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Osterlämmer - Kriminalroman

Nicole Braun

 

Verlag Gmeiner-Verlag, 2019

ISBN 9783839259009 , 312 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

Wickenrode, Sommer 1938


Die Kirchturmglocke schlug zur halben Stunde. Karl-Friedrich Hochapfel hatte Bücher auf dem Altar ausgebreitet. Kaleidoskopartige Farbkleckse wanderten über die Seiten. Die Sonne stand bereits tief am Horizont.

Nach einem kargen Abendbrot hatte Pfarrer Hochapfel sich in die Kirche zurückgezogen. Eine Wand aus verbrauchter Luft hatte ihn aus dem Pfarrhaus vertrieben. In dieser Affenhitze brachte er die notwendige Konzentration für die Predigtvorbereitung nicht zustande. Der Kirchenraum war schlecht beleuchtet, aber wenigstens kühl.

Hochapfel guckte unzufrieden auf seine Notizen: wenige Zeilen, unzusammenhängende Sätze. Ihm fehlte die rechte Inspiration und von Nordwest näherte sich ein Gewitter. Nach Wochen drückender Hitze stünde dem Ort einiges bevor.

Es klopfte an der Kirchentür.

Hochapfel ignorierte das Geräusch und starrte auf sein Geschreibsel.

Das Klopfen steigerte sich zum Hämmern.

Hochapfel seufzte und ließ den Stift sinken. »Ich komm ja schon«, murmelte er. Es laut zu sagen, hätte nichts gebracht, kein Mucks drang durch die dicken Mauern und die massive Tür nach außen.

Er öffnete einen Türflügel einen Spalt, damit er den Störenfried sehen konnte. Ein warmer Luftzug streifte sein Gesicht und trug einen Schwall Alkoholdunst in Hochapfels Nase. »Du bist betrunken, so kommst du hier nicht rein.«

Fritz Veit drückte mit dem gesamten Körpergewicht gegen die Tür, Hochapfel wurde einfach zur Seite geschoben.

Veit stolperte in die Kirche, seine Schritte hinterließen ein Echo. »Ich muss mit dir sprechen, un wenn’s das Letzte is, was ich tu.«

Hochapfel verfolgte, wie Veit am Trog mit dem Weihwasser vorbeiwankte. Er nahm vom Herrn am Kreuz keine Notiz und beim Versuch, den Körper auf eine Kirchenbank zu wuchten, legte er sich beinahe lang hin.

Seufzend trottete er hinter Fritz Veit her. Er sandte dem Gekreuzigten einen verzweifelten Blick und setzte sich, eine Bank zwischen sich und dem Alkoholisierten als Sicherheitsabstand, nieder.

»Sinn wir allein?«, flüsterte Veit.

»Ganz sicher.«

»Wirst du über das, was ich dir spreche, stilleschweigen?«

»Willst du die Beichte ablegen?«

»Ne, ich brauch Rat, kinne Beichte. Also: Wirst du stilleschweigen?«

»Wenn du es wünschst, werden nur wir zwei und der Herr wissen, was hier gesprochen wurde.«

»Schwör!« Veit reckte den Kopf nach vorne und kniff die Augen zusammen.

»Es gibt nur einen, dem ich zum Schwur verpflichtet bin. Mein Wort muss dir genügen.«

Veit kratzte sich am Kinn, seine rauen Hände machten ein schabendes Geräusch auf den Bartstoppeln. »Also gut.« Er zog ein fleckiges Taschentuch hervor und wischte sich die Stirn. »Ich komm grad uss der Kneipe.«

»So?«

»Erst wollt ich’s gar nit glauben. Aber dann honn ich de Flasche Holunderblut gesehen. Un der Heinrich hot mir gesprochen, wos der Wagner für Reden geschwungen hot, und da wurd mir ganz übel.«

»Und da musstest du die Übelkeit mit einigen Schnaps hinunterspülen.« Hochapfel gab sich Mühe, nicht missbilligend zu klingen. Der Versuch misslang.

Das vertrauliche Flüstern kam Veit in der Aufregung abhanden: »Jo. Du hättst au gesoffen, wenn du insehen müsstest, dass dinn Sohn gar nit dinner is.« Seine Stimme hallte durch den Kirchenraum.

Hochapfel spürte, wie sich jeder einzelne Muskel in seinem Rücken anspannte. »Wie bitte? Hat der Wagner das etwa behauptet?«

»Diese ahle Schässmade, diese ahle.« In Veits Aufregung hatte sich Verzweiflung gemischt.

»Fritz, bitte! Du bist in einer Kirche!«

»Ach, hör doch uff.« Veit winkte ab. Trotzdem senkte er die Stimme. »Ne Pulle Holunderblut hat hä rumgehen lossen. ›Uff sinnen kommenden Enkel‹, hot hä gesprochen. Geprahlt hot er, dass hä der Urvadder von dem ganzen Dorfe is. Erst honn ich gedacht, de Lump wollt damitte sprechen, dass hä der Vadder von dem Kind is, dass de Magda trägt. Aber dann honn ich’s kapiert.«

Hochapfel konnte sich die Szene lebhaft vorstellen. Ihm blieb trotzdem schleierhaft, was Veit ihm sagen wollte. »Was hat das mit der Flasche Holunderblut zu tun?«

»Der Vadder reicht das Blut an den Sohn weiter. Es wär minne Uffgabe, dem Johann uff sinn Kind ’ne Pulle Holunderblut usszugeben. Der Wagner hot eine Flasche middegebrohd und sie lautstark durch de Kneipe geschwenkt. ›Für minnen Enkel‹, hot hä gebrüllt.«

»Bist du sicher, dass du es nicht falsch verstanden hast? Das Kind ist ja noch nicht mal geboren.«

»Es geht ja nit um Johanns Kind. Wos kann man do falsch verstehen? Ich honns ja geahnt, aber ich wollt’s nit wahrhaben.«

»Du meinst, das könnte der Grund sein, warum die Luise sich umgebracht hat? Weil euer Johann vom Wagner war?«

Veit nickte. »Und schau den Bengel doch an! Hä sieht mir überhaupts nit ähnlich.«

Das stimmte. Hochapfel lehnte sich in der Bank zurück. Er hatte nicht bemerkt, dass seine Hände den Stoff der Soutane kneteten. Das grobe Gewirk hatte die verschwitzte Haut in den Innenflächen wundgescheuert.

Ihm kam ein Gedanke. Er brachte es nicht über sich, ihn laut auszusprechen. Er presste die Worte, gerade noch verständlich, durch die Zähne. »Aber dann ist der Johann mit seiner Halbschwester verheiratet.«

»Hostest jetze? Kannste jetze verstehn, wie’s mir grad gehen tut? Ich kann dir sprechen, uss allen Wolken bin ich gefallen. Am liebsten wär ich gleich hoch zum Wagner und hät dem Deiwel den Rest gegeben.«

»Fritz, nein!« Hochapfel dachte nach. Er hätte es sogar verstehen können. »Warum bist du stattdessen zu mir gekommen?«

Veit knickte im Rücken ein, der Kopf sank ihm auf die Brust. »Weil der Johann das erledigen tut«, nuschelte er in den Kragen seiner Jacke.

Hochapfel sprang auf. »Was? Du lässt deinen Sohn in sein Unglück rennen?« Er hörte die eigenen Worte von den Kirchenwänden abprallen und erschrak. Er setzte sich und wiederholte flüsternd: »Du lässt deinen Sohn in sein Unglück rennen?«

»Hä is nit mein Sohn.«

»Bis vor einer Stunde war er’s noch. Du hast den Jungen großgezogen und jetzt lässt du ihn zum Mörder werden?« Hochapfel stutzte, als er sich das sagen hörte. Dieser Satz hatte einen gravierenden Fehler: Johann, ein Mörder? Niemals. Der Junge war vielleicht ein wenig dumm, grobschlächtig und ungelenk auch. Aber ein Mörder? Soweit Hochapfel sich erinnern konnte, hatte Johann keiner Fliege je etwas zuleide getan. »Der Johann kann das gar nicht, den Wagner zur Strecke bringen. Egal, was der gesagt hat.«

»Richtig.« Veit hatte den Kopf erhoben.

Eine Entschlossenheit war in seinem Gesicht aufgetaucht, die Hochapfel in Panik versetzte.

»Uss diesem Grund werd ich es zu Ende bringen.«

»Nein«, flüsterte Hochapfel.

»Doch. Ich geh jetze hinnerher und werd erledigen, was der Johann mit Sicherheit nit geschafft hot. Aber alle wern denken, dass hä es war.«

»Und dann?«

»Dann muss hä das Dorfe verlassen. Hä kann doch nit mit sinner Halbschwester in Sünde leben. Wie soll das gehen?«

Da sprach der Veit die Wahrheit. Johann und Magda, hochschwanger vom Halbbruder. Das durfte keinen Tag länger gehen. Freiwillig würde Johann seine Magda niemals im Stich lassen. Hochapfel kamen die Bilder von der Hochzeitsfeier ins Gedächtnis. Getraut hatte er die zwei im Angesicht des Herrn. Sie hatten im Garten der Veits gefeiert, an einem herrlichen Sommertag. Die beiden jungen Leute waren so verliebt. Ein Glückstag war das gewesen – wäre das gewesen –, wenn der Wagner nicht, voll wie eine Haubitze, mit jedem gröhlend auf seinen Sohn und seine Tochter angestoßen hätte. Der Besuch Veits warf ein anderes Licht auf diesen Tag und Hochapfel schämte sich, dass er es hatte nicht wahrhaben wollen. Wie alle. Wie viele Situationen wie diese hatte es zwischenzeitlich gegeben, wie oft hatten ihn Frauen in der Beichte angefleht, den Männern nichts zu erzählen und die Kinder der Unzucht trotzdem zu taufen. Hochapfels Magen krampfte sich zusammen, als er die Entschlossenheit in Veits Gesicht sah. Irgendwann musste es genug sein. »Du hast recht«, flüsterte er. »Diese Unzucht muss jemand beenden.«

»Danke«, wisperte Veit. Er kämpfte sich ungelenk hoch und taumelte aus der Kirche.

Das Stundenläuten der Kirchturmuhr mischte sich in das Krachen eines einschlagenden Blitzes. Karl-Friedrich Hochapfel saß in der Bank und flehte seinen Herrn am Kreuz um Beistand an. Er blieb sitzen, bis ihm die Beine einschliefen. Das Kreuz, das von der Decke hing, warf einen langen Schatten. Der Herr schwieg beharrlich.

Das Gewitter war wenige Kilometer entfernt. Das Zittern der Bleiverglasung in den Kirchenfenstern klirrte leise durch den Kirchenraum. Das Echo des Donnergrollens kroch über die Berghänge und fing sich im Talkessel. Hochapfels Gedanken sprangen hin und her. Eine Frage der Zeit war es gewesen, bis Wagner bekam, was er verdiente. Dass Veit die Gelegenheit nutzte, diesem Unhold die Quittung zu präsentieren und Johann und Magda vor einem Leben in Sünde zu bewahren, schien Hochapfel die einzige Lösung zu sein. Wenn sich die Brut vermehrte, die Karl Wagner in die Welt gesetzt hatte, und der böse Samen aufging, war das Dorf am Ende voll mit solchen wie ihm: Mädchenschänder, Erpresser, gewalttätige Trunkenbolde. Er schaute zum Kreuz. »Du kannst es trotzdem nicht gutheißen, richtig?«, flüsterte Hochapfel. Er erhielt keine Antwort.

Das Grollen folgte den Blitzen in kürzer...