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Madame Piaf und das Lied der Liebe - Roman

Michelle Marly

 

Verlag Aufbau Verlag, 2019

ISBN 9783841217165 , 480 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

Paris


Der größte Trubel hatte sich gelegt. In dem kleinen Bistro an der Place Pigalle saßen nur noch ein paar übrig gebliebene Nachtschwärmer bei dämmriger Beleuchtung. Merkwürdig deplatziert wirkten die beiden Herren im eleganten Frack, die nach einem wohl langen Bummel durch die Vergnügungslokale ihren kleinen, starken Kaffee nippten und frische Croissants eintunkten. In der Ecke neben der Kellertür hatte sich eine Gruppe junger Leute um einen Tisch versammelt, junge Männer mit Schiebermütze aus dem Milieu und schäbig gekleidete Künstler, die so ausgelassen feierten, als gebe es niemals ein Morgen, an dem sie in ihren sorgenvollen Alltag zurückkehren mussten. Diese jungen Menschen gehörten ganz offensichtlich hierher, sie bewegten sich in dem Lokal wie in ihrem eigenen Salon. Dabei umringten sie eine junge Frau, deren Stimme lauter war als alle anderen, sie redete ununterbrochen – und leerte schneller als jeder andere die Gläser. Zu ihr flogen die Blicke der vornehmen Herren ebenso wie die des leichten Mädchens, das mit verschmierter Schminke ihre Nachtarbeit mit einem Pastis beendete und dabei die Scheine auf die Theke zählte, die sie ihren Freiern abgenommen hatte und nun an ihren Zuhälter weiterreichte. Man kannte sich, wenn auch nur vom Sehen.

Édith Gassion, die junge Frau im Zentrum, war ein winziges Persönchen, gerade einundzwanzig Jahre alt, nicht einmal eineinhalb Meter groß und alles andere als eine auffallend attraktive Frau. Ihre Stirn war zu hoch, die Nase zu schmal und zu lang, ihr dunkles Haar widerspenstig und nur halbwegs gepflegt. In ihren braunen Augen lagen jedoch Schalk, Trotz und Traurigkeit dicht beieinander und zogen jeden, der hineinschaute, in ihren Bann. Neben ihrer Stimme war es die Magie dieser Augen, die sie als Schönheit erstrahlen ließ. Es war, als funkelten sie in der Nacht besonders hell, gleich Sternen, die aufgingen, wenn die Bourgeoisie schläfrig wurde. Die Stunden zwischen elf Uhr abends und sechs Uhr morgens waren Édiths liebste Zeit. Da feierte sie endlose Freudenfeste, deren einziger Anlass darin bestand, den Tag zuvor überlebt zu haben. Und obwohl sie nicht viel Geld besaß, bezahlte sie fast immer für all ihre Freunde.

Als die Tür aufgestoßen wurde, wehte ein kalter Luftzug herein. Im ersten Moment achtete niemand darauf, denn in den Morgenstunden mischten sich für gewöhnlich die ersten Frühaufsteher mit den Nachtschwärmern, Männer in Arbeitskleidung begannen hier ihren Tag mit einem Kaffee und einem Cognac. Doch der große, hagere Mittdreißiger, der in den Gastraum trat, gehörte zu einer anderen Klientel. Er war gut gekleidet, auf den Schultern seines eleganten Mantels schmolzen die Flocken des Schneetreibens draußen. Offenbar wollte er weder einen Absacker noch einen Wachmacher: Er sah sich kurz um und schritt dann mit zusammengepressten Lippen und finsterem Blick auf den Ecktisch zu. Hinter Édiths Stuhl blieb er stehen.

»Du musst dich ändern«, stieß er hervor. »Sofort! Hörst du?«

Sie hörte ihn wohl, verstand ihn jedoch nicht. Was weder an dem Trubel um sie herum lag noch an dem Wein oder dem Cognac, die sie abwechselnd trank. Beschäftigt mit der Frage, warum er sich zu dieser Uhrzeit nicht im Bett bei seiner Frau befand, drehte sie sich zu ihm um. »Lass mich in Frieden, Raymond. Ändere du doch erst einmal was in deinem Leben!«

Einer ihrer Freunde blickte über den Rand seines Weinglases zu dem Fremden. »Wer is’n das?«

»Darf ich vorstellen?« In Imitation einer vornehmen Geste ruderte Édith übertrieben mit den Armen. »Das ist Raymond Asso, Textdichter und Liebhaber, Fremdenlegionär und …« Sie zögerte und fügte dann leise mit gesenkten Lidern hinzu: »Freund und Lehrmeister.« Fast hätte sie auch große Liebe gesagt, aber auf gewisse Weise war jeder neue Mann in ihrem Leben eine große Liebe. So einen wie diesen hatte sie allerdings noch nie gehabt, der war etwas Besonderes. Dennoch ließ sie den Zusatz weg. In diesem Augenblick versuchte sie, Raymond ein bisschen weniger zu lieben – sein Auftritt ärgerte sie.

Mehrstimmiges Gejohle war die Antwort auf ihre Vorstellung.

Nun ging ein Ruck durch ihren kleinen, mageren Körper, sie richtete sich auf und legte sich fast auf den Tisch, um die Flasche in dem schäbigen, vergilbten Weinkühler, der einst versilbert gewesen sein mochte, zu erreichen. Durch die Bewegung rutschte ihr bunter Rüschenrock hoch und entblößte ihre Schenkel. »Willst du mit uns trinken?«, rief sie über die Schulter.

»Du benimmst dich wie eine putain«, schimpfte Raymond und drückte sie energisch auf ihren Stuhl zurück.

Achselzuckend ließ Édith ihn gewähren. Seine Worte trafen sie nicht. Generell interessierte sie nicht, was andere Menschen über sie sagten. Putain – Hure – war nicht einmal die übelste Beleidigung. Da, wo sie herkam, gab es ganz andere Bezeichnungen für eine Frau, da wurde niemand mit Samthandschuhen angefasst. Ihre Mutter hatte sie auf einem Treppenaufgang im Arbeiterviertel Belleville zur Welt gebracht. Als Säugling hatte Édith bei der Großmutter mütterlicherseits gelebt, die sie fast verhungern ließ, dann war sie im Bordell der Großmutter väterlicherseits bei Rouen aufgewachsen. Und ausgerechnet in diesem Etablissement hatte Édith erstmals so etwas wie Liebe erlebt. Doch in dem Alter, in dem andere Mädchen in die Schule kamen, hatte der Vater sie der Fürsorge der Prostituierten entrissen. Mit ihm hatte sie im Wanderzirkus gelebt, später auf der Straße. Dagegen war das Zimmer im Piccadilly, einer schäbigen Pension an der Place Blanche mit immerhin relativ anständigen Bewohnern, eine deutliche Verbesserung. Raymond hatte sie dort seit kurzem untergebracht. Raymond, der sie zu einem besseren Menschen zu formen versuchte – und von dem sie wusste, dass er es nicht so meinte, wenn er mit ihr schimpfte.

Die verwirrten und bedrohlichen Blicke der jungen Männer in ihrem Kreis ignorierte er ebenso wie Édiths Gleichmut. Er sprach zu ihr, als wären sie allein: »Diese nächtlichen Gelage müssen aufhören, wenn du etwas aus dir machen willst. Diese Schmarotzer sollen verschwinden, und mit dem vielen Trinken ist es ab sofort auch vorbei.«

»Soll ich ihn rauswerfen?«, rief einer ihrer Freunde, der sich ebenso gut mit den Regeln der Straße auskannte wie Édith. Seine jugendlich helle Männerstimme überschlug sich fast vor Vorfreude auf eine Prügelei mit dem feinen Monsieur.

»Lass ihn«, mischte sich Simone Berteaut ein, Édiths Freundin und Schwester im Geiste. Sie stammte wie Édith von der Straße, und die beiden jungen Frauen teilten ihr Leben seit etwa fünf Jahren, gaben einander Sicherheit, Halt und Geborgenheit. Und Simone kannte jeden Mann, mit dem Édith ins Bett ging. »Gegen den hast du keine Chance. Er war nicht nur Fremdenlegionär, sondern auch bei den Spahis, du weißt schon, diesem algerischen Kavallerieregiment.«

»Aber er trägt keine Uniform …«

»Nicht mehr, Dummkopf. Jetzt ist er Zivilist und schreibt Chansons für Marie Dubas. Er ist ihr Privatsekretär.« Simone sprach ziemlich laut – und der Name der berühmten Sängerin ließ auch den letzten von Édiths Zechbrüdern verstummen. Wer nicht schon von Raymond Assos heroischer Vergangenheit in Nordafrika beeindruckt war, empfand nun tiefe Bewunderung angesichts seiner Bekanntschaft mit Marie Dubas.

Inzwischen waren auch die anderen Gäste auf das Spektakel aufmerksam geworden. Neugierig starrten und lauschten sie. Allein der Wirt hinter der Theke trocknete die zuvor gespülten Mokkatassen ab, als gehe ihn das Geschehen in seinem Lokal nichts an. Scheppernd räumte er die Tassen in das Regal.

»Wenn du dich nicht änderst, wirst du niemals im ABC auftreten können«, verkündete Raymond.

Es wurde so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören. Sogar der Wirt hielt kurz in der Bewegung inne.

Das ABC war eine andere Welt. Ein Ehrfurcht einflößender Ort, den jeder zumindest dem Namen nach kannte. Nicht nur, dass sich das Musiktheater in einem besseren Bezirk an einem der Grands Boulevards befand. Mehr noch als das legendäre Moulin Rouge war es der Ort für die Großen der Musikbranche. Für fast alle Sänger war es ein Traum, auf dieser Bühne die Weihen des Erfolgs zu empfangen. Wer im ABC auftreten durfte, war längst ein Star oder auf dem besten Wege dorthin. Jeder Pariser wusste das. Und natürlich kannte auch Édith das ABC. Vom Vorbeigehen, von sehnsüchtigen Blicken zu den Plakaten und Ankündigungen der Konzerte. Doch nicht einmal als Zuschauerin war sie bisher dort gewesen, der Preis für die Eintrittskarte lag außerhalb ihrer Möglichkeiten. So blieb das ABC ebenso ein Traum wie die Hoffnung auf ein sorgloseres Leben.

Édith sang vor Publikum, seit sie zehn Jahre alt war. Damals hatte der Vater ihr erklärt, sie müsse sich ihr Essen fortan selbst verdienen. Also hatte sie auf der Straße zu singen begonnen, während er als Akrobat seine Kunststücke zeigte. Sie tingelten durch die Provinz, meist verdiente die Tochter mit ihrer klaren Stimme mehr als der Vater mit seinen Muskeln und seiner Geschicklichkeit. Sie sang, was ihr in den Sinn kam, hauptsächlich die Chansons, die ihre liederliche Mutter in ebensolchen Kaffeehäusern zum Besten gab, und dann noch die »Marseillaise«. Denn für die französische Nationalhymne warfen die Leute immer ein paar Münzen extra in ihren Hut. Ihre Einnahmen wären ausreichend für sie gewesen, hätte der Vater ihr nicht alles abgenommen. Und sie geschlagen, wenn es nicht genug war für ihn. In...