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Abendrot

Kent Haruf

 

Verlag Diogenes, 2019

ISBN 9783257609318 , 416 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

{9}Teil 1


{11}1


Sie kamen im schräg einfallenden Licht des frühen Morgens aus dem Pferdestall. Die beiden McPheron-Brüder, Harold und Raymond. Alte Männer, die am Ende des Sommers auf ein altes Haus zusteuerten. Sie gingen über die mit Kies bestreute Zufahrt, vorbei an dem Pick-up und dem am Zaun der Schweinekoppel geparkten Wagen, und traten nacheinander durch das Maschendrahttor. Vor der Veranda kratzten sie sich die Stiefel an dem Sägeblatt ab, das im Boden vergraben war, die Erde ringsum festgetreten und blank, so viele Male waren sie darübergegangen und hatten sie mit Dung aus dem Stall vermischt. Sie stiegen die Holzstufen zur Vorderveranda mit der Fliegengittertür hinauf und betraten die Küche, wo die neunzehnjährige Victoria Roubideaux am Kiefernholztisch saß und ihre Tochter mit Haferbrei fütterte.

In der Küche nahmen sie ihre Hüte ab, hängten sie über die Haken neben der Tür und wuschen sich als Erstes an der Spüle die Hände. Ihre Gesichter waren rot und vom Wetter gegerbt unter einer blassen Stirn, das borstige Haar auf den runden Köpfen eisengrau und steif wie die abstehende Mähne eines Pferdes. Als sie an der Spüle fertig waren, trockneten sie sich nacheinander mit dem Geschirrtuch ab, doch als sie sich am Herd das Essen auftun wollten, wies das Mädchen sie an, sich hinzusetzen.

{12}Muss nicht sein, dass du uns bedienst, sagte Raymond.

Das möchte ich aber, entgegnete sie. Morgen bin ich nicht mehr da.

Sie stand auf, setzte sich das Kind auf die Hüfte und stellte zwei Kaffeetassen, zwei Schalen mit Haferbrei und einen Teller mit gebutterten Toastscheiben auf den Tisch, dann setzte sie sich wieder hin.

Harold saß da und studierte seinen Haferbrei. Man hätte meinen können, dass sie uns wenigstens dieses Mal ein Steak mit Spiegeleiern auftischt. Zur Feier des Tages. Aber nein, Sir, immer nur diese warme Pampe, die ungefähr so schmeckt wie die letzte Seite der nassen Zeitung von gestern.

Wenn ich weg bin, könnt ihr essen, was ihr wollt. Das macht ihr sowieso, ist mir schon klar.

Ja, Ma’am, wahrscheinlich wird’s so kommen. Er sah sie an. Nicht, dass ich’s nicht abwarten kann, bis du gehst. Ich nehm dich nur ein bisschen auf den Arm.

Weiß ich doch. Sie lächelte ihm zu. Ihre Zähne strahlten weiß in dem gebräunten Gesicht, und das dichte schwarze Haar glänzte und fiel ihr gerade bis über die Schultern. Ich bin gleich so weit, sagte sie. Ich will nur noch Katie zu Ende füttern und sie anziehen, dann können wir los.

Gib sie mir, sagte Raymond. Ist sie fertig mit Essen?

Nein, noch nicht, sagte das Mädchen. Aber vielleicht isst sie bei dir noch ein Häppchen. Bei mir dreht sie immer nur den Kopf weg.

Raymond stand auf, ging um den Tisch herum und nahm die Kleine auf den Arm. Dann kehrte er zu seinem Platz zurück, setzte sie sich auf den Schoß, streute Zucker auf den Haferbrei in seiner Schale, goss Milch aus dem Krug dazu, {13}der auf dem Tisch stand, und fing an zu essen, während die Kleine mit dem schwarzen Haar und den runden Bäckchen ihn beobachtete, fasziniert von dem, was er tat. Er hielt sie ganz entspannt und bequem, den Arm um sie gelegt, nahm einen Löffel voll Brei, pustete darauf und bot ihn ihr an. Sie nahm ihn. Er selbst aß auch etwas. Dann blies er auf den nächsten Löffel Brei und schob ihn ihr in den Mund. Harold goss Milch in ein Glas, und die Kleine streckte sich über den Tisch und trank mit beiden Händen, bis sie innehalten musste, um nach Luft zu schnappen.

Was werde ich bloß machen, wenn sie in Fort Collins nicht essen will?, sagte Victoria.

Du kannst uns anrufen, sagte Harold. Wir sind im Nu da, um nach ihr zu sehen. Was, Katie?

Die Kleine sah ihn über den Tisch hinweg unverwandt an. Ihre Augen waren so schwarz wie die ihrer Mutter, wie Knöpfe oder Johannisbeeren. Sie sagte nichts, nahm aber Raymonds schwielige Hand und führte sie zu der Schale mit dem Haferbrei. Als er ihr den Löffel hinhielt, schob sie seine Hand auf seinen Mund zu. Oh, sagte er. Na gut. Er pustete ausgiebig auf den Löffel, blies dabei die Backen auf und bewegte das rote Gesicht vor und zurück, und dann war sie wieder dran.

Als sie fertig waren, brachte Victoria ihre Tochter zunächst ins Bad neben dem Esszimmer, um ihr das Gesicht zu waschen, und anschließend ins Schlafzimmer, um sie anzuziehen. Die McPheron-Brüder gingen nach oben in ihre Zimmer und zogen ihre Stadtkleidung an, dunkle Hosen, helle Hemden mit Druckknöpfen aus Perlmutt, dazu setzten sie ihre guten weißen, handgemachten Bailey-Hüte auf. {14}Als sie wieder herunterkamen, trugen sie Victorias Koffer zum Wagen und hievten ihn in den Kofferraum. Der Rücksitz war bereits mit Kisten voller Kinderkleidung, Decken, Laken, Spielzeug und einem gepolsterten Kindersitz beladen. Hinter dem Wagen stand der Pick-up, und auf seiner Ladefläche, zwischen Reservereifen, Wagenheber, einem halben Dutzend leerer Motorölkanister, ein paar trockenen Süßgrasgarben und einer Rolle rostigem Stacheldraht standen noch der Hochstuhl der Kleinen und ihr Bettchen; die Matratze war in eine neue Plane gewickelt und alles mit orangefarbenem Bindfaden verschnürt.

Sie gingen ins Haus zurück und kamen mit Victoria und der Kleinen wieder heraus. Auf der Veranda blieb Victoria einen Moment stehen, in ihren dunklen Augen schimmerten plötzlich Tränen.

Was ist denn los?, fragte Harold. Stimmt was nicht?

Sie schüttelte den Kopf.

Du weißt doch, du kannst jederzeit zu uns zurück. Das erwarten wir sogar. Wir rechnen damit. Vielleicht hilft’s, wenn du dran denkst.

Das ist es nicht, sagte sie.

Hast du vielleicht vor irgendwas Angst?, fragte Raymond.

Nein, es ist nur, dass ich euch vermissen werde, sagte sie. Ich bin noch nie weggewesen, nicht so. An das andere Mal mit Dwayne kann ich mich nicht mal mehr erinnern und will es auch gar nicht. Sie wechselte die Kleine von einem Arm auf den anderen und wischte sich über die Augen. Ich werde euch vermissen, das ist alles.

Du kannst anrufen, wenn du was brauchst, sagte Harold. Wir sind immer hier, am anderen Ende.

{15}Trotzdem werde ich euch vermissen.

Ja, sagte Raymond. Sein Blick schweifte über die Veranda in den Hof und das braune Weideland dahinter. Über die blauen Sandhügel in der Ferne am niedrigen Horizont. Der Himmel war so klar und leer, die Luft so trocken. Wir werden dich auch vermissen, sagte er. Wenn du weg bist, werden wir wie zwei müde alte Arbeitsgäule sein. Einsam irgendwo rumstehen und immer über den Zaun starren. Er wandte sich um und musterte ihr Gesicht. Ein Gesicht, das ihm jetzt vertraut und lieb war, nachdem sie drei und das Kind unter demselben freien Himmel, im selben, von der Witterung gezeichneten alten Haus gewohnt hatten. Aber du willst trotzdem jetzt aufbrechen, oder?, sagte er. Wir sollten allmählich die Kiste anlassen, wenn wir wirklich los wollen.

 

Raymond fuhr ihren Wagen, Victoria saß neben ihm, damit sie sich nach hinten umdrehen und Katie in ihrem gepolsterten Kindersitz im Auge behalten konnte. Harold folgte ihnen im Pick-up aus der Zufahrt, über den Fahrweg in westlicher Richtung bis zu der zweispurigen geteerten Landstraße, die nach Norden Richtung Holt führte. Das Land zu beiden Seiten des Highways war flach und baumlos, der Boden sandig, die Weizenstoppeln auf den flachen Feldern glänzten noch immer hell, seit sie im Juli geschnitten worden waren. Hinter den Straßengräben stand der bewässerte Mais zweieinhalb Meter hoch, dunkelgrün und schwer. Die Getreidesilos der Stadt ragten groß und weiß neben den Eisenbahngleisen in der Ferne auf. Es war ein heller, warmer Tag, aus dem Süden wehte ein heißer Wind.

In Holt bogen sie auf den US 34 ein und hielten am Gas {16}and Go an, wo die Main Street den Highway kreuzte. Die McPherons stiegen aus und blieben an der Zapfsäule stehen, um beide Wagen aufzutanken, während Victoria hineinging, um ihnen zwei Becher Kaffee, sich selbst eine Cola und der Kleinen eine Flasche Saft zu kaufen. An der Schlange vor der Kasse warteten ein dicker, schwarzhaariger Mann und seine Frau mit einem Mädchen und einem kleinen Jungen. Sie hatte sie oft und zu den unterschiedlichsten Zeiten in den Straßen von Holt gesehen und auch die Gerüchte über sie gehört. Wären die McPheron-Brüder nicht gewesen, dachte sie nun, vielleicht würde es ihr jetzt wie ihnen gehen. Sie beobachtete, wie das Mädchen zum vorderen Teil des Ladens ging, eine Illustrierte aus dem Zeitungsständer vor der großen Fensterscheibe nahm und darin blätterte, mit dem Rücken zu ihnen, als hätte sie nichts mit den anderen am Tresen zu tun. Aber nachdem der Mann die Packung Käse-Cracker und die vier Dosen Limonade mit Essensmarken bezahlt hatte, steckte sie die Illustrierte wieder zurück und folgte dem Rest der Familie nach draußen.

Als Victoria herauskam, standen der Mann und die Frau auf dem geteerten Parkplatz und besprachen etwas miteinander. Sie konnte weder das Mädchen noch ihren Bruder sehen, drehte sich um und entdeckte, dass sie an der Ecke unter der Ampel standen und über die Main Street Richtung Stadt schauten. Sie ging weiter zum Wagen, wo Raymond und Harold auf sie warteten.

 

Es war kurz nach Mittag, als sie die Ausfahrt der Interstate nahmen und die Ausläufer von Fort Collins erreichten. Im Westen erhob sich das Vorgebirge zu einer blauen {17}Zackenlinie, getrübt von gelbem Smog, der aus dem Süden, von Denver bis hierher geweht wurde. Auf einem der Hügel hatte man ein weißes A auf die Felsen gemalt, ein Überbleibsel aus der Zeit, als die Mannschaften der Universität noch Aggies...