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Inklusive Schule und Vielfalt

Gottfried Biewer, Michelle Proyer, Gertraud Kremsner, Gottfried Biewer

 

Verlag Kohlhammer Verlag, 2019

ISBN 9783170347397 , 150 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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22,99 EUR

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2          Menschenrechtliche Grundlagen Inklusiver Bildung


 

Worum es geht …


Inklusive Bildung ist eng mit den Menschenrechten, einer menschenrechtlichen Grundlegung von Bildungsprozessen und der Frage nach Bildungsgerechtigkeit verbunden. Das Kapitel gibt einen Überblick insbesondere über die Rechte von Kindern, aber auch von Menschen, deren Bildungsoptionen infolge eines Fluchthintergrundes, einer Behinderung, des Geschlechts oder der Zughörigkeit zu einer ethnischen Minderheit gefährdet sind. Dabei wird ein besonderer Fokus auf die Bedeutung völkerrechtlich verbindlicher internationaler Konventionen und Deklarationen für Bildungsprozesse gelegt.

2.1       Theorien der Bildungsgerechtigkeit


Bei den in den Blick genommenen Differenzlinien, die sich auf Bildungssysteme beziehen, spielen Fragen der Gerechtigkeit, das Ende der Benachteiligung von Frauen bzw. Mädchen und die Gleichstellung der Geschlechter, die Rechte behinderter Menschen, die Bekämpfung von Armut und das Eintreten für kulturell und sprachlich benachteiligte Minderheiten eine wichtige Rolle. Dies sind allesamt Themen von globaler Bedeutung.

Trotz ihrer Realitätsferne ist die folgende Frage es wert, gestellt zu werden: Was würde passieren, wenn heute eine Insel irgendwo in den Weiten des Stillen Ozeans neu entdeckt würde, auf der Menschen leben, die bislang mit dem Rest der Welt noch nicht in Verbindung standen? Vermutlich würden Institutionen entstehen, wie wir sie sonst überall auf der Welt haben. Sicherlich würden Schulen dazu gehören. Es gäbe bald wohl auch ein kodifiziertes Recht, das Eigentumsverhältnisse und Umgangsformen zwischen den Menschen regelt. Bestimmt wären irgendwann einmal internationale Konventionen gültig, auch solche, die die Gleichstellung der Frau propagieren, für den Schutz und Stärkung von Kinderrechten oder auch der Rechte der indigenen Bevölkerung eintreten. Es würden vermutlich auch internationale Erklärungen propagiert, die für Innovationen in Bildungssystemen eintreten.

Diese Sichtweise wird im Buch von John W. Meyer dargestellt, das den Titel trägt: »Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen« (Meyer 2005). Meyer verwendet den Begriff der Weltkultur oder den schwer übersetzbaren Begriff ›world polity‹ für die mittlerweile weltweit geteilten Vorstellungen über die Beschaffenheit von Gesellschaften und Institutionen und die darin geltenden Leitkonzepte und Sichtweisen. Die sozialwissenschaftliche Richtung, die er vertritt, wird auch als Neo-Institutionalismus bezeichnet. Meyer versteht ›world polity‹ als »eine breite kulturelle Ordnung, die explizite Ursprünge in der westlichen Gesellschaft hat« (ebd.). Diese ›Weltkultur‹ schafft ihre Akteur*innen insbesondere in Gestalt transnationaler Organisationen, aber auch global vernetzter Nichtregierungsorganisationen. Der globale Schutz der Umwelt, aber auch Fragen der Beschaffenheit von Bildungssystemen spielen hier seit einigen Jahren eine prominente Rolle.

Auch der Gerechtigkeitsdiskurs ist im internationalen Austausch verortet. Die westliche und letztlich weltweit geteilte Vorstellung von Gesellschaft wird von Meyer sogar als ein Projekt zur Herstellung von Fortschritt und Gerechtigkeit gesehen. Doch was ist Gerechtigkeit? Meyer, Boli und Thomas schreiben: »Gerechtigkeit ist eine kulturell konstituierte Perspektive auf die individuellen Teilnahmechancen in der Gesellschaft (Arbeit, Wahlen, Konsum von Populärkultur) und auf die Verteilung geschätzter natürlicher Güter (Einkommen, Lebensstandard, Besitz von Dingen)« (Meyer 2005, 43). Wir stellen fest: Es geht hier wesentlich um Teilhabe und Ressourcen – zwei Aspekte, die das Bildungssystem besonders tangieren. Auch im Bildungssystem geht es um die Frage: Wer darf wo mitwirken und welche Ressourcen werden der jeweiligen Person dazu zur Verfügung gestellt?

Für die Beschaffenheit von Staaten und unseres Rechtssystems – und damit eng verbunden die Frage nach Teilhabe und Ressourcen – spielen philosophische Gedankengebäude der Aufklärung eine grundlegende Rolle. Hierzu gehören z. B. die ab dem Ende des 17. Jahrhunderts entstandenen Vertragstheorien und hier insbesondere die philosophischen Ansätze von John Locke, Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant. Wichtige aktuelle Vertreter*innen, die darauf aufbauen, sind John Rawls, Amartya Sen und Martha Nussbaum. Deren Ansätze können unter dem Aspekt betrachtet werden, was sie zu Fragen der Bildungsgerechtigkeit beizutragen haben.

Für Rawls (1998, 81) sind Gleichheit und Differenz die beiden grundlegenden Prinzipien, an denen entlang er seine Gerechtigkeitstheorie entwickelt. Die Realisierung von Gerechtigkeit ist für Rawls sehr eng mit der Beschaffenheit von Institutionen verbunden. Für Rawls ist Gerechtigkeit »die erste Tugend sozialer Institutionen, so wie die Wahrheit bei Gedankensystemen« (ebd., 19). Gerechtigkeit ist für ihn vor allem auch soziale Gerechtigkeit. Damit meint er »die Art, wie die wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen Grundrechte und -pflichten und die Früchte der gesellschaftlichen Zusammenarbeit verteilen« (ebd., 23). Seine Vorstellung von Gerechtigkeit bezeichnet er auch als Fairness. Dabei geht er aus von einem fiktiven Urzustand – ähnlich dem eingangs erwähnten Beispiel der unentdeckten Insel –, bei dem Verfahrensregeln über den Umgang zwischen den Menschen aus rationalen Überlegungen resultieren (ebd., 28). Damit kommt er auch zu einer Einstufung der Rolle, die die schwächsten Glieder in dieser Gesellschaft haben und stellt sich die Frage, wie mit ihnen zu verfahren sei. So behauptet er, dass für Menschen im Urzustand soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten nur dann gerecht seien, wenn sich aus ihnen Vorteile insbesondere für die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft ergeben (ebd., 32 f). Institutionen seien »dann gerecht, wenn sie zur Verbesserung der Aussichten der am wenigsten begünstigten Mitglieder der Gesellschaft beitragen« (ebd., 96).

Dies führt in der Konsequenz bei Rawls auch zu einem Benachteiligungsausgleich für die weniger Begünstigten: Da Ungleichheiten der Geburt und natürliche Gaben unverdient seien, müssten sie ausgeglichen werden (ebd., 121). Daher folgert er, dass die Gesellschaft sich mehr um diejenigen kümmern müsse, »die mit weniger natürlichen Gaben oder in weniger günstige gesellschaftliche Positionen geboren werden« (ebd.). An anderer Stelle betont Rawls auch den Wert der Bildung zur Erschließung der kulturellen Werte der Gesellschaft, auch hier unter Betonung der Perspektiven für die weniger begünstigten Gesellschaftsmitglieder. Für eine ethische Fundierung pädagogischen Handelns auf sozialphilosophischer Grundlage bietet John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit einen interessanten, aber einstweilen eher wenig gewählten Zugang.

Amartya Sen, Professor an der Harvard Universität, steht an der Schnittstelle von Wirtschaftswissenschaften und Philosophie. Sein Fachgebiet ist die Wirtschaftswissenschaft, aber mit einem starken Fokus auf Fragen gesellschaftlicher Ungleichheit – insbesondere der Entstehung und Bekämpfung von Armut und eng damit zusammenhängenden Fragen. Im Jahre 1998 hat er den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften mit seinen bahnbrechenden Arbeiten über ökonomische Aspekte von Hungersnöten erhalten.

Sens Buch »Development as Freedom« handelt von Hungersnöten und deren Ursachen, von Armut und den Möglichkeiten ihrer Bekämpfung, von Kultur und Menschenrechten, insbesondere auch von den Rechten der Frauen, von Freiheit und Gerechtigkeit (Sen 1999). Auch wenn das Buch auf den ersten Blick von sehr unterschiedlichen Dingen handelt, so erschließt sich bei der Lektüre doch bald eine einheitliche Erzählung. Freiheit und Demokratie, Rechte von Minderheiten und benachteiligten Personen und Personengruppe hängen äußerst eng zusammen.

Sen (1999) weist in seinem Buch überzeugend nach, dass die Entwicklung des Bruttosozialprodukts eines Landes keinen Beitrag zur Lösung sozialer Probleme darstellt, wenn Fragen der Verteilungsgerechtigkeit nicht thematisiert werden. Am Beispiel verschiedener Hungersnöte weist er nach, dass deren Ursachen nicht im Ausfall einer Ernte – etwa durch fehlenden Regen oder durch fehlende Produktion von Nahrungsmitteln – lagen, wie dies häufig unterstellt wird. Reiche Länder wie die Golfstaaten müssten sonst Hungerregionen sein, denn dort wächst nichts bzw. nur sehr wenig. Sen legt dar, dass mit Arbeitsbeschaffungsprogrammen solche Phasen überbrückt werden konnten, ohne dass die bisherigen wirtschaftlichen Strukturen zusammengebrochen wären, wie es bei groß angelegten Nahrungsmittelhilfen nicht selten der Fall...