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Der Wolvercote-Dorn - Kriminalroman. Ein Fall für Inspector Morse 9

Colin Dexter

 

Verlag Unionsverlag, 2019

ISBN 9783293310322 , 288 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

2


Um das Laster besser kurieren zu können, glauben sie, dass es nötig sei, es zu studieren, und ein wirksames Studium ist nur durch Praxis möglich.

Samuel Butler

Am gleichen Abend, nur viel später – die Bar hatte bereits das Gitter heruntergelassen –, saß John Ashenden allein im University Arms Hotel in Cambridge und beschäftigte sich in Gedanken mit dem morgigen Tag. Der Wetterbericht klang entschieden hoffnungsvoller, eine Wiederholung der ergiebigen Regenfälle, die heute ganz Süd- und Ostengland unter Wasser gesetzt hatten (einschließlich Oxford, wie wir gesehen haben), war nicht zu erwarten.

»Darf es noch etwas sein, ehe wir schließen, Sir?«

An sich war Ashenden ein Freund gepflegter Biere, andererseits wusste er aber auch, dass zu einer freundlicheren Weltsicht am schnellsten Whisky verhilft. Deshalb bestellte er jetzt noch einen großen Glenfiddich und ließ den Single Malt auf die Rechnung der Historischen Städtetour durch England setzen.

Eine Wetterbesserung wäre in jeder Beziehung zu begrüßen und würde die Stimmung seiner Amerikaner heben, die ständig über

zu wenig Sonne

zu reichliches Essen

zu viel Müll

zu frühes Wecken

zu lange Fußmärsche (ja, die besonders!)

lamentierten.

Dabei war es noch nicht mal eine besonders lästige Gruppe (bis auf das eine schreckliche Weib natürlich). Aus Ashendens Sicht waren sie sogar ein, zwei Punkte über dem Durchschnitt. Siebenundzwanzig Seelen, fast alle von der Westküste, hauptsächlich aus Kalifornien, die meisten zwischen fünfundsechzig und fünfundsiebzig, fast ausnahmslos reich, deren Leben sich um Alkohol, Bridge, Zigaretten und Krimis drehte. In den ersten Tagen hatte er noch gewisse Hoffnungen gehegt, dass sie sich statt für Zigaretten für Kultur interessierten, denn nachdem er zum Nichtraucher konvertiert war, nervte es ihn zunehmend, wenn manche sich schon während des Essens die nächste Zigarette anzündeten. Aber das hatte nicht sollen sein.

Wegen des Wolkenbruchs in Cambridge hatten sie die Ausflüge nach Grantchester und zum amerikanischen Soldatenfriedhof in Madingley streichen müssen. Die Programmänderung war – besonders von den Damen – höchst ungnädig aufgenommen worden, und auch ihm selbst war sie nicht gelegen gekommen. Wohl oder übel hatte er den Cicerone spielen, mit schmerzendem Nacken auf die Pracht der frühgotischen Spitzbogen des King’s College deuten und dann mit wehen Füßen durchs Fitzwilliam-Museum tappen müssen, um für seine Schar einige der stets beliebten präraffaelitischen Gemälde ausfindig zu machen.

»Ich habe gelesen, dass die Sammlung im Ashmolean sehr viel besser sein soll, Mr Ashenden. William Holman Hunt und … und Mill-ais

»Das werden Sie morgen ja selbst beurteilen können«, hatte Ashenden leichthin erwidert. Die Vornamen eines Malers, den sie so aussprach, als reime er sich auf Reis, hatte die vermaledeite Person offenbar vergessen – oder nie gewusst.

Es war ärgerlich, dass man wohl oder übel dem Busunternehmen in Cambridge das Geld für die ausgefallenen Ausflüge in den Rachen werfen musste. Noch ärgerlicher war, dass er für die Erbauung und Zerstreuung seiner Seniorenclique den ganzen Nachmittag hatte opfern müssen. Er hielt sich einiges auf seine Fähigkeiten als Reiseleiter zugute, aber in den letzten Jahren verspürte er immer dringender das Bedürfnis, bei seinen Pflichten, die ihn praktisch rund um die Uhr beanspruchten, hin und wieder eine Pause einzulegen. Die Nachmittage pflegte er sich deshalb nach Möglichkeit freizuhalten, hütete sich aber zu verraten, was er in dieser Zeit trieb.

Im November 1974 hatte er sich in Cambridge zur Aufnahmeprüfung für ein Studium der modernen Sprachen gemeldet. Seine in der Gesamtschule erzielten Abschlussnoten hatten nicht unberechtigten Optimismus geweckt, und er hatte noch ein Trimester drangehängt, um das Gesamtergebnis zu verbessern. Sein Vater wäre der stolzeste Mann in ganz England gewesen, hätte sein Sohn die Prüfer von seiner sprachlichen Kompetenz überzeugen können. Doch der Versuch schlug fehl, und am Weihnachtsabend war folgendes Schreiben durch den Briefschlitz gefallen:

Senior Tutor, Christ’s College, Cambridge

21.12.1974

Sehr geehrter Mr Ashenden,

nach gründlicher und wohlwollender Prüfung Ihrer Bewerbung müssen wir Ihnen leider mitteilen, dass wir Ihnen keinen Studienplatz in unserem College anbieten können. Wir verstehen Ihre Enttäuschung, aber Sie wissen sicher, wie begehrt die wenigen Vakanzen …

Ganz ohne Folgen aber war sein kurzer Aufenthalt in Cambridge nicht geblieben. Er hatte zwei Nächte im Second Court von Christ’s übernachtet, zusammen mit einem Mitbewerber aus Trowbridge, einem schlaksigen, erstaunlich belesenen jungen Mann, der nicht nur ein Stipendium in Alten Sprachen anstrebte, sondern sich auch vorgenommen hatte, die Universität (oder das Universum?) zu den selbstverständlichen Wahrheiten seiner Spielart des Neomarxismus zu bekehren. So richtig hatte John das alles gar nicht verstanden, aber unvermittelt hatte sich vor ihm eine Welt der Gelehrsamkeit, des Intellekts, der fantasievollen Begeisterung und Sensibilität – ja, vor allem der Sensibilität – aufgetan, von der er in seiner Gesamtschule in Leicester nichts geahnt hatte.

An ihrem letzten gemeinsamen Nachmittag hatte Jimmy Bowden, der Trotzkist aus Trowbridge, ihn ins Kino mitgenommen – zu einer Doppelvorstellung aus dem goldenen Zeitalter des französischen Films –, und dort hatte er sich in eine schwüle Hure mit rauchiger Stimme verliebt, die in einem schmierigen Bistro die seidenbestrumpften Beine übereinanderschlug und Absinth schlürfte. Das alles habe etwas mit »der Synthese von Stil und Sexualität« zu tun, hatte Jimmy ihm zu erklären versucht. Bis in die frühen Morgenstunden hatten sie zusammengesessen und geredet, und am nächsten Morgen war Jimmy dann um sechs aufgestanden, um vor Marks & Spencer den Socialist Worker an den Mann – oder die Frau – zu bringen.

Wenige Tage nach der Ablehnung seiner Bewerbung hatte Ashenden eine Postkarte von Jimmy bekommen, eine Schwarz-Weiß-Aufnahme des Grabs von Karl Marx auf dem Friedhof von Highgate:

Die Idioten haben mir trotz meiner griechischen Prosa ein Vollstipendium spendiert! Nehme an, Du hast inzwischen auch Deinen positiven Bescheid. War schön, Dich kennenzulernen, freue mich auf unser erstes gemeinsames Trimester. Jimmy.

Er hatte Jimmy nie geantwortet. Und nur durch Zufall hatte er sieben Jahre danach, als er mit einer Gruppe nach Oxford kam, jemanden getroffen, der Jimmy Bowden gekannt hatte …

Jimmy hatte erwartungsgemäß seine Abschlussprüfung mit Glanz und Gloria bestanden und eine Doktorandenstelle zur Erforschung frühetruskischer Epigrafik bekommen. Drei Jahre später war er an Morbus Hodgkin gestorben. Er hatte, wie sich herausstellte, keine Angehörigen und war auf dem Holywell Cemetery in Oxford beigesetzt worden, an der Seite zahlreicher, sehr berühmter Professoren, nur acht, neun Meter von Walter Paters Grab entfernt. Auch nach Jimmys Tod schwand die Erinnerung an ihn nicht ganz aus John Ashendens Leben, denn über viele Jahre hatte er verschiedene Spezialzeitschriften abonniert, die in England und auf dem Kontinent für Filmfreaks wie ihn herausgegeben wurden. Wo und wann genau die Degeneration eingesetzt hatte (wenn man es denn so nennen wollte), hätte er nicht genau sagen können.

Er war Jahrgang 1952 und daher nicht mehr – wie die Generation seines Vaters – das Opfer sexueller Repression. Und nachdem er (gleich nach dem Schulabschluss) angefangen hatte zu arbeiten und zu reisen, hatte er kaum Hemmungen gehabt, seine sexuelle Neugier durch gelegentliche Besuche von Saunaklubs, Sexkinos oder freizügigen Shows zu befriedigen. Nach und nach aber fachten diese Erfahrungen seine Begierde, statt sie zu befriedigen, nur noch mehr an, und er wurde zum unverbesserlichen Voyeur. Von erfahreneren Kollegen aus der Reisebranche (die gegen korrumpierende Einflüsse aus dieser Richtung offenbar völlig immun waren) hatte er früher oft genug gehört, Pornos seien ja gut und schön, wenn sie nur nicht so entsetzlich langweilig wären …

Wie unappetitlich sein beginnendes Laster war, hatte er gleich zu Anfang begriffen, als er sich wie ein Blinder durch den dunklen Mittelgang eines schmierigen Kinos getastet hatte, die Cockneystimme des Anreißers noch im Ohr: »Hier haste was Richtiges, Kumpel, hier gehts echt zur Sache, kein Rumgefummel …« Es erschreckte ihn, dass ihn derart primitive Paarungsszenen so stark erregen konnten, andererseits war es ihm eine Beruhigung, dass fast alle Kinos, die er besuchte, ziemlich voll waren und dass die anderen Zuschauer vermutlich ebenso angepasst waren wie er selbst. Sehr bald begriff er auch etwas von jener »Synthese«, die Jimmy ihm zu erklären versucht hatte – der Synthese von Stil und Sexualität. Denn es gab da tatsächlich Leute, die sich auf solche Dinge verstanden, es gab Zusammenkünfte in Privatwohnungen, bei denen der Hohepriester den erhabenen Introitus...