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Vernichtung - Roman

David Lagercrantz

 

Verlag Heyne, 2019

ISBN 9783641200275 , 432 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

KAPITEL 1

15. August

Die Schriftstellerin Ingela Dufva wagte sich zuerst an den Baum heran. Sie war es auch, die erkannte, dass der Mann tot war. Da war es halb zwölf am Vormittag. Es roch widerwärtig und surrte von Fliegen und Mücken, und Ingela Dufva war nicht ganz ehrlich, als sie später behauptete, die Gestalt habe etwas Ergreifendes an sich gehabt.

Der Mann hatte erbrochen und schweren Durchfall gehabt, und Ingela Dufva war weniger von Ehrfurcht erfüllt gewesen denn von Unbehagen und der Angst vor dem eigenen Tod. Auch für die Polizisten, Sandra Lindevall und Samir Eman, die fünfzehn Minuten später eintrafen, kam der Einsatz nichts weiter als einer Strafarbeit gleich.

Sie fotografierten den Mann und suchten die Umgebung ab, allerdings nicht bis zum Abhang unterhalb des Zinkens väg, wo die Halbliterflasche lag, auf deren Flaschenboden eine dünne, kiesähnliche Schicht klebte, und obwohl keiner von beiden fand, dass es »unbedingt nach einem Verbrechen roch«, untersuchten sie trotzdem sorgfältig Kopf und Brustkorb. Es gab keine Spuren von Gewalt und auch keine anderen Hinweise auf mögliche Todesursachen, abgesehen von dem dicken Sabber, der aus seinem Mund geronnen war, und nachdem sie die Frage mit ihrem Vorgesetzten geklärt hatten, beschlossen sie, den Ort nicht abzusperren.

Während sie darauf warteten, dass die Ambulanz käme und die Leiche wegbrächte, gingen sie die Taschen der unförmigen Daunenjacke durch. Sie fanden Unmengen durchsichtigen Wachspapiers von Würstchenbuden, ein paar Münzen und einen Zwanzigkronenschein, dazu eine Quittung aus einem Geschäft für Bürobedarf an der Hornsgatan, allerdings keinen Pass oder sonstige Papiere.

Trotzdem waren sie sich sicher, der Mann dürfte leicht zu identifizieren sein. Schließlich mangelte es nicht an auffälligen Kennzeichen. Nur war dies – wie so vieles andere – eine Fehleinschätzung: Im Rechtsmedizinischen Institut in Solna, wo die Leiche obduziert wurde, nahm man Röntgenbilder von den Zähnen; weder diese noch die Fingerabdrücke erzielten Treffer in der Datenbank, und nachdem man eine Reihe Proben ans NFZ, das Nationale Forensische Zentrum, geschickt hatte, überprüfte die Rechtsmedizinerin Fredrika Nyman – obwohl es mitnichten zu ihren Aufgaben gehörte – ein paar Telefonnummern, die auf einem zusammengeknüllten Zettel aus der Hosentasche des Mannes standen.

Eine der Nummern war die von Mikael Blomkvist von der Zeitschrift Millennium, und zunächst dachte sie stundenlang nicht mehr darüber nach. Am Abend jedoch, nachdem sie wieder einmal einen entnervenden Streit mit einer ihrer Teenagertöchter gehabt hatte, fiel ihr wieder ein, dass sie allein im letzten Jahr drei Leichen obduziert hatte, die namenlos hatten begraben werden müssen, was ihr einen Fluch darüber und über das Leben im Allgemeinen entlockte.

Sie war neunundvierzig Jahre alt und alleinstehend mit zwei Kindern, litt an Rückenschmerzen und Schlaflosigkeit und einem Gefühl allgemeiner Sinnlosigkeit, und ohne richtig zu wissen, warum, rief sie Mikael Blomkvist an.

Das Telefon brummte. Eine unbekannte Nummer. Mikael ignorierte es. Er hatte soeben seine Wohnung verlassen und war auf der Hornsgatan in Richtung Slussen und Gamla stan unterwegs, ohne recht zu wissen, wohin er gehen wollte. Er trug eine graue Leinenhose und ein ungebügeltes Jeanshemd und wanderte eine Weile kreuz und quer durch die Gassen, bis er sich schließlich in der Altstadt in einem Straßenlokal an der Österlånggatan niederließ und sich ein Guinness bestellte.

Es war halb sieben Uhr abends, trotzdem war es noch warm, und von Skeppsholmen wehten Lachen und Applaus herauf. Mikael sah zum blauen Himmel empor, genoss die sanfte Brise und versuchte sich einzureden, dass das Leben vielleicht doch nicht ganz so beknackt war. Es gelang ihm nicht sonderlich gut, da halfen weder ein Bier noch zwei, und am Ende murmelte er irgendwas in sich hinein, bezahlte und wollte schon wieder nach Hause gehen, um weiterzuarbeiten oder sich einfach einer Fernsehserie oder einem Krimi zu widmen.

Dann überlegte er es sich anders und spazierte einem spontanen Impuls folgend in Richtung Mosebacken. Dort, in der Fiskargatan 9, wohnte Lisbeth Salander. Insgeheim machte er sich keine großen Hoffnungen, sie könnte zu Hause sein. Nach der Beerdigung ihres einstigen Vormunds Holger Palmgren war sie kreuz und quer durch Europa gereist und hatte Mikaels E-Mails und SMS nur sporadisch beantwortet. Trotzdem beschloss er, auf gut Glück bei ihr zu klingeln, und lief die vom Platz hinaufführende Treppe hoch. Als er das Haus vor sich sah, blieb er verblüfft stehen. Die komplette Fassade war von einem neuen, riesigen Graffito bedeckt. Dann ging er weiter, obwohl es sich um ein Gemälde handelte, in das man schier eintauchen wollte. Es war voller surrealistischer Details. Unter anderem war da ein kleines, lustiges Männlein in Karohose, das barfuß auf einem grünen U-Bahn-Waggon stand.

Er gab den Haustürcode ein. Drinnen betrat er den Fahrstuhl und starrte in den Spiegel. Dass der Sommer heiß und sonnig gewesen war, war ihm kaum anzusehen. Er war bleich und hohläugig und musste wieder an den Börsencrash denken, an dem er den ganzen Juli über gesessen hatte: zweifellos eine wichtige Story – ein Kollaps, nicht nur von himmelhohen Bewertungen und übersteigerten Erwartungen verursacht, sondern überdies durch Hackerattacken und Desinformationskampagnen befeuert. Doch inzwischen war jeder x-beliebige Investigativjournalist an dem Thema dran, und auch wenn er eine Menge herausgefunden hatte – unter anderem, welche russische Trollfabrik die schlimmsten Lügen verbreitet hatte – , fühlte es sich an, als würde die Welt es auch ohne sein Zutun schaffen. Vermutlich sollte er sich einfach freinehmen und endlich anfangen, Sport zu treiben, und sich vielleicht auch wieder mehr um Erika kümmern, die mitten in der Scheidung von Greger steckte.

Der Fahrstuhl hielt, er schob die Gittertür auf und betrat den Treppenflur. Inzwischen war er sich umso sicherer, dass sein Besuch sinnlos war. Bestimmt war Lisbeth verreist, und er war ihr egal. Doch als er zur Wohnungstür sah, zuckte er zusammen. Die Tür stand sperrangelweit offen, und mit einem Mal dämmerte ihm, wie sehr ihn den ganzen Sommer über die Vorstellung geplagt hatte, Lisbeths Feinde könnten sie erwischt haben.

Er stürzte regelrecht über die Schwelle. Der Geruch von Binderfarbe und Putzmittel schlug ihm entgegen.

»Hallo? Hallo?«

Weiter kam er nicht. Er hörte Schritte. Auf der Treppe hinter ihm keuchte jemand wie ein schnaubender Stier. Sein Blick blieb an zwei grobschlächtigen Kerlen im Blaumann hängen, die irgendein Trumm anschleppten. Er war so perplex, dass er sich nicht mal imstande sah, die Szene als alltäglich oder normal einzuordnen.

»Was machen Sie denn da?«, fragte er.

»Wonach sieht es denn aus?«

Es sah nach zwei Möbelpackern aus, die ein blaues Sofa in die Wohnung bugsierten, ein brandneues, schickes Designerteil. Aber wenn jemand nichts für Designkram und Einrichtung übrighatte, dann Lisbeth. Er wollte eben etwas erwidern, als er aus der Wohnung eine Stimme hörte. Für einen Moment glaubte er, es wäre Lisbeth, und seine Miene hellte sich auf. Doch es war Wunschdenken. Die Stimme glich der von Lisbeth nicht einmal annähernd.

»Das ist ja mal hoher Besuch! Was verschafft mir denn die Ehre?«

Er drehte sich erneut um. Auf der Schwelle stand eine hochgewachsene schwarze Frau Mitte vierzig, die ihn neugierig musterte. Sie trug Jeans und eine elegante graue Bluse, hatte sich das Haar zu Zöpfen geflochten und hatte schräg stehende, funkelnde Augen, und er war sofort umso verwirrter. Kannte er sie nicht irgendwoher?

»Nein, nein«, murmelte er. »Ich hab nur …«

»Sie haben nur …?«

»Mich im Stockwerk geirrt.«

»Oder wussten Sie nicht, dass die junge Dame ihre Wohnung verkauft hat?«

Er hatte es tatsächlich nicht gewusst und fühlte sich schlagartig mies, vor allem weil die Frau ihn unverwandt anlächelte. Er war fast erleichtert, als sie sich schließlich den Möbelpackern zuwandte – nicht dass die das Sofa gegen den Türstock donnerten! – und dann wieder in der Wohnung verschwand. Am liebsten wäre er sofort abgehauen, um die Begegnung sacken zu lassen; am liebsten hätte er noch mehr Guinness getrunken. Trotzdem blieb er wie angewurzelt vor der Tür stehen und schielte zum Briefschlitz. Dort stand nicht mehr »V. Kulla«, sondern Linder. Wer zum Teufel war Linder? Er tippte den Namen in sein Handy ein, und Bilder der Frau erschienen auf seinem Display.

Es handelte sich um Kadi Linder, Psychologin und Unternehmensberaterin, und ein bisschen was wollte ihm zu der Frau sogar einfallen, hauptsächlich aber dachte er wieder an Lisbeth und schaffte es gerade so, sich halbwegs zusammenzureißen, als Kadi Linder erneut in der Tür auftauchte, jetzt nicht mehr nur neugierig, sondern auch verwundert. Ihr Blick flackerte, und sie duftete schwach nach Parfüm. Sie war von zarter Statur, mit schlanken Handgelenken und markanten Schlüsselbeinen.

»Jetzt erzählen Sie schon: Haben Sie sich wirklich im Stockwerk geirrt?«

»Kein Kommentar«, erwiderte er und wusste im selben Moment, dass dies keine gute Antwort gewesen war.

Er konnte ihr ansehen, dass sie seine Finte durchschaut hatte, und wollte jetzt nur noch unbeschadet davonkommen. Nichts würde ihn dazu bringen zu offenbaren, dass Lisbeth hier unter falschem Namen gewohnt hatte, ganz gleich was Kadi Linder nun wusste oder nicht.

»Das macht...