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ELBTRAUM - Hamburg-Krimi

ELBTRAUM - Hamburg-Krimi

Klaus E. Spieldenner

 

Verlag CW Niemeyer Buchverlage GmbH, 2019

ISBN 9783827183569 , 416 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR


 

Kapitel 1

Die junge Frau schien sichtlich überfordert. Die Menschenmenge, die sich vor dem Backsteinkomplex im Hamburger Luisenweg versammelt hatte, brüllte laut und unverständlich durcheinander. Fenster des mehrstöckigen Hauses öffneten sich; Bewohner schauten argwöhnisch und verärgert heraus.

„Halt, Ruhe! So hört mir doch mal zu!“

Das Gesicht der dreißigjährigen Blondine bildete deutlich ihren erhöhten Blutdruck ab und die Worte entwichen ihr mit zittriger Stimme. Nur langsam beruhigte sich die aufgebrachte Menge. Die junge Mak­lerin wischte sich die Schweißtropfen von der Stirn und zählte kurz durch: Knapp fünfzig Personen hatten sich an diesem Nachmittag zur offenen Wohnungsbesichtigung, hier im Hamburger Stadtteil Hamm, versammelt.

„Gut ...“, begann sie, nachdem der Lärm der Anwesenden sich einigermaßen reduziert hatte, „... wir werden die 2-Zimmer-Wohnung im Parterre mit jeweils zehn Personen gleichzeitig besichtigen. Anschließend lasse ich die nächste Gruppe hinein. Stellen Sie sich hintereinander auf, dann ...“ Diese Aufforderung hätte die Frau tunlichst unterlassen sollen, denn wie aus dem Nichts wuchs das Gekreische wieder an. Hinzu kam ein Drücken und Schieben, sodass die Frau zu ihrem eigenen Schutz mit einem Schritt seitlich auf die Fahrbahn ausweichen musste.

„Jetzt gebt doch mal Ruhe, Leute – Schlange war angesagt!“

Die dunkle, markante Stimme kam von einem Mann mit grauem Haar und Zopf. Als sei er der Anführer der wilden Horde, verstummte diese, und wie auf Kommando war die interessierte Menge halbwegs diszipliniert bemüht, dem Wunsch der Frau vor dem Hauseingang zu entsprechen.

„Geht doch!“, grinste der Mann und machte mit der Hand einen einladenden Schwenker zur Maklerin.

„Vielen ... vielen Dank!“, stotterte diese und ihre rote Gesichtsfarbe nahm noch um eine Nuance zu.

Frau Sowereit war Angestellte einer Hamburger Wohnungsbaugenossenschaft und für die Vergabe von Mietwohnungen verantwortlich, doch in solchen Momenten wünschte sie sich ihr altes, überschaubares Leben als Bürokauffrau zurück.

EINER NACH DEM ANDEREN!

Vorsichtig spazierte sie seitlich an der Schlange vorbei. Sie entnahm ihrer Lederumhängetasche ein Schlüsselbund und schloss – noch immer argwöhnisch hinter sich blickend – die alte Haustür des Backsteinbaus auf. Jeden Moment erwartete sie lautes Indianergebrüll und das Vorbeibrechen einer Herde wild gewordener und sicher schmerzfreier Wohnungssuchender. Doch zu ihrer Verwunderung schien nun alles ruhig und gesittet abzulaufen.

Der bezopfte Grauhaarige stand ziemlich am Anfang der wartenden Mietinteressenten. Frau Sowereit registrierte es mit gewisser Erleichterung. Mut gefasst, betrat sie mit energischem Schritt den kühlen Hausflur. Es roch nach Kebab, nach Kreuzkümmel und Tomaten. Dazu kalter Zigarettenrauch und nach etwas Süßlichem. Sie vermochte nicht zu sagen, um was es sich handelte. Irgendein orientalisches Gewürz, vermutete sie. Auf jeden Fall wollte sie das Aroma nicht in ihrem Essen haben, ging es ihr durch den Kopf. Ihre Stimmung besserte sich. Sie redete sich den Umstand schön. Im Flur versperrten zwei riesige Kinderwagen widerrechtlich den Weg zum Kellerabgang.

Die freie Parterrewohnung lag links und die Maklerin atmete kurz durch: 52 Quadratmeter, 2 Zimmer, 590 Euro kalt. Wie so oft wunderte sie sich, dass es – trotz des hohen Preises – für solch kleine, kaum isolierte und fast 100 Jahre alte Wohnungen so viel Zuspruch gab. Aber in Hamburg war nichts unmöglich. Sie hatte schon Tiefgaragenstellplätze für 200 Euro vermittelt.

Die Frau steckte den Schlüssel in das Türschloss, immer bemüht, die ihr folgende Menschenschlange nicht aus den Augen zu verlieren. Die Wartenden schoben etwas und der Herr mit Zopf reagierte prompt mit einem Ruf: „Lasst doch das Gedränge. Jetzt wird’s eh noch nicht entschieden!“

Übertriebener Stolz packte Frau Sowereit und sie fühlte sich durch die Vermittlung des Mannes in ihrer eigentlichen Funktion etwas nach hinten geworfen. Sie ergänzte: „Alle Anwesenden werden die Wohnung besichtigen dürfen, das verspreche ich Ihnen. Anschließend verteile ich an die Interessierten die Anmeldebögen. Also, gleiches Recht für alle.“

In ihrem Rücken reagierten mehrere Personen auf ihre Aussage mit Gelächter. Einer schrie: „Als ob das etwas mit Recht zu tun hat!“ Andere stimmten dem ano­nymen Stänkerer lautstark zu.

Die Holztür öffnete sauber und sofort nahm Frau Sowereit wahr, nichts war wie sonst. Zögernd und mit Zurückhaltung betrat sie den kleinen Flur der Wohnung. Die Atemluft, die ihr entgegenschlug, empfand die Frau als extrem gewöhnungsbedürftig. Auch einige Fliegen schwirrten umher. Sicher mochte die Hitze der letzten Juli-Tage an all dem schuld sein. Ärger zog in ihr hoch, ihr Blutdruck stieg. Später würde sie mit dem Hausmeister Tacheles reden müssen und sicherstellen, dass leere Wohnungen – speziell im Sommer – von ihm regelmäßiger gelüftet wurden.

„Gott, wie stinkt das? Das Wohnen hier ist ja unzumutbar!“, rief jemand nah bei ihr. Die Maklerin kümmerte sich nicht darum.

Sabine Sowereit hob einen Arm und legte den Stoff ihrer dünnen Bluse unter ihre Nasenlöcher. So wurde der grässliche Geruch etwas gefiltert und sie bemühte sich, schnell in das Wohnzimmer zu gelangen. Ihr Ziel war es, baldigst ein Fenster zu öffnen. Die Atemluft wurde bei jedem Schritt unerträglicher und würgend und mit einer Art Tunnelblick stürzte die junge Frau die wenigen Schritte durch den Eingang zum Wohnzimmerfenster.

Die Anzahl der Fliegen war auf ein beachtliches Maß angestiegen. Sabine musste den Arm von der Nase nehmen, um einen vermeintlichen Angriff des Ungeziefers zu verhindern. Durch diese Wolke schwarzer Lebewesen registrierte sie seitlich auf dem Boden einen großen Gegenstand. Während ihre zweite Hand Richtung Fenstergriff glitt, wunderte sie sich darüber, dass die Wohnung doch nicht komplett leer geräumt war. Dann jagte ein markerschütternder Schrei große Mengen von Adrenalin durch ihren Körper.

„Da liegt eine ... Leiche!“, brüllte eine, wie es ihr schien, weibliche Stimme, und hinter Frau Sowereit wuchs ein Tumult an, gegen den das Geschiebe draußen ein Miniaufstand war. Im Nu war der Raum erfüllt von lärmenden Menschen, und die Frau bekam Angst, erdrückt zu werden. Die Atemluft, die Fliegen, dazu die verschlossenen Fenster verursachten bei ihr zusätzliche Beklemmung. Panik stieg hoch. Das Würgen trieb Reste des Mittagessens in Sabines Speiseröhre und ein Hustenanfall bahnte sich an. Noch das Wort „Leiche“ im Gehörgang, suchte sie nach der Antwort für diese fremde und abartige Situation. Ihr Blick fiel auf eine alte Matratze, die seitlich der Tür zum zweiten Raum auf dem Boden der Wohnung lag. Darauf befand sich ein Körper. Er schien nackt und war doch mit einer grauen, eher schwarzen Schicht bedeckt. Erst glaubte die Hobbysurferin an einen Neoprenanzug. Doch dafür war die Farbe nicht dunkel genug. Eher – so ging es ihr durch den Kopf – ähnelte es Ruß aus einem alten Ofenrohr. Der leblose Körper lag zusammengeschoben da wie ein Embryo. Er musste der Auslöser dieses Infernos sein.

DIE MINIMALITÄT IM RAUM GLICH EINEM KUNSTWERK.

Im ersten Moment dachte die Maklerin an einen Obdachlosen, der sich hier hineingeschlichen haben musste und verstorben war. Dann erst fielen ihr die kleinen Krabbeltiere um den Körper auf sowie ein riesiger, roter Fleck, der wie deplatziert hinter dem Körper die unansehnliche, graue Matratze etwas aufhübschte. Ihr Magen hatte ein Einsehen und sie erbrach sich.

Hustend wurde der jungen Frau klar, es war an ihr, nun etwas Entscheidendes zu tun – aber sie wusste absolut nicht, was. Die Hilflosigkeit trieb ihr den Schweiß in dicken Tropfen über den Körper, zugleich schoben sich immer mehr Wohnungssuchende – neugierig geworden – von draußen in das kleine Parterre. Der Raum war inzwischen überfüllt wie ein gut besuchtes Rockkonzert.

Schreiend, stöhnend, würgend, drückten sich Personen gegen den Körper der Maklerin und schoben sie immer näher zu dem, was dort lag und was ihr selbst den Tag verdorben hatte. Dazwischen wurden vermehrt Hilferufe laut.

„Ist das abartig, ein Toter!“

„Hier werde ich sicher nicht einziehen!“

„Holt endlich die Polizei!“

„Igitt!“

Und wieder war es der ältere Herr mit dem Zopf, der Sabine Sowereit aus der Patsche half. Er hielt sich den Stoff seines Shirts vor die Nase, ein weißer Schwabbelbauch wuchs darunter hervor.

„Hier ist ein Verbrechen geschehen. Hört endlich auf zu fotografieren, seid ihr noch ganz bei Trost?“ Böse geworden, schlug er einem jungen Mann ganz vorne das Smartphone aus der hochgestreckten Hand. Es entglitt dem Typen und blieb irgendwo in der dichten Menge stecken. Der Besitzer reagierte auf den Verlust des Handys mit dem Versuch, dem Mann ins Gesicht zu schlagen. Nur die Enge des Mobs verhinderte das.

Frau Sowereit erwartete eine Schlägerei, aber irgendwie schaffte es der Mann, alle Anwesenden nach draußen zu schieben. Laut brüllend und mit roher Gewalt schloss er nach einer gefühlten unendlichen Zeit die Tür von innen. Schnellen Schrittes kehrte er zurück und riss beide Fenster auf. Der spärlich eindringende Sauerstoff brachte langsam Linderung. Würgend schnappte die Frau nach Luft. Als Sabine Sowereit glaubte, mit dem Mann und der Person am Boden alleine zu sein, rannte noch ein junges Paar aus dem angrenzenden Badezimmer. Sie schauten entschuldigend, machten schnell ein Handyfoto von der Leiche auf der Matratze und verließen...