dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Der Bücherdrache - Roman

Walter Moers

 

Verlag Penguin Verlag, 2019

ISBN 9783641234232 , 176 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

11,99 EUR


 

Ein Mythos
und sechs Klassiker


rzähl einfach, was du wirklich erlebt hast!«, forderte ich ihn auf. »Eine Geschichte aus deinem Leben.«

»Eine Geschichte aus meinem Leben?« Hildegunst Zwei sah mich irritiert an. »Ich habe nichts erlebt. Null. Ich bin ein Buchling. Wir lesen. Wir schlafen und träumen. Buchlinge haben kein aufregendes Leben.«

»Komm schon!«, versuchte ich ihn aufzumuntern. »Jeder hat was erlebt. Du bist ein Bewohner der Katakomben. Ihr schürft nach Diamanten. Ihr sucht nach seltenen Büchern. Ihr treibt euch auch außerhalb der Ledernen Grotte herum. Denk nach! Dir muss doch mal was Außergewöhnliches passiert sein. Eine aufregende Situation. Gefährliche Daseinsformen. Mörderische Bücherjäger. Gefräßige Harpyre. Riesige Insekten mit üblen Absichten. Irgendwas.«

Hildegunst Zwei dachte angestrengt nach. Dann schien ihm etwas einzufallen.

»Also … na ja … da war diese Geschichte mit Nathaviel.«

»Nathaviel?«

»Ja. Der Ormdrache. Oder der Bücherdrache. Nathaviel eben. Er hat viele Namen. Also, das war ziemlich …« Er stockte.

»Die Geschichte vom Bücherdrachen?« Ich winkte ab. »Nein, das zählt nicht. Das ist doch nur ein Mythos. Davon habe ich schon oft gehört. Du sollst keine erfundene Geschichte nacherzählen. Sondern etwas, das dir selber widerfahren ist.«

»Das ist nicht erfunden. Es ist eine wahre Geschichte.«

Ich horchte auf. »Tatsächlich? Na, dann lass mal hören!«

»Ähm …«, machte Hildegunst Zwei und schob einen Finger unter seine Unterlippe, wie es die Buchlinge gerne tun, wenn sie angestrengt nachdenken. »Das war … Also das fing eigentlich mit einer Schulstunde an.«

»Ihr habt Schulunterricht hier unten?«

»Klar. Die Alten unterrichten die Jungen. Habt ihr das da oben nicht?«

»Doch, haben wir. Obwohl … ich hatte hauptsächlich Privatunterricht. Bei meinem Dichtpaten Danzelot von Silbendrechsler. Er …« Ich unterbrach mich selbst. »Egal. Weiter.«

»Na ja«, fuhr Hildegunst Zwei fort. »Viel Unterricht haben wir eigentlich nicht. Nur das Nötigste: Schreiben, Lesen, Zählen. Und Grammatik. Alte Sprachen. Angewandter Antiquarismus. Buchdruck. Typographie. Außerdem Katakombenmythologie – das ist das, was ihr wahrscheinlich als Geschichtsunterricht bezeichnen würdet. Aber Katakombenmythologie ist keine exakte Wissenschaft. Na, du weißt schon: Legenden. Märchen. Mythen. Lagerfeuergeschichten. Und meine Geschichte fängt in einer Katakombenmythologiestunde an. Der Lehrer erzählte uns den Mythos von Nathaviel, dem Bücherdrachen.«

»Also doch: ein Mythos.«

Hildegunst Zwei sah mich missmutig an. »Ja ja … Aber das ist nur der Beginn der Geschichte. Der Rest ist mir wirklich passiert.«

»Entschuldigung. Leg einfach los!«

»Danke. Nun, der Lehrer erzählte uns die Geschichte von einem riesigen Bücherwurm, der tief unten im Ormsumpf haust. Da, wo die wirklich alten, besonders wertvollen Bücher der Katakomben verrotten.«

Der Ormsumpf. Darüber hatte ich in Colophonius Regenscheins Buch »Die Katakomben von Buchhaim« gelesen. Wenn ich mich recht entsann, wurde auch der Ort selbst von Regenschein als ›mythisch‹ beschrieben, als fiktives und romantisch verklärtes Gegenstück zur real existierenden Müllhalde von Unhaim, wo hauptsächlich wertlose Bücher vergammelten. Diese Halde, das wusste ich, gab es wirklich, denn ich war dort gewesen. Der Ormsumpf aber – das schien mir ein typisches Bücherjägermärchen. Ein fiebriger Wunschtraum jener Art, wie ihn Elfenbeinhändler von Elefantenfriedhöfen fantasieren. Eine Einbildung, hervorgebracht von der unstillbaren Gier nach immer selteneren und kostbareren Büchern. Was Hildegunst Zwei da erwähnte, klang wie die Katakombenversion der sattsam bekannten Legende von der überquellenden Schatzkammer, in der alle möglichen Kostbarkeiten für arbeitsscheue und gesetzlose Subjekte auf einem riesigen Haufen zur freien Verfügung liegen. Ich erinnerte mich ebenfalls noch, dass der Ormsumpf ein beinahe ausgetrockneter Ableger des Untenweltflusses Magmoss sein sollte, bestehend aus einem Geäst von Abzweigungen und Kanälen. Was zumindest eine pseudowissenschaftliche Erklärung für all die ormgesättigten Bücher war, die sich dort angeblich stapelten. Denn der Magmoss transportiert ja tatsächlich Unmengen von verfaulenden Büchern und alles mögliche andere Zeug. Das hatte ich bei einem Spaziergang mit der Schreckse Inazea Anazazi mit eigenen Augen gesehen, bei dem sie mir die Stelle gezeigt hatte, an welcher der Magmoss mitten in Buchhaim hervorbricht.1

»Und zwar lauter Bücher, die allesamt älter und wertvoller sind als sämtliche Favoriten von der Goldenen Liste«, plapperte Hildegunst Zwei weiter. »Werke von Dichtern einer vergangenen Ära, in der noch alle Künstler vom Orm durchströmt waren.«

Noch so ein Mythos: Von jener legendären Epoche, in der sämtliche Künstler vom Orm erfüllt waren – und zwar ausnahmslos. Von einer Zeit, in der an jeder Ecke ein Meistersinger stand, der nicht nur ein Virtuose mit Stimme und Laute war, sondern auch Texte und Kompositionen von überirdischer Qualität vortrug. Wo jedes Ölbild ein Meisterwerk darstellte, jedes Gedicht eine Erleuchtung und jeder Roman eine Offenbarung. Ein nostalgischer Früher-war-alles-besser-Mythos, geradezu anrührend in seiner naiven Redlichkeit. Und natürlich waren die Bücher all der Dichter dieser »güldenen Epoche« heute verschollen oder sammelten sich im Ormsumpf. Ich nickte. »Davon habe ich gehört«, sagte ich, lächelte milde und verkniff mir eine ironische Bemerkung.

»Der Lehrer hat uns erzählt, dass der Bücherdrache Nathaviel genannt wurde. Aber auch – je nach Legende – Elivathan, Thanaviel, Levanthia oder Ilathevan. Und dass er sich seit Urzeiten in diesem Büchersumpf herumwälzt. Denn das ist es ja wohl, was sagenumwobene Drachen so treiben: Sie liegen irgendwo rum und wälzen sich in Schätzen, nicht wahr? Wenn sie gerade keine Jungfrauen fressen.« Hildegunst Zwei grinste. »Was im Falle Nathaviels dazu geführt haben soll, dass sich mit der Zeit diese ormgesättigten Bücher in seine Haut eingedrückt haben und dort festgewachsen sind, bis fast sein ganzes Schuppenkleid aus eingewachsenen Folianten bestand. Daher nennt man ihn auch den Ormdrachen, klar?«

»Ja, verstehe!«, antwortete ich. »Eine Bibliothek des Orms auf vier Beinen. Mit Kopf und Schwanz. Sehr metaphorisch.«

»Davon gab es früher sogar Bilder bei uns in der Ledernen Grotte.« Hildegunst Zwei nickte. »Auf Mosaiken und Teppichen. Bevor die Bücherjäger kamen und alles zerstörten. Du müsstest sie eigentlich noch gesehen haben.«

»Stimmt«, antwortete ich. »Ich erinnere mich dunkel an solche Darstellungen. Auf Wandgemälden und so.«

»Nun«, fuhr der kleine Buchling fort, »dieses Dauerbad in ormgetränkter Literatur verwandelte Nathaviel mit der Zeit in das klügste Geschöpf der Katakomben – so behauptete man jedenfalls. Das Orm drang in all seine Poren, in seinen Blutkreislauf, in sein riesiges Herz und gelangte schließlich in sein Gehirn, welches dadurch komplett, wie soll ich sagen … durchormt wurde, verstehst du?«

»Durchormt?«

»Genau. Oberklug. Superinspiriert. Über die Maßen kreativ aufgeladen. Von allen Musen geküsst. Der Drache soll druckreif gesprochen haben. Auf Zuruf sogar in Reimen von jedem beliebigen Versmaß. Man glaubte, dass er auf alle – wirklich alle! – Fragen eine Antwort hatte. Erschöpfend, endgültig und so makellos formuliert, dass man seine Antworten gleich in Stein meißeln konnte. Ohne Lektorat.«

»Ein Orakel also«, sagte ich. »Auch ein beliebter Mythenstoff. Wann kommt denn endlich die echte Geschichte?«

»Nun warte es doch ab! Der Lehrer erklärte uns dann noch, dass der Drache eigentlich ein Symbol sei. Eine Metapher, wie du schon richtig erfasst hast. Ein ideales Bild für den Wunsch nach grenzenlosem Wissen – und für den uralten Traum, dieses Wissen mühelos zu erwerben. Denn Nathaviel musste die Bücher ja nicht erst mühsam lesen und verstehen, um sich ihren Gehalt anzueignen. Nö! Der nicht! Der musste nur den ganzen Tag darin baden. Oder nachts darin schlafen. Sich darin wälzen, wie ein Sumpfschwein im Schlamm. Logisch, dass dies bei uns jungen Buchlingen ziemlich gut ankam. Der Traum des faulen Schülers: Während sich die anderen abrackern und wie blöde pauken, wälzt sich so ein cleverer Drache einfach in einem Haufen alter Schwarten. Und bekommt dadurch nicht nur einen unschätzbar wertvollen Panzer aus Büchern der Goldenen Liste. O nein! Er wird sogar noch das ormgesät-tigste Lebewesen der Katakomben. Einfach so. Damit konnte man sich blendend identifizieren. Dagegen...