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Irgendwann wird es gut

Joey Goebel

 

Verlag Diogenes, 2019

ISBN 9783257609462 , 320 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

{9} Unsere Olivia


Wie bei seinem heiligen Ritual üblich, bereitete Anthony Dent kurz vor sechs Uhr abends einen Bourbon mit Wasser für sich und die Frau vor, die er liebte, der er aber noch nie begegnet war. Diese Woche war es ein Early Times Kentucky Whisky. Er stellte ihr Glas neben den Fernseher und nahm dann seinen Stammplatz auf dem braunen Sofa ein, das er im Secondhand-Laden der Heilsarmee gekauft hatte. Wenig später war sie da, verteilte ihre Schönheit über sein düsteres und schäbiges Apartment mit den kahlen Wänden und den Kaffeeflecken auf dem Teppich. Sie trug das weiße Kostüm, das ihm so gefiel.

Olivia Abbott war umwerfend. Das fand ganz Moberly. Ihr schulterlanges brünettes Haar trug sie als zahme Variante des damals noch beliebten Rachel-Cut. Und ihr Mund, so schelmisch und doch lieb, so patent – Anthony fiel das treffende Wort für ihren Mund ein: geheimnisvoll. Doch gewöhnlich konzentrierte sich Anthony darauf, ihr direkt in die großen braunen Augen zu schauen.

Er drückte auf die Stummtaste seiner Fernbedienung. »O Olivia, du siehst heute Abend engelsgleich aus. Es ist wirklich schön, dich zu sehen. Ich hatte mal wieder einen miesen Tag. Ich erzähl dir alles darüber, doch vorher –«, Anthony hob sein Glas: »Auf ein Neues!« Er nippte an {10}seinem Whisky. »Hoffentlich weißt du noch, dass wir uns heute Abend endlich persönlich kennenlernen. Keine Bange, ich habe alles gründlich bedacht. Ich werde nach dir Ausschau halten – meine Güte, was willst du denn hier?«

Jetzt war ihr Moderatorenkollege auf dem Bildschirm zu sehen. »Dir glaub ich kein einziges Wort«, sagte Anthony kühl. »Vermutlich hast du nicht mal eine Seele.« Anthony trank noch einen Schluck. »Wahrscheinlich betrügst du deine Frau.«

Bald erschien Olivia wieder auf dem Schirm. »Ich habe für heute Abend alles vorbereitet. Überlass einfach alles mir. Übrigens läuft es auf der Arbeit immer noch nicht rund. Der Job an sich ist in Ordnung, aber wenn wir nichts zu tun haben und einfach nur rumstehen – dann wird’s echt schwierig. Ich weiß nie, was ich zu meinen Kollegen sagen soll. Anscheinend fällt ihnen problemlos irgendwas ein, das sie sagen können. Es macht ihnen gar keine Mühe. Klar gibt es da meine Beeinträchtigung, aber mir fehlen ja sogar die Themen. Doch wenigstens habe ich in dieser Hinsicht mit dir keine Probleme.«

Olivia verschwand erneut, und statt ihrer stand ein Reporter neben einem Highway und redete über die letzte Runde von Brückenreparaturen. Es war die Brücke, von der die Bewohner Moberlys gerne sprangen, wenn sie sich umbringen wollten. Anscheinend war sie permanent baufällig und verrostete alle paar Jahre. Anthony schaute auf einen Zettel, wo er Themen für das abendliche Gespräch notiert hatte. Während er überlegte, was er als Nächstes sagen sollte, zwirbelte er eine seiner schlaffen schwarzen Locken zwischen den Fingern, eine Angewohnheit von ihm. Er hatte {11}auch die Angewohnheit, ohne Vorwarnung beide Hände möglichst fest zu Fäusten zu ballen, bis die Finger schmerzten.

Schließlich kehrte der Moderator auf den Schirm zurück. Anthony zeigte ihm den Stinkefinger und sagte ihm, falls er je Kinder bekäme, würde er einen miesen Vater abgeben, und falls er schon Kinder hätte, säßen sie bestimmt nicht gern mit ihm zusammen im Auto.

Olivia kam zurück. »Das ist jetzt wirklich peinlich. Als ich heute Morgen zur Arbeit kam, probierte ich es zur Begrüßung mit der Variante eines dieser hippen Handschläge, die sie alle so cool finden, doch ich bekam das nicht hin und streichelte schließlich die Hand meines Arbeitskollegen. Er sah mich an, als wäre ich der größte Volltrottel überhaupt.«

Als ein Einspieler über jemanden kam, der ein Haus voller Hunde vernachlässigt hatte (in Moberly wurden ständig von irgendwem Häuser voller Hunde vernachlässigt), warf Anthony noch einen Blick auf seinen Zettel. »Olivia, mir ist klar, dass wir vor unserer Begegnung heute Abend ein paar Probleme aus dem Weg räumen sollten. Zunächst einmal ist mir bewusst, dass dies für ein Paar nicht die ideale Art ist, sich persönlich kennenzulernen. Doch ich halte mich gern für etwas Besonderes, und du bist offensichtlich auch etwas Besonderes, und besondere Menschen sollten das Recht haben, Dinge auf ihre eigene Art zu machen. Und ich sehe zwar nicht besonders aus, aber du weißt ja schon über mich und mein Drehbuch Bescheid, was nichts weiter heißen soll als, nun ja … ich bin auf einem guten Weg.«

Wieder kam der Moderator ins Bild, doch diesmal redete Anthony weiter, konzentrierte sich jetzt auf Spinnweben in {12}einer Ecke der Zimmerdecke, die er manchmal als Double für Gott benutzte. Die Spinnweben hingen schon ewig da und zuckten, wenn Heizung oder Klimaanlage an waren. »Ich weiß, dass es Gründe gibt, warum das mit uns nicht funktionieren könnte. Einer von uns ist prominent und hat einen beeindruckenden Job. Der andere arbeitet im Lager eines großen Baumarkts. Aber ich bin auf einem guten Weg. Steve trifft sich nächste Woche mit diesem Produzenten in L.A. Lass es bitte geschehen. Im Moment mag ich dir wie ein Niemand vorkommen, aber das wird nicht lange so bleiben. Lass es bitte geschehen.«

Wieder erschien Olivia auf dem Schirm. Anthony stellte seinen Drink ab und rutschte an die Sofakante. Er redete hektisch, schaute abwechselnd auf den Fernseher und die Spinnweben. »Ich weiß, dass bald Werbung kommt, und dann meldet sich Hal mit dem Wetter, also hör mir bitte einfach zu. Du musst mir eine Chance geben. Lass nur ein Mal, nur dieses eine Mal, die Guten gewinnen. Bitte. Mir gelingt gar nichts. Stimmt, ich habe das Drehbuch, aber ich meine bei Frauen. Bei Menschen. Ich weiß wirklich nicht, was mit einem Mann geschieht, wenn ihm sein ganzes Leben lang nichts gelingt. Alle waren so grausam zu mir. Es tut so weh und hört nicht auf. Aber warte nur, bis sie mich mit dir zusammen sehen.« Auf dem Bildschirm erschien die Werbung eines Autohändlers. »Ich kann es nicht erwarten, dich heute Abend zu sehen. Amen.«

Anthony stellte sich vor, wie diese Szene für viele seiner toten Verwandten ausgesehen haben mochte. Er spürte, wie sich Tränen bildeten, hielt sie aber zurück.

Dann folgten die Zweifel, sie betraten seinen Geist wie {13}fahlgesichtige Sargträger. War sie überhaupt Single? Wie wäre das möglich? Und alle anderen wiesen ihn ab. Warum sollte sie anders sein? Und wenn ihre Zurückweisung der letzte Stoß wäre, der ihn dazu brachte, ein schlechter Mensch zu werden? »O Gott«, sagte er, als die nächste Autowerbung lief, diesmal brüllte ein Mann die Zuschauer an. »Lass nicht zu, dass ich ein schlechter Mensch werde.«

Anthony war fünfundzwanzig. Wenn er an all die Jahre unerwiderter Liebe dachte, jede Variante unerwiderter Liebe, die man sich nur vorstellen kann: die vielen Male, die man ihm direkt ins Gesicht gelacht hatte, die vielen Gelegenheiten, wenn ihm abrupt der Wind aus den Segeln genommen wurde, weil die Frau ohne jede Erklärung plötzlich verstummte … Dann stellte er sich seine ungenutzte Liebe als Flüssigkeit vor, und sein Körper war so voll von dieser Flüssigkeit, dass sie jeden Moment überlaufen konnte. Sie hatte sich dermaßen aufgestaut, weil so viele Menschen seine Liebe zurückgewiesen hatten, doch Anthony hielt daran fest, weil er dachte, eines Tages würde er der richtigen Person begegnen, die er mit seiner Liebe überschütten könnte.

Seiner Meinung nach war diese Person die Nachrichtensprecherin Olivia Abbott von den Nachrichten auf Channel Seven. Er hielt sie für eine Göttin, die perfekte Frau, die seinen jahrelangen Kummer wettmachen würde. Sie würde seine Belohnung sein. Er war überfällig. Dieses Wort traf seiner Ansicht nach am besten auf ihn zu: überfällig. Doch wenn er sich seine überschwengliche Liebe vorstellte, dachte er unwillkürlich: Was, wenn Olivia, was, wenn niemand jemals dieses große, volle Glas mit dem annimmt, was ich {14}zu bieten habe? Werde ich dann nicht irgendwann schal? Und was ist, wenn eine solche große Menge sauer wird? Geraten wir dann nicht alle in Schwierigkeiten?

Er erhob sich vom Sofa und leerte Olivias Drink für sie. Als sie wieder auf‌tauchte, presste er die Fingerspitzen auf ihr Gesicht hinter dem staubigen Bildschirm.

 

Moberly, Kentucky, lag am Ohio River im Westteil des Bundesstaats, eines auf ewig verarmten Staates, der in Sachen Gesundheit und Bildung landesweit zu den Schlusslichtern gehörte. Es war ein kleiner, freundlicher Ort, und wahrscheinlich käme man zu dem Schluss, dass er sich kaum von anderen Orten unterschied. Beispielsweise fuhren genau wie anderswo die Leute auf Parkplätzen zu schnell, und die meisten Eltern passten auf dem Spielplatz nicht ordentlich auf ihre Kinder auf. Und wie in den meisten amerikanischen Städten dieser Größe gab es keine Buchhandlung.

Die Studios von Channel Seven waren schon immer in Moberly gewesen, auch wenn sich dessen Hauptmarkt in der übernächsten Stadt befand, dem viel größeren Salton, Indiana. Anthony parkte seinen 1989er-Pontiac Grand Am am Rande des Parkplatzes, von wo aus er den Hinterausgang im Blick hatte. Jetzt war es 22 Uhr 35, Zeit für Olivia, nach den Zehn-Uhr-Nachrichten den Sender zu verlassen. Er betrachtete das Gebäude und dachte daran, dass sie da drin war. Ihr Körper war dort. Er lechzte danach, mit seinen Fingerspitzen all die Linien nachzuzeichnen, die sie ausmachten.

Es war sein zweiter Besuch auf dem Gelände von WTSW. Das erste Mal war vor fünf...