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Steirerrausch - Sandra Mohrs neunter Fall

Claudia Rossbacher

 

Verlag Gmeiner-Verlag, 2019

ISBN 9783839258828 , 282 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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4,99 EUR


 

1.


Je näher die Ermittler der Mordgruppe ihrem Ziel kamen, desto dichter wurde der Nebel. Kurz vor der Autobahnabfahrt Leibnitz betrug die Sichtweite höchstens 50 Meter. Zuletzt keine zehn Meter mehr.

Auf der unbeleuchteten Landstraße schlich Sandra beinahe im Schritttempo dahin, damit sie die richtige Abzweigung zum Einsatzort in Gauitsch nur ja nicht verfehlte. Dass es streckenweise weder Bodenmarkierungen noch Begrenzungspfosten oder Leitplanken gab, gestaltete die nächtliche Fahrt durch den Nebel noch anstrengender. Umso mehr, als sie wusste, dass es im Sausal mancherorts direkt neben der Fahrbahn steil bergab ging.

Die Weingärten reichten hier bis auf 560 Höhenmeter hinauf und waren damit nicht nur die höchsten, sondern auch die steilsten des Landes. Mit einem Gefälle von 90 Prozent waren sie sogar noch steiler als die Mausefalle der Streifabfahrt beim Hahnenkammrennen in Kitzbühel. Bei allem technischen Fortschritt wurden derlei extreme Hanglagen auch heute noch in aufwendiger Handarbeit, gesichert mit Seilwinden beziehungsweise auf schmalen Terrassen bewirtschaftet, hatte ihr letzthin ein Winzer am Demmerkogel erklärt, der wie die meisten im südlichen Weinland der Steiermark lieber Weinbauer genannt werden wollte. »Weinzerln« waren früher die Arbeiter gewesen, die die zugewiesenen Weingärten zwar selbstständig, dennoch für ihre Lehensherren bewirtschafteten. Als Gegenleistung stellte dieser ihnen eine Winzerkeusche mit einer Wohnküche und einem Schlafraum zur Verfügung. Dazu einen Stall für eine Milchkuh, eine Sau und Hühner sowie ein Garterl neben der Keuschn, wo der Winzer seinen Heckenklescher für den Eigenbedarf ziehen durfte, einen süffigen Wein aus Direktträgertrauben. Auch eine Wasserquelle, die Zufahrt zur Keuschn, Brennholz aus dem nächsten Wald und ein Acker standen dem Winzer vertraglich zu, auf dem er anbauen konnte, was seine Familie und das Vieh so übers Jahr benötigten. Für die mühsame Arbeit in den steilen, oftmals rutschigen Weingärten bekam er eigens vom Schmied angefertigte Steigeisen und sämtliche Arbeitsgeräte von seinem Herrn. Bargeld hingegen selten. Und wenn, dann nur für Sonderleistungen. Da die Winzerverträge jeweils für ein Jahr abgeschlossen wurden, fragte der Lehensherr alljährlich an Jakobi am 25. Juli seinen Weinzerl, ob er ein weiteres Jahr bleiben wolle. War man sich einig, wurde ein Klapotetz im Weingarten aufgestellt – ein hölzernes Windrad, das mit seinen Klappergeräuschen die Vögel von den Weinbeeren fernhalten sollte. War die Familie zu groß für die Keuschn geworden oder lag ein besseres Angebot eines anderen Lehensherrn vor, siedelte der Winzer mit Sack und Pack, Kind und Kegel auf einem Karrenwagen mit Ochsengespann, später mit dem Traktor, weiter.

Hätte Bergmann die topografischen Besonderheiten der Region ebenfalls gekannt, wäre er vermutlich nicht so entspannt neben ihr gesessen und hätte sich mit seinem Smartphone beschäftigt. Wiewohl er den Fahrkünsten und Ortskenntnissen seiner Kollegin üblicherweise vertraute.

Dass Sandra soeben betete, es möge ihnen bloß kein Auto auf der engen Straße entgegenkommen, dem sie hätte ausweichen müssen, es aber vielleicht nicht können, ahnte er ebenso wenig. Auch wenn sie laut Navi keinen Kilometer mehr von ihrem Ziel entfernt waren, wurde ihr die nächtliche Fahrt immer unheimlicher. Die knorrigen, herbstlich verfärbten Rebstöcke erinnerten sie im fahlen Licht der Autoscheinwerfer an Zwerge aus einer mystischen Welt. Einer schien dem anderen die dürre Hand zu reichen. Bis die nächste gespenstergleiche Nebelschwade die vermeintlichen Fabelwesen wieder verschluckte.

Ganz bestimmt zählte Sandra nicht zu den ängstlichen Vertreterinnen ihres Geschlechts, dennoch war sie heilfroh, dass Bergmann neben ihr saß. Doch das behielt sie lieber für sich, um nur ja nicht wieder einen seiner Machosprüche zu provozieren. Zu allem Überfluss hatte sie auch noch die falsche Abzweigung genommen, stellte sie nach einem Blick auf das stummgeschaltete Navi fest, das ihr auf einmal zum Umkehren riet. Also bog sie in die nächste Hofeinfahrt, um dort zu wenden.

»Sind wir endlich da?« Bergmann blickte von seinem Handy auf und sah sich im dichten Nebel um.

»Wir müssen ein Stück zurückfahren. Ich bin vorhin falsch abgezweigt«, erklärte ihm Sandra.

»Im Ernst?«, wunderte sich Bergmann, dass sie sich verfahren hatte, was so gut wie nie vorkam.

»Ja, mein Gott … Es kostet uns höchstens eine Minute. Kaum der Rede wert«, beschwichtigte Sandra, während sie der Straße folgte, die nun bergab zurückführte. Diesmal stimmte die Route, bestätigte ihr das Navi, nachdem sie an der Abzweigung scharf rechts in ein Waldstück abgebogen war. Schweigend blickte sie auf, als plötzlich wie aus dem Nichts eine weiße Gestalt am linken Fahrbahnrand zwischen den Bäumen auftauchte, die im nächsten Augenblick die Straße überqueren wollte.

Erschrocken trat Sandra aufs Bremspedal. Die blutjunge Frau blieb am Straßenbankett stehen. Keine drei Meter trennten sie von ihrem Kotflügel. Regungslos stand sie da und starrte Sandra in die Augen.

Was um alles in der Welt suchte sie hier mitten in der Nacht? War sie lebensmüde? Oder brauchte sie Hilfe? Sandra aktivierte die Handbremse und schaltete die Warnblinkanlage ein. Noch ehe sie das Fenster hinunterlassen konnte, um das Mädchen anzusprechen, bleckte es die Zähne, verzog das bleiche Gesicht zu einer grässlichen Fratze, die Sandra erstarren ließ und ihr die Nackenhaare aufstellte. Erst jetzt bemerkte sie die blutende Wunde, die am Hals der Jugendlichen klaffte. Mit der nächsten Nebelschwade löste sich die Gestalt gleichsam wieder in Nichts auf. Als wäre sie niemals hier gewesen. Ein heftiger Windstoß wirbelte Laub über die Straße. Sandra hörte einen Vogel schreien, der umgehend wieder verstummte.

»Hey! Was ist denn los? Willst du uns umbringen?«, unterbrach Bergmann die gespenstische Stille und sah sie über seine Lesebrille hinweg an.

Auf einmal erfasste Sandra ein brennender Schmerz. Als hätte jemand ihr Herz entzündet. Flammen loderten in ihrer Brust. So fühlte es sich zumindest an. Der Schweiß stand ihr auf der Stirn. Schwindel überkam sie. Was war bloß los mit ihr? Fühlte sich so ein Herzinfarkt an? Panisch fasste sie sich an die Brust, noch immer zu den Bäumen starrend, zwischen denen das leicht bekleidete Mädchen im Nebel verschwunden war.

Zum Glück war sie nicht schneller gefahren. Umso dümmer, wenn sie jetzt einen Herzinfarkt erlitt.

»Sandra! Was ist los, verdammt? Ist dir schlecht?«, verlangte Bergmann nach einer Antwort.

Sandra japste nach Luft. Ihr Herzschlag galoppierte wie ein wildes Pferd, das durchging. Dafür erlosch das Feuer in ihrer Brust ebenso jäh, wie es ausgebrochen war. Allmählich verflog auch der Schwindel wieder. »Ich weiß nicht«, antwortete sie endlich. »Ist wohl nur der Schreck … Um ein Haar hätte ich das Mädel überfahren.«

»Welches Mädel denn?« Bergmann nahm seine Brille ab und suchte mit seinen Blicken die Straße ab.

»Wie? Hast du … hast du’s etwa nicht gesehen? Das Mädchen war verletzt … da war eine … eine blutende Wunde quer über der Kehle«, stammelte Sandra verwirrt. Ihr war jetzt so kalt, dass sie am ganzen Körper zitterte. Ihr Herz hämmerte noch immer wie wild.

»Gar nichts hab ich in dieser Nebelsuppe gesehen«, antwortete Bergmann.

Außerdem hatte er ja seine Lesebrille aufgehabt, suchte Sandra nach einer logischen Erklärung. Tatsächlich war alles viel zu schnell gegangen. Und nach wenigen Augenblicken war der Spuk vorbei gewesen. Wahrscheinlich hatte Bergmann nicht sofort von seinem Handy aufgeblickt, als sie die Vollbremsung hinlegte. War das möglich? Oder war sie im dichten Nebel einer Sinnestäuschung erlegen?

»Hast du den Vogel rufen gehört?« Verunsichert rieb sich Sandra die eiskalten Hände. Er hatte wie ein Mäusebussard geklungen, überlegte sie. Aber mitten in der Nacht?

»Einen Vogel? Nein. Die Einzige, die ich höre, bist du«, erwiderte Bergmann. »Sag mal, geht’s dir gut? Du zitterst ja …«

Sandra atmete tief durch. Ihr Herzschlag beruhigte sich allmählich. Doch sie fröstelte noch immer. »Ja, es geht schon.« Sie hauchte warme Atemluft in ihre klammen Fäuste.

»Dann könnten wir ja weiterfahren«, schlug Bergmann vor.

»Wie? Ich soll einfach weiterfahren?«, echauffierte sich Sandra. »Möchtest du nicht wenigstens aussteigen und nachschauen, ob du das Mädchen irgendwo entdeckst? Vielleicht sind ja Blutspuren auf der Straße oder irgendetwas anderes. Sie ist genau dort zwischen den Bäumen im Wald verschwunden. Bitte, Sascha! Sie ist verletzt …«

Seufzend steckte Bergmann seine Lesebrille in die Innentasche seiner Lederjacke. »Na schön. Von mir aus«, brummte er, nahm die Taschenlampe aus dem Handschuhfach und stieg aus. Sekunden später war auch er im Nebel verschwunden. »Ha-llo! Ist da jemand?«, hörte Sandra ihn rufen.

Sie fuhr an den Straßenrand, möglichst weit aufs Bankett, drehte die Temperatur der Klimaanlage höher und das Gebläse auf. Nichtsdestotrotz zitterte sie weiter vor sich hin. Nach einer gefühlten Ewigkeit, die laut Uhr am Armaturenbrett keine zwei Minuten gedauert hatte, tanzte das Licht einer Taschenlampe auf sie zu.

Bergmann stieg in den Wagen ein. »Da draußen ist nichts«, knurrte er. »Kein Blut, kein Mädchen, kein Vogel. Rein gar nichts. Außer diesem Scheißnebel und Wald. Können wir endlich weiterfahren?«

Sandra schaltete die Warnblinkanlage aus und löste die Handbremse.

Bergmann...