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Bella Ciao

Raffaella Romagnolo

 

Verlag Diogenes, 2019

ISBN 9783257609554 , 528 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

BORGO DI DENTRO
6MÄRZ 1946


Erstes Kapitel


Die Vergangenheit gibt es nicht, denkt Mrs. Giulia Masca vor dem verrammelten Palazzo Reale. Dasselbe hatte sie gedacht, als sie sich nach dem Verlassen ihrer Kabine auf dem Erste-Klasse-Deck unvermittelt in der Umarmung des weitläufigen, unübersicht‌lichen Hafens von Genua wiederfand, weiß von Licht und schwarz von Ruß.

Lieber nicht auf das Gedächtnis bauen, es hatte schon den Weg von der Stadt ins Dorf ganz falsch in Erinnerung: die Mole, die Gebäude, die Straße, die die Hügel hinauf‌führt, die Höhenlinie, das schwammige Grün der Kastanien, die schiefen Rebenreihen, dann die düstere Silhouette von Borgo di Dentro, die Gasse, den Geruch und nun auch das Tor.

Zwar sind die Dinge dieselben, als hätte die Zeit sich nicht die Mühe gemacht, in dieser Gegend hier vorbeizu-kommen. Neu und überraschend ist eher die Beschaffenheit der Wirk‌lichkeit. Leichter? Und auch die Dimensionen: Mrs. Giulia Mascas Meinung nach müsste das Tor des Palazzo Reale größer sein. Viel größer. Das könnte sie schwören bei ihrem Sohn Michael, der am Ende der Straße wartet, zusammen mit dem Chauffeur, der sie am Schiff abgeholt hat und ein Schild hochhielt, auf dem stand: LIBEROS GOCERI. Banausen. Ungebildete italienische Analphabeten. Libero’s Grocery! heißt es richtig! Nicht einmal vom Briefkopf abschreiben können sie!

Sie ballt die behandschuhten Hände zur Faust und blickt hinauf, über die Hutkrempe hinaus. Sie sucht nach einem Zeichen. Wohnt da noch jemand? Winzige, tief‌liegende Fensterchen, ärm‌lich, bau-fällig sieht es aus. Mit den Jahren ist sie leicht ge-schrumpft, daher müsste ihr alles riesig vorkommen. Schon seit fünfundvierzig Jahren bereitet sie sich auf diesen Mo-ment vor. Da: die abgebröckelten Stellen rund um die Tor-angeln, die Diamantquader, die Kratzspuren von Hunden, die Nagespuren von Holzwurm und Mäusen – sie erinnert sich daran und erkennt sie doch nicht. Sind es noch dieselben?

Eigentlich darf sie nicht trödeln, Michael muss zur Abendessenszeit in Mailand sein: Das sind von hier aus noch über zweihundert Kilometer auf schlimm zugerichteten Straßen. Sie haben den Krieg ja nur in der Zeitung verfolgt, aber durch die Scheiben des Aprilia hat sie sich schon ei-nen Eindruck verschaffen können und weiß deshalb, dass die Reise ihres Sohnes kein Honigschlecken sein wird.

Sie selbst wird sich hier ein Hotel für die Nacht suchen – es gab damals eins, da ist sie sicher –, doch davor wollte sie noch mit Michael am Palazzo Reale vorbeischauen. Aus Nostalgie. So ist das im Alter. Und dann wunderte sie sich über dieses … Nichts. Was hatte sie erwartet? Dass sie ein Willkommenstransparent vorfinden würde? Eine Kapelle und Majoretten? Oder sollte sie vielleicht hineingehen und die neuen Mieter ansprechen: Entschuldigen Sie, ich habe mal hier gewohnt, bin sogar hier geboren, im ersten Stock, auf dem alten Holztisch, darf ich hereinkommen? Ist die Maisstrohmatratze noch da?

Würde sie, Mrs. Giulia Masca aus der Mulberry Street, überhaupt noch darauf schlafen können?

In der ersten Grundschulklasse ließ sie der Lehrer im Chor wiederholen: Borgo di Dentro erhebt sich / auf einem Felsensporn / der liegt im Zusammenfluss / der Wildbäche Orba und Stura / auf hundertsiebenundneunzig Meter / über dem Meeresspiegel. Das Kind Giulia hatte keine Ahnung, was ein Sporn oder ein Zusammenfluss waren, jedenfalls hat sie nie mehr einen solchen Ort gesehen. Eine Handvoll Häuser, und darunter Wasser. Grün‌liche, übelriechende Pfützen im Sommer, Strudel im Herbst und Frühling, Eis im Winter, Wasser überall. Nicht genug, um ein Boot zu nehmen und zu verschwinden, ausreichend, um die Dämme und Fundamente zu zerfressen. Warum sollte man an so einem Ort sein Leben verbringen?

Will man Borgo di Dentro verlassen, gibt es nur zwei Mög‌lichkeiten. Die erste im Norden: von der Piazza unter dem Felsensporn aus führen Brücken über die zwei Wildbäche, die vor dem Zusammenfluss wie offene Arme aussehen. Hier musste einmal ein Schloss gestanden haben, da der Platz Piazza Castello heißt, doch Mrs. Giulia Masca vermutet, dass der Zusammenfluss es irgendwann verschluckt hat. Sie erinnert sich jedenfalls nicht an Türmchen oder zinnenbewehrte Mauern, sondern nur an die Straßenbahnhaltestelle. In der Tat kann man auf der Piazza Castello in die Straßenbahn steigen und über die erste Brücke abhauen, die die Stura überquert. Oder die andere Brücke nehmen über die Orba. Doch das ist, als machte man sich durch die Hintertür davon, nichts Heldenhaftes. Sogar sie Brücken zu nennen fällt ihr schwer. Brooklyn Bridge, das ist eine Brücke. Oder die Queensboro, die Williamsburg Bridge.

Die zweite Mög‌lichkeit ist, sich nach Süden zu wenden. Das hat sie vor fünfundvierzig Jahren getan: An einem Februarmorgen hat sie Borgo di Dentro den Rücken gekehrt, ist durch die Neustadt und dann die Hügel hinauf losgelaufen. Aber ein Ort, dessen Hauptfluchtweg über ein Gebirge führt, hat etwas Verschlossenes und Finsteres an sich.

Entlang der zwei Wildbäche wimmelte es von Werkstätten, Schmieden, Mühlen, Gerbereien, Spinnereien. Noch jetzt hört Mrs. Giulia Masca den Lärm. Ob es die Filanda Salvi noch gibt? Diese Spinnerei befand sich einhundertzwanzig Schritte und sechzehn Stufen unterhalb des Palazzo Reale, in Richtung Stura. Wäre es nicht schon so spät, würde sie in die Gasse einbiegen und hinuntergehen, um nachzusehen. Ob das Dach nachgegeben hat? Ob die Mauern noch stehen?

New York altert nicht. Eines schönen Tages errichtet jemand einen Lattenzaun, hängt ein Schild auf, und einen Monat später steht an der Stelle des alten ein neuer Skyscraper. Himmel-Kratzer: Als sie zum ersten Mal unten vom Gehsteig aus den Himmel von Manhattan gesehen hat, eingezwängt zwischen funkelnden Kanten, schien es ihr, als würde er gleich explodieren und die Straße überfluten, die Schaufenster, den Hot-Dog-Verkäufer, das Bänkchen des Schuhputzers, die Unmenge von Leuten, die schwatzend vorbeiliefen, sie rücksichtslos anrempelten. Aber die Spinnerei Salvi?

Morgen wird sie sich vorwagen und einen Blick darauf werfen, ihr Sohn kommt sowieso nicht vor dem Abendessen zurück. Bei der Fahrt hierher stellte Michael, den Blick aus dem Fenster gerichtet, ihr unentwegt Fragen. Er bemühte sich, die Namen auf Italienisch zu wiederholen, die Mrs. Giulia Masca einen um den anderen aus den Tiefen des Gedächtnisses fischte. Punta Martin, Monte Tobbio, Madonna della Guardia, Borgo di Dentro, Palazzo Reale. »How does it feel?« Wie fühlt es sich an, Mama? Sie wusste keine Antwort.

Jetzt legt sie die Hand auf den Türklopfer, unentschieden, ob sie klopfen soll oder nicht, und im Geist sieht sie sich wieder als junges Mädchen – vor einem anderen geschlossenen Tor, dem der Spinnerei Salvi. Sie war zwanzig Jahre alt – zwanzig, sie ist sich sicher, denn es war gegen Ende des Jahres 1900, am Morgen des 23. November –, und an dem Tor hing ein rundes Holzbrett, ein ehemaliger Fassboden, mit der roten Aufschrift:

WEGEN UMBAU GESCHLOSSEN

»Scheiße.«

So redete ihre Mutter Assunta. Scheiße. Kotze. Nutte. Pisse. Fotze. Hure. Als Giulia in der Schule im Turnen einmal das Wort Arsch gebrauchte, unterbrach Herr Olivieri, der Lehrer, den Unterricht, zog den Stock aus dem Hosengürtel, hieß sie ihre Finger ausstrecken, den Handrücken zur Decke des Turnsaals gewandt, und schlug siebenmal zu. Daraufhin machte die kleine Giulia es sich zur Regel, niemals Wörter zu benutzen, die sie nur aus dem Mund ihrer Mutter gehört hatte.

»Scheiße, Scheiße, Scheiße«, wiederholt Assunta, während sie mit der flachen Hand auf die Schrift schlägt. Sie gebraucht halbe Sätze. Nach wenigen giftigen Wörtern hustet sie und spuckt Schleim. Nicht immer ins Taschentuch.

Auch Anita Leone ist bei ihnen. »Das hat bestimmt ein Maler geschrieben«, sagt sie, während sie mit dem Finger über die eleganten, scharlachroten Buchstaben fährt. Sie ist am selben Tag geboren wie Giulia, im Abstand von weniger als einer Stunde. Sie hat ein nachdenk‌liches Wesen, einen durchdringenden Blick, der bei den Einzelheiten innehält und Dinge sieht, die die anderen nicht sehen: Nuancen, Alternativen, Auswege. Und Augen wie Obsidiansplitter, einen dunkel schimmernden Teint, dicke, weiche Haut. Nie hätte man sie für eine irische Nutte halten können (Anita wäre es nie in den Sinn gekommen, mit einem Messer bewaffnet klarzustellen, wie die Dinge lagen). Eine mexikanische Puta vielleicht? Nicht mit diesen geraden Schultern, dieser Haltung, bei ihr hätte sich niemand getäuscht. Ihre Freundin Anita. Eine feige Verräterin. Deshalb ist Mrs. Giulia Masca doch zurückgekehrt, oder?

Assunta beachtet sie nicht, wie immer. Sie versteht Anita nicht, nennt sie Prinzessin oder Gräfin, oder Bela Rosin oder Königin Taytù, auch wenn sie in der Seidenspinnerei Salvi alle drei an den Schüsseln mit den Kokons stehen. Gleiche Arbeit, gleicher Lohn. Sie hustet noch einmal, dann reibt sie sich die von dreiundfünfzig Jahren siedendem Wasser, gekochten Raupen und gewickelten Fäden rissigen Hände und schiebt sie unter die Achseln, während sie ihren Tuchumhang fester um sich...