dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Eine flüchtige Beziehung - und andere Erzählungen

Eine flüchtige Beziehung - und andere Erzählungen

W. Somerset Maugham

 

Verlag Diogenes, 2018

ISBN 9783257609387 , 336 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

7,99 EUR


 

{7}Eine Frau von fünfzig Jahren


Mein Freund Wyman Holt ist Professor für englische Literatur an einer der kleineren Universitäten im Mittleren Westen, und als er hörte, daß ich in einer nahe gelegenen Stadt – nahe gelegen nach amerikanischen, weiträumigen Begriffen – reden würde, fragte er bei mir an, ob ich nicht seinen Schülern einen Vortrag halten wolle. Er schlug mir vor, einige Tage bei ihm zu wohnen, damit er mir etwas von der Umgebung zeigen könne. Ich nahm die Einladung an, teilte ihm aber mit, daß meine Verpflichtungen mir nicht gestatteten, mehr als zwei Nächte bei ihm zu verbringen. Er holte mich am Bahnhof ab, fuhr mit mir zu seinem Haus, und nachdem wir etwas getrunken hatten, gingen wir zum Campus hinüber. Ich war ein wenig bestürzt, so viele Menschen in der Aula vorzufinden, denn ich hatte höchstens zwanzig erwartet und war nicht darauf vorbereitet, eine feierliche Vorlesung zu halten, sondern nur eine zwanglose kleine Plauderei. Ich fühlte mich beträchtlich eingeschüchtert beim Anblick einer Reihe von Leuten in mittlerem und höherem Alter. Ich vermutete, daß einige von ihnen der Fakultät angehörten, und befürchtete, daß sie das, was ich vorzubringen hatte, sehr oberflächlich finden würden. Es blieb jedoch nichts anderes übrig als anzufangen, und das tat ich, nachdem Wyman mich dem Publikum auf eine Weise vorgestellt hatte, die mich vollends überzeugte, daß ich den {8}dadurch erweckten Erwartungen nicht entsprechen könnte. Ich sagte mein Sprüchlein her, beantwortete, so gut ich konnte, einige Fragen und zog mich dann mit Wyman in ein kleines Zimmer hinter dem Podium zurück.

Mehrere Leute kamen herein. Sie sagten die bei solchen Gelegenheiten üblichen freundlichen Worte zu mir, und ich gab die üblichen höf‌lichen Antworten darauf. Ich hatte großes Verlangen nach etwas zu trinken. Dann kam eine Frau herein und streckte mir die Hand hin.

»Wie nett, Sie wiederzusehen«, sagte sie. »Es sind Jahre vergangen, seit wir uns zuletzt getroffen haben.«

Ich war ehrlich davon überzeugt, sie noch nie gesehen zu haben. Ich zwang mir ein verbindliches Lächeln auf die müden, trockenen Lippen, schüttelte ihr eifrig die dargebotene Hand und fragte mich, wer zum Teufel sie sein mochte. Der Professor mußte mir am Gesicht abgelesen haben, daß ich mich bemühte, sie unterzubringen, denn er sagte:

»Mrs. Greene ist mit einem Mitglied unserer Fakultät verheiratet, und sie gibt einen Kurs über die Renaissance und die italienische Literatur.«

»Ach«, sagte ich. »Das ist interessant.«

Ich war nicht klüger als zuvor.

»Hat Wyman Ihnen gesagt, daß Sie morgen abend zu uns zum Essen kommen?«

»Das freut mich sehr«, sagte ich.

»Es ist keine Gesellschaft. Nur mein Mann, sein Bruder und die Schwägerin. Florenz hat sich seit damals wohl sehr verändert, nicht wahr?«

›Florenz?‹ fragte ich mich. ›Florenz?‹

Offenbar hatte ich sie dort kennengelernt. Sie war eine {9}Frau von etwa fünfzig Jahren, mit grauen Haaren, schlicht frisiert und nicht zu auf‌fallend onduliert. Sie war ein wenig zu dick, aber recht gut angezogen, wenn auch nicht distinguiert; ihr Kleid stammte vermutlich aus der Konfektionsabteilung eines Warenhauses. Ihre ziemlich großen Augen waren blaßblau, ihre Haut eher bleich; sie hatte kein Rouge und nur sparsam Lippenstift aufgelegt. Sie schien eine nette Person zu sein. Es lag etwas Mütterliches in ihrem Wesen, etwas Gelassenes und Erfülltes, das mich ansprach. Ich nahm an, daß ich sie bei einer meiner zahlreichen Reisen nach Florenz kennengelernt hatte, und da es vielleicht ihr einziger Aufenthalt dort gewesen war, hatte unsere Begegnung wohl auf sie mehr Eindruck gemacht als auf mich. Ich muß gestehen, daß ich nicht viele Frauen von Fakultätsmitgliedern kenne, aber sie entsprach genau der Vorstellung, die ich mir von der Gattin eines Professors machte. Und als ich mir ihr Dasein vorstellte, nützlich, aber ereignislos, mit bescheidenen Mitteln, kleinen geselligen Zusammenkünften, Zank und Klatsch und geschäftiger Langeweile, konnte ich mir schon denken, daß ihre Reise nach Florenz ihr als erregende und unvergeßliche Erfahrung im Gedächtnis haften mußte.

Auf dem Heimweg zu seinem Haus sagte Wyman:

»Jasper Greene wird dir gefallen. Er ist gescheit.«

»Was für eine Professur hat er?«

»Er ist kein Professor, er ist Dozent. Ein echter Gelehrter. Er ist ihr zweiter Mann. Sie war vorher mit einem Italiener verheiratet.«

»Ach?« Das paßte durchaus nicht zu meinen Gedankengängen. »Wie hieß sie da?«

{10}»Ich habe keine Ahnung. Ich glaube aber, die Ehe ging nicht besonders gut aus.« Wyman lachte vor sich hin. »Das ist nur eine Vermutung, auf die ich deshalb komme, weil sie kein einziges Stück im Haus hat, das auf einen Aufenthalt in Italien hinweist. Ich hätte erwartet, daß sie wenigstens einen Refektoriumstisch, ein paar alte Truhen und ein gesticktes Meßgewand mitgebracht hätte.«

Ich mußte lachen. Ich kannte jene etwas trostlosen Gegenstände, die man in Italien kauft: die vergoldeten, geschnitzten Leuchter, die venezianischen Spiegel und die unbequemen Stühle mit den hohen Lehnen. Sie wirken recht gut, wenn man sie in den überfüllten Antiquitätenläden sieht, aber wenn man sie in ein anderes Land mitnimmt, sind sie oft eine schwere Enttäuschung. Selbst wenn sie echt sind, was selten der Fall ist, sehen sie fehl am Platz und unbehaglich aus.

»Laura hat Geld«, fuhr Wyman fort. »Als sie heirateten, richtete sie das Haus vom Keller bis zum Speicher ein, alles aus Chicago. Es ist eine Sehenswürdigkeit: das reine Meisterstück an Scheußlichkeit und schlechtem Geschmack. Ich komme nie in das Wohnzimmer, ohne über die unbeirrbare Sicherheit zu staunen, mit der sie genau das ausgewählt hat, was man in Zimmern für Hochzeitsreisende in einem zweitrangigen Hotel in Atlantic City finden würde.«

Um diese Ironie zu erklären, muß ich erwähnen, daß Wymans Wohnzimmer ganz aus Chrom und Glas war, mit rauhen, modernen Stoffen, einem kühnen, kubistischen Teppich, und an den Wänden Drucke von Picasso und Zeichnungen von Tschelitschew. Immerhin aß ich bei ihm vorzüglich. Wir verbrachten den Abend in angenehmem Geplauder {11}über Dinge, die uns beide interessierten, und beendeten ihn mit ein paar Flaschen Bier. Dann begab ich mich in mein Zimmer, das von etwas aggressiver Modernität war. Ich las noch eine Weile im Bett, löschte dann das Licht und wartete darauf, daß ich einschlief.

›Laura?‹ fragte ich mich. ›Was ist das für eine Laura?‹

Ich bemühte mich zurückzudenken. Ich dachte an alle die Leute, die ich in Florenz gekannt hatte, und hoffte, daß mir durch irgendeine Assoziation einfiele, wann und wo ich Mrs. Greene begegnet war. Da ich zum Essen bei ihr eingeladen war, wollte ich gerne mit irgendeiner Erinnerung beweisen, daß ich sie nicht vergessen hatte. Die meisten Menschen empfinden es als Kränkung, wenn man sich nicht an sie erinnert. Vermutlich legen wir alle unserer eigenen Person eine gewisse Wichtigkeit bei, und es ist etwas demütigend zu erkennen, daß wir auf Leute, mit denen wir verkehrten, keinen Eindruck gemacht haben. Ich döste langsam ein, aber ehe ich in einen wohltuenden Tiefschlaf sank, belebte sich mein Unbewußtes, vermutlich von dem Zwang des Erinnerns befreit, und ich war plötzlich wieder hellwach, denn ich wußte nun, wer Laura Greene war. Kein Wunder, daß ich sie vergessen hatte; es waren fünfundzwanzig Jahre vergangen, seit ich sie hin und wieder gesehen hatte, als ich einen Monat in Florenz zubrachte.

Es war unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg. Sie war mit einem Mann verlobt gewesen, der gefallen war, und sie und ihre Mutter hatten es geschafft, nach Frankreich zu fahren und sein Grab aufzusuchen. Sie stammten aus San Francisco. Nachdem sie diese traurige Aufgabe erfüllt hatten, waren sie nach Italien gekommen, um den Winter in Florenz {12}zu verbringen. Zu jener Zeit gab es dort eine recht große Kolonie von Engländern und Amerikanern. Ich hatte amerikanische Freunde, einen Oberst Harding mit seiner Frau – Oberst, weil er beim Roten Kreuz einen wichtigen Posten bekleidet hatte –, die eine schöne Villa in der Via Bolognese besaßen, und sie luden mich ein, bei ihnen zu wohnen. Ich verbrachte die Vormittage meistens mit der Besichtigung von Sehenswürdigkeiten, und dann traf ich meine Freunde gegen zwölf Uhr zu einem Cocktail bei Doney in der Via Tornabuoni. Bei Doney trafen sich alle – Amerikaner, Engländer und die Italiener, die in ihrer Gesellschaft verkehrten. Dort hörte man den ganzen Stadtklatsch. Nachher versammelte man sich meistens irgendwo zum Lunch, entweder in einem Restaurant oder in einer der Villen mit ihren schönen, alten Gärten, zwei oder drei Kilometer vom Stadtinnern entfernt. Ich hatte eine Karte für den Florenz-Klub erhalten, und am Nachmittag pflegten Charley Harding und ich dorthin zu gehen, um Bridge zu spielen oder ein riskantes Poker mit zweiunddreißig Karten. Abends folgte dann wohl eine Einladung zum Dinner, mit weiterem Bridge und oft auch anschließendem Tanz. Man traf immer die gleichen Bekannten, aber der Kreis war groß genug und die Leute verschieden genug, daß keine Langeweile aufkam. Jedermann interessierte sich mehr oder weniger für Kunst, wie es sich in Florenz gehörte, so daß dieses augenscheinlich müßige Dasein doch nicht ganz frivol war.

Laura und ihre verwitwete Mutter, Mrs. Clayton, wohnten in einer der besseren Pensionen. Sie schienen in gesicherten Verhältnissen zu leben. Sie waren mit Empfehlungsschreiben nach Florenz gekommen und hatten bald viele {13}Freunde....