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Meistererzählungen

H.G. Wells

 

Verlag Diogenes, 2018

ISBN 9783257609257 , 272 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

{7}Die seltsame Orchidee


Beim Kauf von Orchideen spielt immer ein gewisser spekulativer Reiz mit. Man hat das braune, geschrumpfte Knollengewebe vor sich, und im übrigen muß man auf sein Urteil vertrauen, auf den Auktionator oder auf sein Glück, je nach Neigung und Geschmack. Die Pflanze kann am Absterben oder schon verdorrt oder einfach ein vorteilhafter Kauf sein, vielleicht aber – denn dies ist wiederholt geschehen – entfaltet sich vor den entzückten Augen des glücklichen Besitzers langsam, Tag um Tag, eine neue Art, eine ungewohnte Fülle, eine seltsame Biegung der Blütenlippe, die zartere Färbung oder eine unerwartete Mimikry. Stolz, Schönheit und Gewinn blühen zusammen an einem feinen grünen Trieb, manchmal sogar Unsterblichkeit. Und wenn das neue Naturwunder einen eigenen Namen braucht, was wäre da so naheliegend wie der Name seines Entdeckers? »Johnsmithia«! Es gibt schlechtere Namen.

Es war vielleicht die Hoffnung auf eine glückliche Entdeckung, die Winter-Wedderburn zu einem so häufigen Besucher dieser Auktionen machte – die Hoffnung und auch die Tatsache, daß er auf dieser Welt nicht irgendeiner nützlichen Beschäftigung nachging. Er war ein schüchterner, einsamer, eher erfolgloser Mann, sein Einkommen reichte gerade aus, um ihm das Notwendigste zu beschaffen, aber er besaß nicht genug geistige Energie, um sich eine anspruchsvolle Tätigkeit zu suchen. Er hätte Briefmarken oder Münzen sammeln, Horaz übersetzen oder Bücher binden oder eine neue Art von Kieselalgen erfinden können. Doch wie es sich traf, züchtete er Orchideen, und sein Ehrgeiz war ein kleines Gewächshaus.

»Ich habe das Gefühl«, sagte er beim Kaffee, »daß mir heute etwas zustoßen wird.« Er sprach – so wie er sich bewegte und dachte – langsam.

{8}»Oh, sag das nicht!« sagte seine Haushälterin, die auch seine entfernte Kusine war. Denn »etwas zustoßen« war eine Beschönigung, die für sie nur eine Bedeutung hatte.

»Du verstehst mich falsch. Ich meine nichts Unangenehmes … obschon ich kaum weiß, was ich meine. Heute«, fuhr er nach einer Pause fort, »verkaufen Peters eine Anzahl Pflanzen von den Andamanen und aus Indien. Ich werde hingehen und schauen, was sie haben.« Er reichte ihr seine Tasse zum zweitenmal.

»Sind das die Sachen, die jener bedauernswerte junge Mann sammelte, von dem du mir kürzlich erzählt hast?« fragte seine Kusine, als sie den Kaffee eingoß.

»Ja«, sagte er, in Gedanken verloren über einer Scheibe Toast.

»Mir passiert nie etwas«, bemerkte er kurz darauf und begann laut zu denken. »Ich möchte wissen, warum? Anderen Leuten passiert immer etwas. Zum Beispiel Harvey. Erst letzte Woche am Montag hob er ein Sixpencestück auf, am Mittwoch hatten alle seine Küken den Hühnerwurm, am Freitag kehrte seine Kusine von Australien zurück, und am Samstag brach er sich das Bein. Was für ein aufregender Wirbel! – verglichen mit mir.«

»Ich glaube, ich wäre lieber ohne so viel Aufregung«, sagte seine Haushälterin. »Es kann nicht gut sein für dich.«

»Ich denke auch, es ist mühsam. Doch … siehst du, mir passiert nie etwas. Als kleiner Junge hatte ich nie Unfälle. Ich verliebte mich nie, als ich größer wurde. Heiratete nie … Ich möchte wissen, wie einem Menschen zumute ist, dem etwas zustößt, etwas wirklich Außergewöhnliches.

Dieser Orchideen-Sammler war erst sechsunddreißig – zwanzig Jahre jünger als ich –, als er starb. Und er war zweimal verheiratet und einmal geschieden gewesen; er hatte viermal die Malaria, und einmal brach er sich den Oberschenkel. Er brachte einmal einen Malaien um, und einmal wurde er von einem vergifteten Pfeil verwundet. Und am Schluß wurde er im Dschungel von Blutegeln getötet. Es muß sehr beschwerlich gewesen sein, aber auch sehr interessant, weißt du – mit Ausnahme vielleicht der Blutegel.«

{9}»Ich bin sicher, daß es für ihn nicht gut war«, sagte sie mit Überzeugung.

»Vielleicht nicht.« Und dann schaute Wedderburn auf seine Uhr. »Dreiundzwanzig Minuten nach acht. Ich nehme den Viertel-vor-zwölf-Zug, damit ich genügend Zeit habe. Ich glaube, ich werde meine Alpaca-Jacke anziehen – es ist warm genug – und meinen grauen Filzhut und die braunen Schuhe. Ich vermute –«

Er blickte durch das Fenster zum heiteren Himmel und zum sonnenbeschienenen Garten und dann nervös auf das Gesicht seiner Kusine.

»Ich glaube, du nimmst besser einen Schirm mit, wenn du nach London fährst«, sagte sie mit einer Stimme, die keine abschlägige Antwort duldete. »Da ist der ganze lange Heimweg von der Station bis hierher.«

Als er zurückkehrte, befand er sich in einem Zustand milder Erregung. Er hatte einen Kauf getätigt. Es geschah selten, daß er sich schnell genug dazu entschließen konnte, etwas zu erwerben, aber diesmal hatte er es getan.

»Es sind Vanda«, sagte er, »und ein Dendrobium und einige Palaeonophis.« Er musterte seine Einkäufe liebevoll, während er seine Suppe aß. Sie waren auf dem makellosen Tischtuch vor ihm ausgebreitet, und er erzählte seiner Kusine alles über sie, als er sich langsam durch sein Abendessen aß. Er hatte die Gewohnheit, alle seine Londoner Besuche am Abend ein zweites Mal zu erleben, zu ihrer und seiner eigenen Unterhaltung.

»Ich wußte, daß heute etwas geschehen würde. Und ich habe all diese gekauft. Einige von ihnen – einige von ihnen –, ich habe das sichere Gefühl, weißt du, daß einige von ihnen außergewöhnlich sein werden. Ich kann es nicht erklären, aber ich habe ein genauso sicheres Gefühl, als wenn mir jemand gesagt hätte, daß einige von diesen Pflanzen sich als etwas Besonderes erweisen werden.«

»Diese« – er zeigte auf einen zusammengeschrumpften Wurzelstock – »ist nicht identifiziert. Es kann eine Palaeonophis sein – oder auch nicht. Es kann eine neue Art sein oder sogar eine {10}neue Gattung. Und es war die letzte, die der arme Batten gesammelt hat.«

»Ihr Aussehen gefällt mir nicht«, sagte seine Haushälterin. »Sie hat eine so häßliche Form.«

»Für mich scheint sie kaum eine Form zu besitzen.«

»Ich kann diese Dinger nicht leiden, die vorstehen«, sagte seine Haushälterin.

»Sie wird morgen in einem Topf versorgt werden.«

»Sie sieht aus«, sagte die Haushälterin, »wie eine Spinne, die sich totstellt.«

Wedderburn lächelte und betrachtete die Wurzel, indem er den Kopf zur Seite neigte. »Es ist bestimmt kein schönes Knollengewächs. Aber man kann diese Sachen nie in ihrem trockenen Zustand beurteilen. Vielleicht entwickelt sich eine wirklich schöne Orchidee daraus. Wieviel ich morgen zu tun haben werde! Ich muß mir heute abend genau überlegen, was ich mit diesen Dingen anfangen will, und morgen werde ich mich an die Arbeit machen.

Sie fanden den armen Batten, wie er tot oder sterbend in einem Mangrovensumpf lag – ich habe vergessen, ob er bereits tot war oder nicht«, begann er nach kurzer Zeit von neuem, »wobei ausgerechnet eine dieser Orchideen von seinem Körper zusammengedrückt wurde. Er hatte einige Tage unter einer Art Tropenfieber gelitten, und ich glaube, daß er in Ohnmacht fiel. Diese Mangrovensümpfe sind sehr ungesund. Jeder Blutstropfen, hieß es, wurde ihm von den Blutegeln des Dschungels ausgesaugt. Vielleicht war es gerade diese Pflanze hier, deren Gewinn ihm das Leben kostete.«

»Ich mache mir deshalb nicht mehr aus ihr.«

»Männer müssen arbeiten, Frauen dürfen weinen«, sprach Wedderburn in tiefem Ernst.

»Stell dir vor, entfernt von jeder Annehmlichkeit in einem scheußlichen Sumpf zu sterben! Stell dir vor, an einem Fieber erkrankt zu sein, ohne ein anderes Mittel als Chlorodyn und Chinin zur Verfügung zu haben – wenn man die Männer sich selbst {11}überließe, würden sie von Chlorodyn und Chinin leben –, umgeben von gräßlichen Eingeborenen! Man sagt, die Andaman-Insulaner seien ganz abscheuliche Kerle – und auf jeden Fall können sie kaum gute Krankenpfleger sein, ohne die nötige Ausbildung. Und all das, damit die Leute in England Orchideen haben!«

»Ich glaube nicht, daß es angenehm war, aber manchen Männern gefällt das«, sagte Wedderburn. »Jedenfalls waren die Eingeborenen seiner Gruppe zivilisiert genug, um für seine ganze Sammlung Sorge zu tragen, bis sein Kollege, ein Ornithologe, wieder aus dem Innern des Landes zurückkehrte; obschon sie die Art der Orchidee nicht bestimmen konnten und sie welken ließen. Und es macht diese Dinge interessanter.«

»Es macht sie widerlich. Ich hätte Angst, daß Malaria daran haften könnte. Und stell dir nur vor, daß eine Leiche über diesem häßlichen Gebilde lag! Ich habe bis jetzt gar nicht daran gedacht. So! Wahrhaftig, ich weigere mich, noch einen Bissen von diesem Nachtessen anzurühren.«

»Ich werde sie vom Tisch entfernen, wenn du es wünschest, und sie auf die Fensterbank legen.«

Während der nächsten paar Tage war er in der Tat außerordentlich beschäftigt in seinem feuchten kleinen Gewächshaus, hantierte mit Holzkohle, Stücken von Teakholz, Moos und all den anderen Geheimnissen des Orchideenzüchters. Er fand, er habe eine wundervoll ereignisreiche Zeit. Am Abend pflegte er seinen Freunden von den neuen Orchideen zu erzählen, und immer wieder gab er seiner Erwartung auf etwas Seltsames Ausdruck.

Verschiedene der Vandas und das Dendrobium gingen unter seiner Pflege ein, aber bald darauf begann die merkwürdige Orchidee Zeichen von Leben zu zeigen. Er war erfreut und holte seine Haushälterin direkt vom Marmeladeeinkochen weg,...