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Todfracht - Historischer Kriminalroman

Derek Meister

 

Verlag Blanvalet, 2009

ISBN 9783641027629 , 400 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

Lübeck, April anno 1393

Einundvierzig... zweiundvierzig... dreiundvierzig... vierundvierzig ... fünfund ... -
'Du musst auch reingehen. So bringt das gar nichts', drang Mareks Ruf zu ihm ans Ufer der Trave. 'Nur ein Ratschlag. Von Wasserratte zu Landratte, mein ich.'
Die Worte seines Freundes rissen Rungholt aus seinen Grübeleien und zurück in diese Welt.
Der Abend hatte sich bereits über Lübeck gesenkt. Die letzten Hafenarbeiter waren heimgegangen, und die Holzkräne hingen verlassen über den Schiffen. Ein paar Prahme dümpelten an einem Kai und knarzten, wenn ihre Holzrücken aneinanderrieben. Ansonsten hatte sich Stille über den Hafen gelegt. Hier, wo die Holzmolen aufhörten, fiel das Ufer nicht so steil zum Wasser hin ab, und die beiden konnten ohne Schwierigkeiten in die Trave waten.
Mürrisch schlug Rungholt die Augen auf und starrte auf den Fluss, der sich grau und kalt vor ihm dahinwälzte. 'Verdammt noch eins, Marek! Verflucht', schnaubte er und spürte, wie ihm beim Anblick des Wassers schlagartig unwohl wurde. 'Ich muss nachdenken. Lass mich doch nachdenken, bevor ich da reingehe!'
'Was gibt's da zu denken, hm? Du musst es nur tun, sag ich dir.'
Mit gelüpftem Tappert und hochgekrempelten Beinlingen, stand Rungholt seit der Vesper wie ein junges Waschweib am Ufer und rührte sich nicht. Er verharrte reglos und zählte sinnlos immer wieder seine Atemzüge.
Maulend wandte er sich zu seinem Freund um. 'Ich versuche hier, meine Gedanken zu ordnen, und du brüllst mir dazwischen.'
'Ich hab nicht gebrüllt, ich hab nur das Warten satt. Also wirklich mal.' Mit verschränkten Armen stand der muskulöse Kapitän da, zog seine buschigen Brauen zusammen und beobachtete Rungholt skeptisch.
'So etwas braucht Zeit', meinte Rungholt und wich einen Schritt vor dem Fluss zurück, dessen grässliches Rauschen er mit Abzählen zu bändigen versucht hatte. 'Gib mir noch einen Augenblick.'
'Seitdem ich dich kenne, versuchst du deinen Frieden mit dem Wasser zu machen. Nennst du das einen Augenblick?'
Rungholt brummte, wie er es gerne tat, wenn ihm etwas nicht passte. Er wandte sich noch einmal zur Trave um und starrte auf das funkelnde Wasser, in dem sich der Fackelschein und die ersten Sterne spiegelten. Er sah dem Fluß zu und dachte: Ja, Marek. Genau das sind all die Jahre. Einunddreißig Jahre nur ein Augenblick. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er das Wasser geliebt, das stete Rauschen und Anbranden der Wellen, das ihn und seine kleine Schwester in den Schlaf gesungen hatte, doch bei der Groten Mandränke hatte das Meer sein Leben gestohlen.
Im Jahre des Herren, anno 1362, wurde das Wasser Rungholts Feind. Er war dreizehn Jahre alt, und das Meer wurde zu einem gefräßigen Ungeheuer, das ihm alles nahm. Seine Heimat und seine Familie.
Rungholt blinzelte in den dunklen Strom der Trave, um die Bilder seiner Erinnerung zu verscheuchen. Die zuschnappenden Wellen, die die Häuser Rungholts verschlungen, die erst seine Schwester, dann Mutter, dann Vater mit sich gerissen hatten. Hinabgezogen hatten in den unersättlichen Schlund des Meeres.
Es wird Zeit, die Augen zu öffnen, beschwor er sich. Es wird Zeit. Tu es endlich. Es ist nur ein Fluss. Das Wasser ist eiskalt, du wirst die Nässe nicht spüren. Deine Füße werden taub sein, bevor du knöcheltief in den Wellen stehst. Trau dich. Es wird dich nicht verschlingen.
Als der Kapitän abermals zu einem Ratschlag ansetzte, stoppte Rungholt seinen Freund Marek mit einer entschlossenen Geste. Mit einem Ruck raffte er seinen Tappert noch höher und griff fest in den weichen Stoff. Dann atmete er mehrmals durch.
Obwohl es erst April war, hatte sich Rungholt entschlossen, endlich seine Wasserangst zu besiegen. Nachdem er im Sommer letzten Jahres aus München zurückgekehrt war, war in ihm mehr und mehr der Entschluss gereift, endlich die alten Fesseln seines Lebens abzustreifen. Den komplizierten Seemannsknoten, der sich über die Jahre selbst so fest gezogen hatte, dass niemand ihn mehr zu öffnen, zu zerschlagen vermochte. Ein erster Versuch, mit sich ins Reine zu kommen und die Absolution zu erhalten, war in München letztes Jahr gescheitert. Er hatte seine Blutsünden nicht erlassen, die Tage im Fegefeuer nicht verkürzt bekommen. Dennoch war er gestärkt nach Lübeck heimgekehrt und fühlte sich nun -gut sechs Monate später - bereit, sich seiner Angst und seiner Schuld zu stellen. Wenn er die Wasserangst besiegte, so glaubte Rungholt fest, würde er auch Irena für immer hinter sich lassen und ein ruhigeres und erfüllteres Leben führen.
Zu dumm nur, dass er sich niemals weiter als zwei, drei Fuß in die Trave getraut hatte. Die letzten Versuche waren stets genauso gescheitert wie dieser: Er versuchte sich zu konzentrieren, und sein Kapitän gab ihm weibische Ratschläge, mit denen er nichts anfangen konnte. Trau dich. Es ist nur ein Fluss ...
Rungholt starrte auf das Wasser und sah, wie es glitzerte. Ihm wurde schwindelig, weil er sich selbst zu bewegen meinte, obwohl er stillstand.
'Du musst immer dran denken, dass .'
'Maul, Marek. Maul halten', grummelte er. 'Einmal die Schnauze zu. Lass mich machen.' Langsam setzte Rungholt seinen fassartigen Körper in Bewegung, konnte die letzten Feldsteine unter seinen nackten Füßen spüren, dann ein Stück feuchte Erde, und das Ufer fiel ab.
Erst vor drei Tagen war er hier ins Wasser gegangen - aber nur einen Wimpernschlag und nur eine Armlänge weit hinein. Diesmal wollte er bis zu den Knien ins Nass. Mindestens.
Ein weiterer Schritt und er spürte die Kälte über seine Zehen schwappen, fühlte das Eiswasser, als seine fleischigen Füße endgültig in die Trave tauchten. Er spürte sogar den Sog des Flusses an den Knöcheln, bevor sie von der Kälte taub wurden. Die Drift, mit der der Fluss alles und jeden mitzureißen versuchte, die jeden hinausriss, hinaus aufs offene Meer und .
Benimm dich nicht so weibisch, du Döskopp, schalt er sich. Du bist wirklich der einzige Kaufmann Lübecks, der sich in die Bruche pisst, wenn er ans Meer denkt. Komm schon, deine Angst macht dich zum Gespött. Kämpfe endlich dagegen an.
Ein nächster Schritt, seine Zehen tasteten sich im eisigen Wasser vor. Er wollte prüfen, wie tief er schon im Fluss stand, konnte wegen seines ausladenden Bauchs aber seine Füße nicht sehen. Langsam beugte er sich vor und hörte neben sich Marek, der gutgelaunt - ohne seine Schecke hochzuraffen - geradewegs an Rungholt vorbei ins Wasser stakste. Als sei die Trave ein Feld voller wohlriechender Blumen, schritt der Kapitän aus, schlug Wellen und fuchtelte lustig mit den Armen herum. Seine Lederstiefel hatte er am Ufer ausgezogen, nur seine bunten Beinlinge trug er noch.
'Siehst du, ist doch nichts dabei, Rungholt. Bloß Wasser.'
Eine von Mareks Wellen schwappte an Rungholts Bein, und er musste augenblicklich an kalte Hände denken, die nach ihm griffen. Die Hände einer Toten? Ihm wurde schlecht. 'Wenn du die Wasserangst hättest, wärst du wohl auch kaum mein Kapitän', maulte er und nahm den Blick hoch und sah hinüber auf Lüdjes Lastadie, um ja nicht weiter in dieses schwarze Nass zu starren. Wie Gerippe staksten die halbfertigen Koggen in den schwarzblauen Abendhimmel.