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Dr. Siri und der verschwundene Mönch - Kriminalroman

Colin Cotterill

 

Verlag Goldmann, 2019

ISBN 9783641234645 , 416 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

3


DER SESSHAFTE NOMADE


Noo war die ganze Nacht nicht nach Hause gekommen, und Siri fragte sich, ob das zwangsläufig zu bedeuten hatte, dass etwas passiert war. Jedenfalls lag der Waldmönch nicht wie sonst auf der hinteren Veranda und schlief. Aber da er ja angeblich ein Wandermönch war, gab es vermutlich keinen Grund zur Sorge. Siri hatte Noo immer wieder damit aufgezogen, dass er für einen Nomaden recht sesshaft sei. Und tatsächlich hatte Noo seit seiner Flucht nach Laos keinen Fuß mehr vor das Gartentor gesetzt. Wahrscheinlich handelte es sich um bloßes Trotzverhalten. Zugegeben, dass sein Verschwinden zeitlich mit der Nachricht zusammenfiel, war vielleicht etwas zu viel des Zufalls, dennoch beschloss Siri, erst einmal in Ruhe abzuwarten, bevor er etwas unternahm.

Weitaus größere Schwierigkeiten bereitete es ihm, Richter Haengs Memos zu ignorieren. Stücker drei schon vor dem Morgenkaffee! Er radelte über den ausgestorbenen Samsenthai Boulevard, und Köter trottete neben ihm her. Der Doktor war im Osten aufgewachsen und im Teenageralter nach Frankreich gegangen. Nach seiner Rückkehr hatte er als Feldarzt in den Provinzen gearbeitet. In die Hauptstadt war er erst 1975 einmarschiert, zusammen mit den Revolutionären Streifkräften. Ein Großteil der Bevölkerung war geflohen, und die meisten Geschäfte hatten dichtgemacht. Er kannte das Zentrum Vientianes nur als menschenleere Geisterstadt und vermochte sich die rauschhafte Zeit der Clubs, der Drogen und der Prostitution nicht einmal vorzustellen: amerikanische Dollars, Touristen und Läden, in denen es interessante Dinge zu kaufen gab. Er bog in die Lane Xang Avenue. Es war später Vormittag, und er und Köter waren allein auf den laotischen Champs-Élysées.

Der Richter kauerte in einer Ecke seines justizministerialen Dienstzimmers. Als Siri die Tür aufstieß, schrie Haeng vor Schreck laut auf und ließ die Akte fallen, in der er zum Schein gelesen hatte.

»Siri«, fragte er, »warum die Verspätung?«

»Mangelndes Interesse«, sagte der Doktor.

Steif hievte der Richter sich von seinem Badhocker. Wie ein Greis schleppte er sich an seinen Schreibtisch und plumpste in seinen gepolsterten Kunstledersessel.

»Sparen Sie sich Ihre Witze«, sagte er. »Ich habe zwei Nächte kein Auge zugetan. Ich trage mich ernsthaft mit dem Gedanken, einen befreundeten Psychologen in Hanoi zu konsultieren.«

»Das ist aber eine ziemlich weite Reise, nur damit Ihnen jemand attestiert, dass hinter Ihrer Stirn die eine oder andere Schraube locker sitzt.«

»Was meinen Sie, Siri? Bin ich verrückt?«

»Ohne den geringsten Zweifel.«

»Aber Sie haben ihn doch auch gesehen.«

»Halten Sie mich etwa für zurechnungsfähig?«

Siri musterte den Richter und empfand wider Willen so etwas wie Mitleid für den jungen Mann. Die Achseln seines zerknitterten weißen Hemdes waren schweißgetränkt. Sein schwarzer Plastikgürtel hatte ein oder zwei Schlaufen zielsicher verfehlt. Er sah noch abgerissener aus als sonst.

»Ich habe die Gerüchte gehört, Siri«, sagte Haeng. »Ihre Beziehungen ins Jenseits. Ich habe selbstredend kein Wort davon geglaubt.«

»Sehr klug.«

»Und jetzt … und jetzt sehe ich auf einmal einen Mann, der ohne jede Frage unter den Toten weilt.«

»Und wenn sich jemand als der Genosse Koomki ausgibt?«, gab Siri zu bedenken. »Und sich nur verkleidet hat?«

»Das habe ich auch erst gedacht, Siri. An diesen Strohhalm habe ich mich lange geklammert.«

Siri setzte sich auf die Kante von Haengs Schreibtisch und wartete auf ein »Aber«.

»Aber er verändert seine Größe, Siri«, sagte der Richter. »Mal ist er ein Zwerg. Wie Sie sich vielleicht erinnern, entspricht das seiner Statur zu Lebzeiten. Dann wieder ist er riesig wie ein Wetterballon. Und bisweilen könnte man ihn bequem in einem Zahnputzbecher unterbringen.«

»Sie scheinen ihn ja ziemlich oft zu sehen.«

»Er ist überall, Siri. Wo ich auch hingehe. Was will er? Warum ich?«

Der arme Mann bedurfte dringend einer Lektion in mystischer Logik.

»Na schön«, sagte Siri. »Die Erfahrung hat mich gelehrt, dass es für eine Heimsuchung im Wesentlichen zwei Gründe gibt. Der eine ist Rache. Der andere ein ungerupftes Hühnchen. Insofern wüsste ich nicht, weshalb er Sie terrorisieren sollte, es sei denn, natürlich, Sie haben mir etwas Entscheidendes verschwiegen, was Ihre Beziehung zum Genossen Koomki selig angeht.«

»Ich hatte Vorurteile hinsichtlich seiner Größe.«

»Das dürfte kaum genügen. Wenn er tatsächlich auf Rache aus wäre, hätte er sehr viel mehr Grund, stattdessen mir das Leben zur Hölle zu machen. Aber ich sehe ihn nur hin und wieder.«

»Rache ist es also nicht?«, sagte der Richter sichtlich erleichtert. »Dann könnte es Ihrer Ansicht nach um etwas gehen, das er zu Lebzeiten nicht mehr zu Ende …«

»Möglich wär’s.«

»Und wie kommen wir dahinter, was es ist?«

Fast hätte Siri gesagt: »Ich könnte ihn fragen.« Doch dem Doktor fehlte nach wie vor eine Reihe grundlegender schamanischer Fähigkeiten. Die simple Kommunikation mit dem Jenseits war eine davon.

»Sie waren für seine Papiere und seinen Nachlass zuständig. Schwester Dtui hat seine spärlichen Überreste obduziert. Phosy hat in dem Fall ermittelt. Ich schlage vor, wir gehen sämtliche Notizen noch einmal durch, vielleicht haben wir irgendetwas falsch gemacht. Etwas Wichtiges übersehen. Irgendetwas stört die Ruhe unseres geschätzten Genossen Koomki. Ich habe das dumpfe Gefühl, dass er nicht ins Totenreich einziehen kann, bis wir herausgefunden haben, was.«

»Wie lautet deine Antwort auf Frage 541?«, wollte Civilai wissen.

»Elvis Presley«, sagte Siri.

Die beiden alten Knaben hatten ihre Ölsardinen-Baguettes vertilgt; jetzt knieten sie im Gras und benutzten ihren Baumstamm als Schreibtisch. Der Zählungsbogen der Abteilung für Religiöse Angelegenheiten umfasste über sechshundert Fragen. Um sich harte Arbeit zu ersparen, hatten sie beschlossen, sich bei ihrer Beantwortung auf die Primzahlen zu beschränken.

»Glaubst du, irgendjemand füllt das Ding allen Ernstes nach bestem Wissen und Gewissen aus?«, fragte Siri.

»Nein. Das Ganze ist vermutlich eine Falle. Allein das hier, gleich auf der ersten Seite: ›Ihre religiöse Überzeugung.‹ Wer gibt denn darauf eine ehrliche Antwort? Der Parteilinie zufolge kann jedermann und jedefrau anbeten, wen oder was er oder sie möchte. Andererseits werden die Novizen dazu umerzogen, marxistisch-buddhistische Theorie zu lehren: der Herr Buddha als Pionier und Vorreiter der sozialistischen Ideologie. Kein Religionsunterricht in der Grundschule. Die Bereinigung der Nationalhymne um die Nennung des Namens Buddha. Mönche sollen den Massen beibringen, effektiv zu wirtschaften und die Produktivität zu steigern. Sie sind zur Moralpolizei verkommen, die den einfachen Leuten diktiert, wie man innerhalb des Systems ein tugendhaftes Leben führt. In jedem anderen Land werden Mönche schwer bestraft, wenn sie sich in die Politik einmischen. Bei uns heftet man ihnen dafür einen Orden an die Kutte. Die Leute haben vergessen, was Buddhismus bedeutet. Und niemand weiß so recht, ob er sich zu seinem Glauben bekennen soll.«

»Was hast du als Antwort angegeben?«, fragte Siri.

»Agnostiker«, sagte Civilai. »Wieso? Was schaust du mich so an? Das ist die lautere Wahrheit.«

»Ich glaube dir«, sagte Siri.

»Ich habe keinen …«

»Ich weiß.«

»Du doch auch nicht.«

»Stimmt.«

»Dann zieh nicht so ein Zitronengesicht«, sagte Civilai. »Deine Kindheit im Tempel. Dein Studium an einer christlichen Universität. Deine Wiedererweckung als Nachfahr eines Schamanen – und als Knochenleser. Trotz alledem bist du zu demselben Schluss gelangt wie ich. Es gibt nichts, was man ohne jeden Zweifel anbeten könnte. Nichts, woran sich guten Gewissens glauben ließe.«

Siri legte die Hand auf das weiße Amulett an seiner Brust. Es war nichts Besonderes: ein grob behauener Klumpen Stein. Aber ohne ihn wäre der Doktor zweifellos längst tot gewesen. Ohne den reichen Segen und den schamanischen Humbug, den der Glücksbringer buchstäblich in sich aufgesogen hatte, hätten die bösen Waldgeister, die phibob, Siri längst das Leben abgelistet. Die Macht dazu besaßen sie. In Sachen böse Geister war Hollywood falsch informiert. Ein Geist kann einen Menschen nicht angreifen. Er kann nicht mit Steinen um sich werfen, eine Jungfrau im Schlaf erdrosseln oder einem Mann in die Brust greifen und ihm das pochende Herz aus dem Leibe reißen. Doch mit List und Tücke kann er einen Menschen davon überzeugen, dass eine riesige Naga ihm das Herz zerquetscht, dass er von einem Hochhaus springen und durch die Wolken schwimmen kann, dass ein Cocktail aus Bleiche und Toilettenreiniger ebenso köstlich schmeckt wie Whisky-Soda mit einem Schuss Zitrone. Echte Geister vollführen keine Taschenspielertricks, sondern kapern die Gedanken ihres Opfers. Und von allen Dämonen, die in Laos und Thailand täglich Unheil stifteten, waren keine so boshaft und gemein wie die phibob. Und aus irgendeinem Grunde, der vermutlich mit dem Tun und Handeln von Siris Vorfahr Yeh Ming zusammenhing, stand der Doktor ganz oben auf ihrer Abschussliste.

»Was hast du geantwortet?«

»Baumanbeter.«

»Wie geistreich.«

Die beiden hatten nicht die Absicht, ihre Fragebögen einzureichen. Die Übung diente dem Rentnerduo lediglich dazu, einen Nachmittag...