dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Flying High

Bianca Iosivoni

 

Verlag LYX, 2019

ISBN 9783736310155 , 432 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

9,99 EUR

Für Firmen: Nutzung über Internet und Intranet (ab 2 Exemplaren) freigegeben

Derzeit können über den Shop maximal 500 Exemplare bestellt werden. Benötigen Sie mehr Exemplare, nehmen Sie bitte Kontakt mit uns auf.


 

Kapitel 2


HAILEE

Als ich die Augen aufschlage, ist es ruhig. Meine Umgebung. Meine Atemzüge. Meine Gedanken. Alles ist vollkommen still. Und für einen kleinen Moment schwebe ich irgendwo zwischen Schlafen und Wachen, und es ist das Friedlichste, was ich je erlebt habe. Bis die Erinnerungen zurückkehren. An das, was passiert ist. An das, was ich fast getan hätte. Jede einzelne reißt etwas in mir auf, wieder und wieder, bis es so viel ist, dass ich gar nichts mehr fühle.

Nach und nach stellt sich meine Umgebung scharf. Ich liege in einem Bett, das mir vertraut ist und an dem nicht nur mein Duft haftet, sondern auch seiner. Ich starre an eine Decke, an die ich in den letzten Wochen viel zu oft gestarrt habe. Ein warmer Windhauch streift mein Gesicht. Das Fenster muss geöffnet sein. Von der Straße sind Stimmen zu hören. Schritte. Kindergeschrei. Autos. Fahrradklingeln. Alles wirkt so … normal. So alltäglich. Dabei sollte es das nicht sein. Wie kann alles dort draußen einfach weitergehen, als wäre nichts geschehen?

Ich kneife die Augen zusammen und versuche es auszublenden. Aber vor allem versuche ich dem Drang zu widerstehen, auf die Uhr zu schauen. Denn ganz egal, welche Zeit sie mir anzeigen wird, ich weiß, dass es zu spät ist. Ich sollte nicht mehr hier sein. Ich wollte nicht mehr hier sein. Und trotzdem bin ich es jetzt. Nicht, weil Chase oder irgendjemand sonst mich davon abgehalten hat, die in Wasser aufgelösten Tabletten zu schlucken. Ich habe mich selbst davon abgehalten. Und in diesem Moment, als ich die Augen erneut aufschlage, weiß ich nicht, ob ich dankbar sein oder mich dafür hassen soll.

Obwohl ich nichts lieber tun würde, als wieder in den Schlaf abzudriften und alles zu vergessen, setze ich mich langsam auf. Mir ist schwindelig, mein Mund ist trocken, meine Augen brennen und mein Kopf dröhnt. Ich habe geweint. Daran erinnere ich mich viel zu deutlich. Chase hat mich festgehalten, und ich habe so sehr geweint wie nie zuvor. Wahrscheinlich fühle ich mich deswegen, als wäre ich einmal durch die Hölle und zurück geschleift worden.

Der Arzt, mit dem Chase befreundet ist und der bei mir war, hat ihm bestätigt, was ich bereits wusste. Ich habe nichts eingenommen. Ich konnte es nicht. Im Flur habe ich sie leise murmeln gehört. Ich kann mich nur noch an ein paar Bruchstücke ihres Gesprächs erinnern. »Körperlich scheint alles in Ordnung zu sein, abgesehen von totaler Erschöpfung. Aber alles andere …« Der Arzt, dessen Namen ich vergesse habe, hat Chase geraten, ich sollte schnellstmöglich einen Therapeuten aufsuchen oder zu einer Beratungsstelle gehen. Außerdem sollte man mich in nächster Zeit besser nicht allein lassen. Wahrscheinlich sollte ich also damit rechnen, dass jemand bei mir im Zimmer ist. Trotzdem bin ich überrascht, als ich die bekannte Stimme höre.

»Willkommen zurück.«

Ich drehe den Kopf zur Seite und starre in das Gesicht der Person, die auf einem Stuhl neben meinem Bett sitzt. »Lexi …?«

Chase’ Cousine lässt ihr Buch sinken und klemmt einen Finger als Lesezeichen hinein. Dann mustert sie mich geradeheraus.

Sie ist es wirklich. Lexi sitzt bei mir, vielleicht erst seit ein paar Minuten, womöglich aber auch schon seit Stunden. Zumindest müssen Stunden vergangen sein, denn der Himmel vor meinem Fenster verfärbt sich golden. Anscheinend habe ich fast den ganzen Tag verschlafen. Wahrscheinlich kein Wunder, nachdem ich letzte Nacht kein Auge zubekommen habe.

Die Frage danach, was passiert ist, liegt mir auf der Zunge, aber ich spreche sie nicht aus, weil mir im selben Moment klar wird, wie absurd das wäre. Ich weiß genau, was passiert ist, und ich glaube nicht, dass ich es jemals vergessen werde. Selbst wenn ich wollte.

Kurz zuckt mein Blick durch das Zimmer, von dem ich geglaubt habe, es nie wiederzusehen, dann landet er wieder bei Lexi. Sie wirkt blass. Die langen, leicht gelockten Haare sind eine zerzauste Mähne, als wäre sie gerade erst aus dem Bett gekrochen. Ihr Make-up ist unter den Augen ein bisschen verschmiert, und ihr Nacken knackt, als sie sich aufrichtet und den Kopf etwas zur Seite rollt.

»Wo ist Chase?«

Ich weiß nicht, warum das die erste richtige Frage ist, die ich hervorbringe. Vielleicht, weil er das Letzte war, was ich gesehen und gespürt habe, bevor ich eingeschlafen bin. Vielleicht, weil sein Duft und seine Präsenz noch immer so stark in diesem Raum sind, er aber nicht da ist. Und vielleicht auch, weil ich nach allem, was passiert ist, Angst davor habe, ihm wieder gegenüberzutreten.

»Jetzt gerade?« Lexi zieht die Brauen in die Höhe und wirft das Buch auf den Nachttisch. Ein kurzer Blick auf ihr Handy, dann landet auch das scheppernd auf dem Nachttisch. »Keine Ahnung. Er hat gesagt, er wäre in ein paar Stunden zurück.« Die letzten Worte presst sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Langsam sehe ich vom Telefon zu Lexi zurück. Diesen angepissten, störrischen Gesichtsausdruck habe ich schon mal bei ihr gesehen. Mehr als einmal, um genau zu sein. »Bist du meinetwegen so wütend …? Oder ist es wegen Chase?«

Sie schnaubt abfällig. »Chase ist ein Idiot. Er läuft lieber vor Problemen davon, statt dazubleiben und sich ihnen zu stellen. Oder – Gott bewahre! – gemeinsam nach einer Lösung zu suchen. Genau wie ein gewisser anderer Kerl, dessen Name hier nicht genannt wird.«

Ich zucke unwillkürlich zusammen und starre auf die dünne Bettdecke hinab. »Sieht so aus, als hätten wir da alle etwas gemeinsam …«

Lexi starrt mich einen Moment lang an, dann steht sie schwungvoll auf. »Willst du etwas essen? Trinken? Ich bin am Verhungern.«

Sie wechselt das Thema so schnell, dass ich ihr kaum folgen kann, aber ich nicke langsam, auch wenn ich keinen Hunger verspüre. »Das wäre toll.«

»Okay.« Sie stemmt die Hände in die Hüften und mustert mich durchdringend. »Ich gehe kurz runter ins Diner und hole uns etwas. Tu nichts …«

»Dummes?«

Kurz presst sie die Lippen aufeinander. »Nichts, was ich nicht auch tun würde.« Ein prüfender Blick durchs Zimmer, als würde sie nach etwas suchen, dann nickt sie mir zu. »Ich bin gleich zurück.«

Ich sehe ihr nach, bemerke, wie sie die Tür nur anlehnt, statt sie hinter sich zu schließen, und weiß nicht, ob ich erleichtert darüber sein soll – oder weinen möchte. Genau genommen weiß ich überhaupt nichts mehr. Nichts ist so, wie es sein sollte, und das ist meine Schuld.

Einen Moment lang starre ich nur auf meine Hände hinab, dann zwinge ich mich dazu, aufzustehen und mich ins Bad zu schleppen. Dort gehe ich zur Toilette, putze mir die Zähne und wasche mir anschließend das Gesicht. Als ich es mir mit dem Handtuch abtrockne, fällt mein Blick auf meine Sachen. Lexi oder Chase müssen sie aus dem Honda geholt und wieder ausgepackt haben. Bürste, Schminkzeug, Haargummis, Duschgel, Shampoo … aber mein Rasierer fehlt. Genau wie das Wasserglas im Zimmer. Ich kann mir denken, warum sie diese Sachen entfernt haben, trotzdem dreht sich mir bei der Erkenntnis der Magen um.

Ich kann nicht fassen, dass ich dieses Mädchen geworden bin. Das Mädchen, auf das man aufpassen muss, damit es sich nichts antut. Dabei hatte ich nie den Drang, mir selbst wehzutun. Ich wollte immer nur vor dem Schmerz fliehen, statt ihn zu spüren. Langsam lasse ich das Handtuch sinken und hänge es zurück. Ich kenne ein paar Leute vom College, die sich eine Zeit lang selbst verletzt haben. Manchen sieht man es nicht an, andere werden die Erinnerung daran für immer auf ihrem Körper tragen. Die Leute werden sie ansehen und wissen, woher diese Narben stammen. Und es wird stets Menschen geben, die sie dafür verurteilen werden, dass sie keinen anderen Weg gefunden haben. Genauso wie es von jetzt an immer Menschen geben wird, die wissen, was ich tun wollte, und die mich dafür verurteilen werden.

Ich kneife die Augen zusammen, trotzdem komme ich nicht gegen die Tränen an. Mein ganzer Körper schmerzt. Mein Kopf tut weh. Aber am schlimmsten ist es in meinem Inneren, ganz tief in meiner Brust, wo nur noch ein riesiges schwarzes Loch zurückgeblieben ist. Der einzige Grund, weshalb ich diesen Sommer genießen und all diese verrückten und mutigen Dinge tun konnte, war die absolute Sicherheit, Katie am sechsten September wiederzusehen. Ich habe mir Datum, Ort und Uhrzeit sogar in den Kalender geschrieben, bevor ich zu diesem Roadtrip aufgebrochen bin. Exakt fünfzehn Wochen nachdem sie uns verlassen hat. Derselbe Wochentag. Dieselbe Uhrzeit. Ein besonderer Ort, an den Katie und ich unbedingt zurückkehren wollten. Heute ist zwar noch immer der sechste September, aber es ist Abend geworden, und ich … ich weiß nicht weiter. Es gibt kein Datum mehr, an dem ich mich festhalten kann, keinen Tag, an dem ich meine Schwester und auch meinen besten Freund wiedersehen werde. Und ich habe nicht die geringste Ahnung, wie ich damit umgehen soll. Wie ich mit dem Wissen leben soll, dass die beiden nie mehr zurückkommen. Dass ich sie für immer verloren habe.

»Hailee?« Lexis Stimme reißt mich aus meinen Gedanken.

Mein Spiegelbild starrt mir aus geröteten, verdächtig glänzenden Augen entgegen. Ich ziehe die Nase hoch, wische mir mit der Hand über die Wangen und kehre dann ins Zimmer zurück. »Was hast du mitgebracht?«

Lexi mustert mich misstrauisch. Es ist nur ein kurzer Moment, womöglich nur eine einzige Sekunde, aber ich hasse es. Denn es zeigt, dass sie mir nicht vertraut. Und ich habe selbst dafür gesorgt, dass sie keinen Grund mehr dazu hat. Sie deutet auf die...