Fremdbestimmung und Blut.

Am 24.4.1991 fuhren Vater und ich zum Rückspiel nach Belgrad. Ich ließ meinen rot-weißen Schal aus dem Fenster hängen, weil man das im Fernsehen so machte als richtiger Fan. Am Stadion angekommen war der Schal aufs Fürchterlichste verdreckt. Vor so was warnt dich ja keiner.

Am 27.6.1991 fanden in Slowenien die ersten Kriegshandlungen statt. Die Alpenrepublik erklärte sich für unabhängig von Jugoslawien. Es folgten Scharmützel in Kroatien, Horror in Kroatien, dann die kroatische Unabhängigkeitserklärung.

Am 24.4.1991 hatte der serbische Abwehrspieler, Siniša Mihajlović, Roten Stern mit einem Freistoßtor in Führung gebracht. Vorausgegangen war ein Foul an Dejan Savićević, einem Edeltechniker aus Montenegro. Der Jubel aus achtzigtausend Kehlen war ohrenbetäubend, war unheimlich. Heute könnte ich behaupten, darin hätten sich Wut entladen, unterdrückte Aggressionen, Existenzängste. Das stimmt aber nicht. All das würde sich später aus Waffen entladen. Das hier war nur eines: Jubel über ein wichtiges Tor.

Fackeln wurden angezündet, roter Rauch stieg über den Rängen auf, ich zog meinen Schal höher ins Gesicht. Um uns jubelten Menschen, fast ausschließlich Männer, junge Kerle, Vokuhilas, Kippen, Fäuste.

Im Mittelfeld wirbelte Prosinečki die Bayern immer wieder durcheinander, sein hellblonder Schopf wie eine kleine Sonne, die über dem Rasen auf- und – wenn ein Gegenspieler sich nicht anders zu helfen wusste – niederging. Ein Jugoslawe wie ich: Mutter Serbin, Vater Kroate. Die hochsitzenden, kurzen Shorts. Die bleichen Beine.

Hinten machte Refik Šabanadžović die Räume eng, ein unbequemer Bosnier, stämmig, aber schnell. Mein Lieblingsspieler lümmelte vor dem gegnerischen Strafraum scheinbar schläfrig herum: Darko Pančev, genannt Kobra. Der mazedonische Stürmer, Torschütze im Hinspiel, lief immer leicht vorgebeugt über den Platz, die Schultern hochgezogen, als ginge es ihm ausgerechnet heute nicht so gut. Die krummsten Beine des Universums, ich hätte auch gern solche gehabt.

Was für eine Mannschaft! So eine wird auf dem Balkan nie wieder möglich sein. Nach dem Zerfall Jugoslawiens entstanden in jedem neuen Staat neue Ligen mit schwächeren Teams, die besten Spieler wechseln heute jung ins Ausland.

Die Bayern glichen Mitte der zweiten Halbzeit aus. Ein Augenthaler-Freistoß, der Ball rutschte Stojanović unter den Händen durch. Belodedić, der rumänische Vorstopper (serbische Minderheit), tröstete seinen Kapitän auf dem Boden.

Vater, dieser selten laute Mann, brüllte, beschwerte sich, fluchte, und ich imitierte das, ich imitierte Vaters Wut, ich weiß gar nicht, was mit meiner eigenen Wut los war, vielleicht fehlte sie, weil alle um mich herum so viel davon hatten, vielleicht, weil ich wusste, es würde alles gutgehen. Und gerade, als ich das Vater mitteilen wollte – es wird alles gut –, gingen die Bayern in Führung.

Vater sackte in sich zusammen.

Ziemlich genau ein Jahr später fragte er mich besonnen, welche Gegenstände mir so wichtig sind, dass ich ohne sie nicht sein kann auf einer womöglich langen Reise. Mit der langen Reise meinte er die Flucht aus unserer besetzten Heimatstadt, wo betrunkene Soldaten ihre Lieder sangen, als feuerten sie eine Mannschaft an. Mein rot-weißer Schal fiel mir als Erstes ein. Ich wusste, es gab Wichtigeres. Nahm ihn trotzdem mit.

Vater sagte: »Mach dir keine Sorgen. Es wird alles gut.«

Wäre es beim 1:2 geblieben, hätte es Verlängerung gegeben. Vielleicht hätten die Bayern dann die besseren Beine und Ideen gehabt, um es ins Finale zu schaffen. Vielleicht wäre dann überhaupt alles anders gekommen, der Krieg nicht nach Bosnien, ich nicht zu diesem Text.

Das 2:2 habe ich nicht gesehen. Zu diesem Zeitpunkt – es lief die 90. Minute – standen alle, das ganze Stadion stand, vielleicht stand sogar das ganze Land ein letztes Mal gemeinsam hinter einer Sache. Ich konnte den entscheidenden Angriff bis zu dem Moment verfolgen, als der Ball, von Augenthaler abgefälscht, seine Torreise antrat, dann aber bewegten sich die Männer vor uns, neben uns, die ganze Tribüne bewegte sich, nach rechts, nach oben, ich wurde gedrückt, verlor kurz das Gleichgewicht und den Ball aus den Augen –

Wie oft habe ich dieses Tor in der Wiederholung gesehen? Hundert Mal bestimmt. Bis sich jedes Detail so in mein Gedächtnis gebrannt hat wie etwas, das man nur mit großer Liebe verbindet oder mit großem Unglück. Augenthaler will die Flanke abwehren, trifft den Ball unglücklich, eine Bogenlampe ins eigene Netz.

Hier ist eine...