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Zweimaltot

Beat Glogger

 

Verlag Friedrich Reinhardt Verlag, 2019

ISBN 9783724523581 , 280 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz DRM

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14,99 EUR


 

1


Das dumpfe Krachen hallt lange nach. Draußen auf dem Flur – und drinnen in meinem Kopf. Ich starre auf die Tür aus grauem Stahl und höre das Surren der Schließanlage.

Zeit vergeht. Ich tue nichts, denke nichts. Schließlich nehme ich Maß, mache einen Schritt auf die Tür zu – und trete mit aller Kraft dagegen. »Lasst mich raus!« Nochmal, volle Wucht. »Scheißkerle!«

Stille.

Ich mustere das Grau der Tür. Der Abdruck der groben Profilsohle meines Springerstiefels ist deutlich zu sehen. Darunter und daneben weitere Abdrücke verzweifelter Tritte. Grobe, feine, deutliche, verwischte. In der Scheibe des Guckfensters spiegelt sich mein Gesicht. Das Haar ist zerzaust, die Schminke verschmiert. Ich wende mich ab.

Da ist ein Stuhl, ein Tisch, beide am Boden festgeschraubt. Ein Bett aus Beton gegossen, in der Ecke eine Toilette ohne Deckel. Wie lange wollen die mich hier festhalten? Hat es mir jemand gesagt? Vielleicht der Beamte, der irgendeinen Gesetzesartikel zitierend »Tina Benz, wohnhaft in Zürich« in Untersuchungshaft gesetzt hat?

»Ich will sofort meinen Anwalt sprechen«, habe ich protestiert – als hätte ich einen Anwalt.

»So läuft das nur im Krimi«, sagte der Mann, während er den schmalen Aktenordner schloss.

Jetzt Stille um mich herum. Wenn ich mein Gehör anstrenge, ist irgendwo weit weg ein Hämmern wahrzunehmen. Ein Klopfen. Meine Knie beginnen zu zittern. Was ist passiert? Wie komme ich hierher? Ich kann mich nicht erinnern. Und das beunruhigt mich fast noch mehr als die Tatsache, dass ich in einer Zelle sitze.

Die Ereignisse sind an mir vorbeigezogen wie ein zu schnell laufender Film mit Kratzern und Rissen. Ich bringe die Szenen nicht zusammen – zu nichts, das Sinn ergibt. Ich treibe mitten in einem Strudel und habe doch das Gefühl, es hätte alles nichts mit mir zu tun.

Jetzt zittert auch meine Unterlippe. Ich beiße fest darauf. Sie zittert weiter. Ich kenne das. So kündigt es sich immer an, bevor es aus mir herausbricht. Jetzt nur keine Panik! Durchatmen. Das Zittern hält an.

Ein Stuhl, ein Tisch, ein Bett. Erst jetzt sehe ich das Buch, das auf dem Tisch liegt. Ich nehme es in die Hand. Eine Bibel. »Was zum Teufel …« Ich schmettere das Buch an die Wand. Wollen die mich hier etwa bekehren? Ein Gesetzesbuch würde mir mehr nützen. Eine Strafprozessordnung oder wie auch immer das Ding heißt. Damit hätte ich wenigstens herausfinden können, wie ich hier wieder rauskomme. Ich trete mit dem Fuß gegen die zerfledderte Bibel, sodass sie quer durch den Raum schliddert, bis zur Toilette ohne Deckel. Dann werfe ich mich auf das Bett. Es ist schmal und hart. Mein ganzer Körper zittert jetzt. »Lasst mich raus!« Tränen schießen mir in die Augen. »Frank!«

Mein Körper krümmt sich, ich winde mich vor Schmerz. Die Tränen laufen mir über das Gesicht. Ein Wimmern und Winseln dringt aus meinem Mund. Dann sehe ich plötzlich seine Augen. Diese Augen, die weit aufgerissen ins Leere stieren, als wäre er tot. Ich sehe ihn, wie er da liegt auf dem Kopfsteinpflaster. Ich sehe mich, wie ich ihn anschreie: »Frank!« Wie ich seinen Puls suche, mein Ohr vor seinen offenstehenden Mund halte, um den Atem zu spüren. Und wieder diese Augen, die mich nicht ansehen, sondern durch mich hindurch.

»Frau Benz?«

Ich fahre zusammen. Es ist nicht Franks Stimme, sondern die einer Frau. »Frau Benz, sind Sie okay?«

Ich habe die Frau nicht kommen hören und auch nicht gesehen. Sie beugt sich über mich. Sie ist jung, blond, mit Pferdeschwanz. Ihre Hand liegt auf meiner linken Schulter. An ihrem Gürtel hängt ein Paar Handschellen.

»Was ist mit Frank?«, frage ich, während ich mir die Augen trockenwische.

»Ich weiß es nicht«, sagt die Polizistin überraschend freundlich. »Ich bringe Sie jetzt zum Untersuchungsrichter, der hat ein paar Fragen.«

Ich rappele mich auf. Sie fasst mich am Ellbogen – nicht hart, aber bestimmt – und schiebt mich in Richtung Tür. Auf dem Korridor stolpere ich, doch die Polizistin fängt mich auf, bevor ich falle. Ich sehe auf meine Stiefel. »Wo sind meine Schnürsenkel?«

»Eine Vorsichtsmaßnahme«, sagt die Polizistin und blickt mich ernst an. »Sie waren wirklich sehr, sehr aufgebracht.«

»Wie viel Uhr ist es?«, frage ich.

»Fünf«, sagt die Polizistin.

Ich versuche zu rekonstruieren: Das mit Frank war in der Nacht. Wann sie mich hierhergebracht haben, kann ich nicht sagen.

»Fünf?«, frage ich.

»Nachmittags«, sagt sie und räuspert sich. »Sie sind bereits den zweiten Tag hier.«

Ich starre sie an. »Das heißt, ich habe … wie lange geschlafen?«

»Sie waren zwischendurch schon mal wach«, sagt die Polizistin. »Wir haben Ihnen etwas gegeben, damit Sie sich entspannen.« Sie schiebt mich weiter. »Etwas gegeben«, höre ich mein Echo. Die haben mich außer Gefecht gesetzt. Das bedeutet, ich bin schon einen Tag, eine Nacht und noch mal fast einen Tag hier. Und weiß noch nicht mal, warum.

»Was ist mit Frank?«, frage ich den Mann, in dessen Büro die Polizistin mich führt.

»Landis«, sagt der Mann. »Untersuchungsrichter.«

Ein bleicher Mittfünfziger in einem schmucklosen Raum. Ein riesiger Schreibtisch, davor zwei Stühle.

»Setzen Sie sich«, sagt er und wartet, bis ich seiner Aufforderung Folge leiste. Dann sagt er: »Professor Stern hat … überlebt.«

»Überlebt.« Ich entspanne mich. Begreife aber gleichzeitig, dass das nicht die Antwort auf meine Frage war. »Wie geht es ihm?«

Der Untersuchungsrichter rückt einen Stapel Papiere auf dem Schreibtisch zurecht. »Er befindet sich auf der Intensivstation des Universitätsspitals«, sagt er. »Frau Benz, was haben Sie vorgestern gemacht?«

»Bitte«, sage ich. »Wie geht es ihm?« Landis richtet den Papierstapel exakt an der Tischkante aus. »Das kann ich Ihnen nicht sagen.«

Das Zittern kommt wieder. In den Händen, in der Lippe.

»Meine Aufgabe ist, den Tathergang zu rekonstruieren. Beziehungsweise Zeugen und Verdächtige zu vernehmen.«

»Verdächtige«, höre ich meine raue Stimme wieder wie ein Echo. »Ich bin …«

»Das werden wir sehen.« Landis mustert mich von oben bis unten. »Immerhin haben wir Sie am Tatort aufgegriffen.«

»Ich habe Frank gefunden!«

»Sie haben getobt wie eine Wahnsinnige«, sagt Landis. »Und einen Polizeibeamten tätlich angegriffen.«

Ich kann mich nicht erinnern.

Der Untersuchungsrichter beugt sich vor. »Frau Benz, warum waren Sie am Tatort?«

Ich schlucke. »Ich wollte zur Arbeit.«

»Mitten in der Nacht?«

»Frank – Professor Stern hat mich darum gebeten.«

»Ich wiederhole: Mitten in der Nacht?«

»Wir waren … wir sind extrem unter Druck.«

Der Untersuchungsrichter wartet. »Druck?«

»Eine Publikation in Science steht an, und eine Medienkonferenz, wo wir unsere bahnbrechenden Resultate der Öffentlichkeit präsentieren wollen.«

»Woran forschen Sie?«

»Am Brain-Machine-Interface.«

Seinem Blick entnehme ich, dass er damit nichts anfangen kann.

»Es geht um die Anbindung von Elektronik an das Gehirn und das Nervensystem des Menschen«, erläutere ich.

»Wozu das?«

»Wir entwickeln neurokognitive Prothesen.«

Der Untersuchungsrichter hebt fragend eine Augenbraue.

»Das sind Prothesen, die der Patient allein mit den Gedanken steuern kann und mit denen er auch fühlen kann.«

»Okay«, sagt er. »Ich werde mich darüber informieren.« Er rückt den Papierstapel wieder fünf Zentimeter von der Tischkante weg. »Also nochmal: Warum waren Sie am Tatort? Was haben Sie dort gemacht? Was haben Sie den ganzen Tag zuvor gemacht? Möglichst detailliert, bitte.«

Ich versuche, mich zu erinnern. Was hat mein Gedächtnis derart durcheinandergebracht? Ich hole tief Luft. »Bis Mittag habe ich geschlafen.« In dem Moment fällt mir ein, dass ich den Postboten unten auf der Straße gesehen habe. Der kommt immer etwa um elf. »Nein, bis etwa elf Uhr«, korrigiere ich.

»Schlafen Sie immer so lange?«, fragt...