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Das Schmetterlingszimmer - Roman

Lucinda Riley

 

Verlag Goldmann, 2019

ISBN 9783641202040 , 624 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

Admiral House,
Southwold, Suffolk


Juni 1943

»Vergiss nicht, mein Schatz, du bist eine Fee, die mit zartesten Flügeln über das Gras schwebt, um deine Beute mit deinem seidenen Netz einzufangen. Schau!«, flüsterte er mir ins Ohr. »Da ist er, genau am Rand des Blatts. Jetzt flieg!«

Ein paar Sekunden schloss ich die Augen, wie er es mir beigebracht hatte, und stellte mir, auf Zehenspitzen stehend, vor, meine kleinen Füße würden vom Boden abheben. Dann versetzte Daddy mir mit der flachen Hand einen Schubs, ich öffnete die Augen, konzentrierte mich auf die beiden hyazinthblauen Flügel und flog die zwei kurzen Schritte nach vorne, um mein Netz über die zarte Rispe des Schmetterlingsflieders zu stülpen, auf der sich der Ameisenbläuling niedergelassen hatte.

Der Luftzug, den das Netz verursachte, schreckte den Bläuling auf, er öffnete die Flügel, um zu flüchten. Doch zu spät, denn ich, Posy, Prinzessin der Feen, hatte ihn gefangen. Natürlich würde ihm kein Leid geschehen, er würde von Lawrence, dem Feenkönig – der auch mein Vater war –, nur studiert werden, ehe er wieder in die Freiheit entlassen würde, und natürlich nicht, ohne zuvor ein Schälchen des besten Nektars vorgesetzt zu bekommen.

»Du bist wirklich ein kluges Mädchen, Posy!«, sagte mein Vater, als ich mich durch das Gestrüpp zurückzwängte und ihm stolz das Netz präsentierte. Er saß in der Hocke, sodass sich unsere Augen – die sich nach Aussage aller unglaublich ähnlich waren – in einem Blick geteilter Freude begegneten.

Er senkte den Kopf, um den Schmetterling zu untersuchen. Der Falter verharrte reglos, seine winzigen Beine umklammerten das weiße Netz seines Gefängnisses. Daddys Haar hatte die Farbe von Mahagoni, und durch das Öl, mit dem er es glättete, glänzte es wie der lange Esstisch, wenn Daisy ihn poliert hatte. Außerdem roch sein Haar wunderbar – nach ihm und nach Geborgenheit, weil er »Zuhause« bedeutete und ich ihn mehr liebte als alles andere in meinen Welten, ob der der Menschen oder der Feen. Natürlich liebte ich Maman auch, aber obwohl sie fast ständig zu Hause war, hatte ich das Gefühl, sie weniger zu kennen als Daddy. Sie verbrachte einen Großteil der Zeit mit etwas, das Migräne hieß, in ihrem Zimmer, und wenn sie nicht dort war, hatte sie zu viel zu tun, um etwas mit mir zu unternehmen.

»Er ist ein wahrer Prachtbursche, mein Liebling!«, sagte Daddy und sah zu mir. »Bei uns eine wahre Seltenheit und zweifellos adeliger Abstammung.«

»Könnte er ein Schmetterlingsprinz sein?«, fragte ich.

»Gut möglich«, antwortete Daddy. »Wir sollten ihn mit größtmöglichem Respekt behandeln, wie es seiner Herkunft gebührt.«

»Lawrence, Posy … Lunch!«, rief eine Stimme von jenseits der Pflanzen. Daddy richtete sich auf, sodass er größer wurde als der Schmetterlingsflieder und über den Rasen zur Terrasse von Admiral House winken konnte.

»Wir kommen, mein Schatz!«, rief er ziemlich laut, weil wir doch in ziemlicher Entfernung vom Haus waren. Beim Anblick seiner Frau, meiner Mutter und der Königin der Feen, bildeten sich Fältchen um seine Augen, er lächelte; dass sie diese Königin war, wusste sie allerdings nichts, das war ein Geheimnis zwischen Daddy und mir.

Hand in Hand gingen wir über den Rasen zum Haus zurück. Es duftete nach frisch gemähtem Gras, was ich mit glücklichen Tagen im Garten verband: Mamans und Daddys Freunde, die, ein Champagnerglas in der einen, den Krockethammer in der anderen Hand, einen Schlag ausführten, und dann sauste ein Ball über die Cricket-Pitch, die Daddy zu solchen Anlässen mähte …

Seit Kriegsanfang gab es diese glücklichen Tage seltener, wodurch die Erinnerungen, wenn es sie doch gab, umso kostbarer wurden. Der Krieg hatte Daddy auch ein Hinken beschert, sodass wir recht langsam gehen mussten. Das störte mich aber gar nicht, weil ich ihn dann länger für mich allein hatte. Mittlerweile ging es ihm sehr viel besser, denn als er aus dem Lazarett gekommen war, hatte er in einem Rollstuhl gesessen wie ein alter Mann, und seine Augen waren ganz grau gewesen. Aber Maman und Daisy hatten ihn gepflegt, und ich hatte mein Bestes getan, ihm Geschichten vorzulesen, und so war er bald wieder gesund geworden. Jetzt brauchte er nicht einmal mehr einen Gehstock, außer bei größeren Entfernungen.

»Jetzt lauf, Posy, und wasch dir Gesicht und Hände. Sag deiner Mutter, dass ich unserem neuen Gast helfe, sich einzuleben«, bat Daddy mich mit dem Netz in der Hand, als wir die Stufen zur Terrasse erreichten.

»Ja, Daddy«, sagte ich, als er über den Rasen davonging und durch einen Bogen in einer hohen Buchsbaumhecke verschwand. Er wollte zu seinem Turm, der mit seinen Zinnen aus gelbem Sandstein das perfekte Märchenschloss für das Feenvolk und seine Schmetterlingsfreunde darstellte. Dort verbrachte Daddy sehr viel Zeit, aber immer allein. Ich durfte nur dann in das kleine, runde Zimmer direkt hinter der Eingangstür spähen, wenn Maman mir auftrug, Daddy zum Lunch zu holen. Es war sehr dunkel dort und roch nach feuchten Socken.

Da bewahrte er seine »Außenausrüstung« auf, wie er sie nannte: Tennisschläger, Cricketstäbe, schlammverkrustete Gummistiefel. Nie forderte er mich auf, die Treppe hinaufzugehen, die immer weiter nach oben kreiselte, bis sie oben auf einem kleinen Absatz endete (das wusste ich nur, weil ich einmal heimlich hinaufgeschlichen war, als Daddy ins Haus ans Telefon gerufen wurde). Ich war sehr enttäuscht festzustellen, dass er die große Eichentür, die mich oben empfing, abgeschlossen hatte. Obwohl ich mit der ganzen Kraft meiner kleinen Hände am Knauf drehte, ließ sie sich nicht öffnen. Ich wusste, dass dieses Zimmer im Gegensatz zum unteren viele Fenster hatte, man konnte sie ja von außen sehen. Der Turm erinnerte mich ein bisschen an den Leuchtturm in ­Southwold, nur dass er auf seinem Kopf eine goldene Krone trug und kein strahlendes Licht.

Als ich die Terrassenstufen hinaufging und an den schönen, hell ziegelroten Mauern des Haupthauses hinaufschaute mit den Reihen hoher Schiebefenster umrahmt von lindgrünen Glyzinienranken, seufzte ich glücklich. Der alte gusseiserne Tisch, der jetzt eher grün als sein ursprüngliches Schwarz war, wurde gerade auf der Terrasse für den Lunch gedeckt, mit nur drei Platzdeckchen und Wassergläsern, was bedeutete, dass wir allein sein würden. Das war ungewöhnlich. Ich dachte mir, wie schön es sein würde, sowohl Maman als auch Daddy ganz für mich zu haben. Ich trat durch die breite Flügeltür in den Salon, umrundete die Seidendamastsofas vor dem riesigen, mit Marmor eingefassten Kamin – so groß war er, dass der Weihnachtsmann im Jahr zuvor ein glänzendes rotes Fahrrad hindurchgebracht hatte – und hüpfte das Gewirr der Korridore entlang, das zur unteren Toilette führte. Ich schloss die Tür hinter mir, drehte den schweren silbernen Hahn mit beiden Händen auf und wusch sie mir gründlich. Auf Zehenspitzen stehend, untersuchte ich dann mein Gesicht im Spiegel nach Dreckspuren. Maman war sehr genau, was das Äußere betraf – Daddy sagte, das sei ihr französisches Blut –, und wehe, einer von uns war nicht makellos sauber, wenn er sich an den Tisch setzte.

Doch selbst ihr gelang es nicht, die braunen Löckchen zu bändigen, die ständig meinen fest geflochtenen Zöpfen entwichen, sich im Nacken kringelten und den Klammern entkamen, die eigentlich das ganze Haar straff aus der Stirn zurückhalten sollten. Eines Abends, als Daddy zum Gute-Nacht-Sagen zu mir ans Bett kam, fragte ich ihn, ob ich vielleicht etwas von seinem Haaröl borgen könne, weil das womöglich helfen würde, aber er wand sich nur lachend ein Ringellöckchen um den Finger.

»Das wirst du schön bleiben lassen. Ich liebe deine Locken, mein Schatz, und wenn es nach mir ginge, würden sie dir den ganzen Tag um den Kopf fliegen.«

Auf dem Rückweg sehnte ich mich wieder einmal danach, Mamans glänzendes, glattes Haar zu haben. Es hatte die Farbe der weißen Pralinen, die sie nach dem Dinner zum Kaffee servierte. Meine Haare waren eher wie Café au lait, das behauptete zumindest Maman. Ich nannte sie mausbraun.

»Da bist du ja, Posy«, sagte Maman, als ich auf die Terrasse trat. »Wo ist dein Sonnenhut?«

»Ach, den muss ich im Garten liegen gelassen haben, als Daddy und ich Schmetterlinge fingen.«

»Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du dir ohne Hut das Gesicht verbrennst, und dann verschrumpelst du wie eine alte Dörrpflaume«, tadelte sie mich, als ich mich setzte. »Du wirst mit vierzig aussehen, als wärst du sechzig.«

»Ja, Maman«, antwortete ich und dachte, dass man mit vierzig sowieso so alt war, dass es nichts mehr ausmachen würde.

»Und wie geht’s meinem anderen Lieblingsmädchen an diesem herrlichen Tag?«

Daddy erschien auf der Terrasse und schwang meine Mutter durch die Luft, sodass der Wasserkrug in ihrer Hand überschwappte und Tropfen auf den grauen Steinboden spritzten.

»Vorsicht, Lawrence!«, ermahnte sie ihn stirnrunzelnd, ehe sie sich aus seinen Armen befreite und den Krug absetzte.

»An einem so famosen Tag kann man sich doch nur des Lebens freuen.« Lächelnd nahm er mir gegenüber am Tisch Platz. »Und das Wetter hält offenbar fürs Wochenende und für unser Fest.«

»Gibt es bei uns ein Fest?«, fragte ich, als Maman sich neben ihn setzte.

»Ja, mein Schatz. Dein alter Herr wurde als so weit genesen erachtet, dass er in den Dienst zurückkehren kann, deswegen haben Maman und ich beschlossen, noch eine letzte Sause zu veranstalten.«

Mein Herz setzte einen...