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Der Stotterer

Charles Lewinsky

 

Verlag Diogenes, 2019

ISBN 9783257609578 , 416 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR


 

Für den Padre


Entwarnung, Padre. Falscher Alarm. Tut mir leid, wenn Sie sich meinetwegen Sorgen gemacht haben sollten. Alles hat eine harmlose Erklärung gefunden.

Unglaub‌lich, wie sich hier im Haus absurde Gerüchte verbreiten! Weil ich die Regale ausgeräumt hatte, um die Bücher vernünftiger zu ordnen, ging die Latrinenparole um, die Bibliothek sei gar nicht geöffnet. Nur deshalb ist die ganze Zeit niemand gekommen. Und dass sich keiner zu mir setzen wollte, hatte einen ebenso einfachen wie unappetit‌lichen Grund: Mundgeruch. Kein Wunder, dass Ambros es vorzog, sich nicht mehr mit mir zu unterhalten. Der Idiot hatte Hemmungen, mir einfach zu sagen, was ihn störte. Irgendwann ist er dann doch damit herausgerückt. Ich habe mir jetzt im Gefängnisladen einen Mundspray besorgt, zwei Euro sechsunddreißig, und alles ist okay. Wäre es nicht schön, wenn sich alle Probleme dieser Welt so einfach lösen ließen? (Wenn ich einen Computer zur Verfügung hätte, würde hier ein Emoji stehen. Oder zwei: ein lächelndes und ein erleichtertes.)

So, jetzt aber zurück zu dem, was Sie wirk‌lich interessiert: Geschichten. Das nächste Kapitel aus dem Leben eines Taugenichts. Diesmal eine Episode mit rätselhaftem Ende. Man könnte fast sagen: eine Episode, die mit einem Wunder endet. Sie werden sehen.

Ich war damals Anfang zwanzig und hatte von der Welt noch nicht viel mitbekommen. So unerfahren war ich, dass ich ernsthaft glaubte, vom Bafög allein in Berlin leben zu können. Der Auszug von zu Hause war eine Flucht gewesen, ein kleiner Koffer und ein großer Packen väter‌licher Verwünschungen. Als Studienfach hatte ich mir Germanistik ausgesucht, in der naiven Vorstel‌lung, in den Seminaren würde man gemeinsam tief in die Meisterwerke der Literatur eintauchen. Kleinstadtillusionen. Texte, so brachte man uns bei, waren Objekte, die wir so lang zu sezieren hatten, bis ihre zerschnipselten Gliedmaßen in die vorgegebenen Analysegefäße passten. Wobei unsere Tutoren sich vor allem für die korrekte Gestaltung von Fußnoten interessierten. DIN 5008, in Deutschland gibt es für alles eine Norm. Nachdem ich schon unliebsam aufgefallen war, weil ich bei jeder Arbeit jemanden finden musste, der mein Referat in der Gruppe vorlas, wurde ich endgültig akademisch exkommuniziert, als ich die Todsünde aller Todsünden beging: Ich schrieb doch tatsäch‌lich über ein Buch, es habe mir gefallen. Gefallen! Bücher zum Vergnügen lesen statt als Objekte der Dekonstruktion? Apage, unwissenschaft‌licher Satanas! Heiliger Derrida, beschütze uns! Kein Bachofen hätte mich donnernder aus der Gemeinschaft der Rechtgläubigen ausschließen können. Wir trennten uns in gegenseitigem Nichteinvernehmen.

Die Suche nach einem Brötchenjob gestaltete sich schwierig. Akkordlaberer für Callcenter und Bierschlepper für Kneipen wurden jede Menge gesucht, aber um sich mit einem dieser Traumjobs die Miete zu verdienen, hätte man in der Lage sein müssen, einen Satz zu Ende zu bringen, ohne bei jeder zweiten Silbe einen Pit Stop einzulegen. Zwei Wochen lang kratzte ich in der Küche eines Edelrestaurants angebrannte Pfannen sauber, mit denen musste man sich wenigstens nicht unterhalten. Bis ich dann auf diese Anzeige stieß, die mein Leben verändern sollte. Sie mit Ihrer rosaroten Theologenbrille würden es wohl Fügung nennen. Ich halte mich lieber an Schopenhauer: »Das Schicksal mischt die Karten, und wir spielen.« Ich habe gut gespielt.

Heute ist diese Branche längst Mainstream geworden. Im Netz existieren Unmengen von Webseiten, auf denen Männlein zu Weiblein, Weiblein zu Männlein und Menschlein in allen mög‌lichen Kombinationen zu Menschlein finden. Damals war das etwas Neues und sanft Verruchtes. »Find’t seinen Deckel jeder Topf« hätte als Motto über unserem Angebot stehen können, und so ähn‌lich, nur weniger shakespearisch, lautete das Versprechen in unseren Anzeigen. Das Problem war nur: Es gab bedeutend mehr Töpfe als passende Deckel. Unter unserer Kundschaft waren Frauen Mangelware, und wenn sich diese Tatsache herumgesprochen hätte, wäre das für den Umsatz nicht förder‌lich gewesen. Man geht nicht zum Ball der einsamen Herzen, um dort mit anderen Männern zu tanzen. Aber ein wahrhaft dynamisches Unternehmen findet immer einen Weg, die Wünsche seiner Kundschaft zu erfüllen. Wenn Inge, Luise, Alexandra und Michelle gewünscht waren, dann wurden eben Inge, Luise, Alexandra und Michelle geliefert. Damals, im Dial-up-Zeitalter, waren die Textbotschaften, die da hin- und hergingen, das höchste der Gefühle, und im Verfassen solcher Botschaften war ich ein Naturtalent. Mundus vult decipi, darum bin ich hier.

Betrug? Man kann es so nennen, Padre. Kundenpflege ist ein viel schöneres Wort.

Wir waren zu dritt, Sebastian, Karlheinz und ich. Sebi war der Computerfachmann und hatte das System eingerichtet. Er versuchte ständig, sich das Rauchen abzugewöhnen, sprach von nichts anderem und war imstande, uns zwischen zwei Lungenzügen zu erklären, er könne schon ganz deut‌lich spüren, wie die Akupunkturbehand‌lung bei diesem Chinesen anfange, ihre Wirkung zu tun, weshalb er sich seine allerletzten Zigaretten nur noch päckchen- und nicht mehr stangenweise gekauft habe. Karlheinz war ein einstmals berufsstolzer Schriftsetzer, den man auf Fotosatz und später auf digitalen Schriftsatz umgeschult hatte und der immer noch von den guten alten Zeiten schwärmte, in denen man in seinem Beruf nicht Sklave einer Maschine gewesen sei.

Unterdessen bin ich selber ein Dinosaurier und quatsche von den Zeiten, als alles viel besser war. Aber es war tatsäch‌lich besser! Wenn ich einen Kunden mit einer nicht existenten Gesprächspartnerin verarschte, dann tat ich das noch persön‌lich. Individuell. Heute zieht ihm ein seelenloser Algorithmus das Geld aus der Tasche.

Sie werden das nicht verstehen, Padre, aber auch ein Trickbetrüger hat seinen Berufsstolz. Confidence artist heißt es im Eng‌lischen. Zu Deutsch: Vertrauenskünstler. Mit Betonung auf Künstler. Es war eine anspruchsvolle, kreative Tätigkeit, vor allem, wenn man sich vorgenommen hatte, sie gut zu machen, seine Gesprächspartner nach Maß zu bescheißen und nicht einfach ausgelutschte Phrasen in die Tastatur zu hacken. (Wenn ich an die Technologie denke, mit der wir damals zugange waren, komme ich mir endgültig uralt vor. IBM-Aptiva-Computer mit Windows 95. Gerade, dass wir nicht mehr mit Federkiel und Streusand arbeiteten.)

Damit Sie jetzt nicht auf falsche Gedanken kommen, Padre: Wir bedienten unsere Kunden nicht mit pornographischen Phantasien. Das hätte mich nicht gestört, aber es war nicht unser Job. Dafür waren die Mitarbeiterinnen im Büro nebenan zuständig, vier nicht mehr junge Damen, die sich dort durch verbale Exzesse für die Ereignislosigkeit ihres Alltags entschädigten. Nein, was ich zu liefern hatte, waren Hoffnungen, ungedeckte Schecks auf eine Zukunft der erfüllten Wünsche. Im Grunde etwas Ähn‌liches wie die gefälschten Liebesbriefe an Nils, nur mit einem sehr viel höheren Schwierigkeitsgrad. Aus Halma war Schach geworden, eine permanente Simultanpartie. Nach zehn Uhr abends, wenn bei den Männern der Hormonspiegel parallel zu ihrer Einsamkeit anstieg, musste man manchmal ein halbes Dutzend Konversationen gleichzeitig führen.

Jede der Frauen, als die ich mich ausgab, hatte ihren eigenen Charakter, etwas anderes hätte mein Berufsstolz nicht zugelassen. Inge war aus Schüchternheit schnippisch, Luise machte auf kleines Mädchen, Alexandra hatte etwas von einer Domina und so weiter und so fort. Ich hatte mir meinen privaten Harem so detailliert ausgedacht, dass ich das Gefühl hatte, ich würde jede von ihnen erkennen, wenn sie mir auf der Straße begegnete. Sie haben mir schriftstellerisches Talent attestiert, Padre. Damals habe ich zum ersten Mal meine Brötchen damit verdient.

Ich weiß nicht, wie das Geschäft heute organisiert ist; zu meiner Zeit war es so, dass die Höhe unserer Einkünfte durch die Länge der Gespräche bestimmt wurde. (Das Wort Chat war damals noch nicht üb‌lich.) Es ging also darum, sich in den verbalen Eiertänzen so verführerisch zu präsentieren, dass der Mann am anderen Ende der Leitung vergaß, was ihn jede Minute kostete. Oder das Geld gern investierte. »Was du wirst von mir bitten, will ich dir geben, bis an die Hälfte meines Königreiches.« Das Problem war nur: Irgendwann war Salomes siebenter Schleier abgelegt, und die Kunden wollten von ihrer Investition end‌lich etwas haben, am liebsten in jener Währung, die sich nicht verändert hat, seit Adam zum ersten Mal auf Eva stieg.

Doch leider, leider hatte Inge immer genau dann einen anderen Partner gefunden, Luise war nach Australien verzogen und Alexandra unheilbar erkrankt. Unsere Aufgabe – das war hohe Schule, glauben Sie mir! – bestand dann darin, den enttäuschten Liebhaber mög‌lichst schnell auf eine andere Dulcinea umzupolen, und so den verbalen Balztanz in Gang zu halten, begleitet von noch süßeren Harfenklängen, noch zärt‌licherem Violingesäusel und dem leisen Klingeln der Ladenkasse.

In diesen Umtopf-Aktionen war ich Meister aller Klassen. Nur einmal ging das Ganze schief, und das ist eben die Geschichte, die ich Ihnen erzählen will.

 

Die ich Ihnen in der nächsten Lieferung erzählen werde. Bevor hier das Licht ausgeht, muss ich Ambros noch bei einem riesigen Problem helfen. Ihm fällt keine europäische Hauptstadt mit sechs Buchstaben ein, die mit...