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Die große Entzauberung - Vom trügerischen Glück des heutigen Menschen

Tobias Haberl

 

Verlag Blessing, 2019

ISBN 9783641239114 , 288 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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17,99 EUR


 

Vielfalt

»Diversity ist mir natürlich extrem wichtig.

Denn Vielfalt ist momentan das Thema in der Fashionwelt.«

Heidi Klum

Seit einiger Zeit kann man dem Lobpreis der Vielfalt nicht entkommen: Google hat in den letzten Jahren mehr als 250 Millionen Dollar für Vielfalt-Initiativen ausgegeben22, die Bundeskanzlerin zeigt sich fortwährend stolz auf die Vielfalt der deutschen Zivilgesellschaft, ein Münchner Aktionsbündnis nennt sich »Vielfalt schlägt Einfalt«, es gibt Kondome, die »Bunte Vielfalt« heißen, eine »Charta der Vielfalt«, die »Lidl-to-go-Vielfalt« und Kinderkrippen, die »Vielfalt« heißen.

Oft wird sie in einem Atemzug mit Toleranz und Meinungsfreiheit genannt, manchmal versteckt sie sich hinter einem anderen Wort wie Diversität, Pluralismus oder Multikulti, am Ende meint alles das Gleiche: Wir sind rasend stolz darauf, wie individuell und gleichzeitig tolerant wir gegenüber allen anderen Daseinsformen sind: Männer in Highheels, Frauen mit Dreitagebart, Behinderte in Führungspositionen, Topmodels mit einem Bein, Intersexuelle, die heute Frau und morgen Mann sind.

Man kann schon sagen, dass die Vielfalt in den letzten Jahren eine rasante Karriere hingelegt hat: Was noch vor ein paar Jahren als skurril empfunden oder skeptisch zur Kenntnis genommen wurde, ist heute ein bedeutender Beleg für die Mannigfaltigkeit der menschlichen Natur. Zum Start der letzten Staffel von Germany’s next Topmodel hieß es in der FAZ:

»Zur Neueröffnung des Unterhaltungsgemischtwarenladens stehen zwar immer noch die gleichen Produkte in den Regalen, wurden aber umgetauscht und mit neuen Schildchen versehen. Statt ›Geil, was ist denn das für ein Freak‹ heiße es jetzt: ›Die ist aber auch schon eine Erscheinung‹, aus ›exotisch‹ werde ›extravagant‹ im Sinne von bisexuell, transgender, schwarz oder nicht normschlank.«23

Auf Demonstrationen sieht man Schilder, auf denen »Vielfalt«, »Ich bin bunt« oder einfach nur »Mehr Liebe« steht. Keine Umfrage kommt mehr ohne Menschen mit Migrationshintergrund, keine Modekampagne ohne asiatisches, schwarzes, behindertes Model, kein Werbespot für Sextoys ohne homosexuelles Paar aus, das begeistert davon erzählt, wie rasant sich sein Sexleben durch diesen neuen Dildo aus medizinischem Silikon entwickelt habe. Wer sich in den letzten Jahren nach Aufmerksamkeit sehnte, musste eigentlich nur den Finger heben und sich als irgendwas outen, was nicht der Norm entspricht – ein Interview, eine Fotostrecke oder eine Einladung in die nächste Talkshow waren ihr oder ihm so gut wie sicher. Hauptsache nicht gewöhnlich und ganz wichtig: nicht männlich, mittelalt, heterosexuell und womöglich festangestellt, also ein Repräsentant dessen, was seit der MeToo-Debatte das »toxische Geschlecht« genannt wird.

Das alles wäre eine begrüßenswerte Entwicklung, wenn sich die Forderung nach Vielfalt dabei nicht zu einer Erlösungsstrategie entwickelt hätte, die nach einer kulturkapitalistischen Logik funktioniert und sämtliche Ungleichheiten leugnet, die es zwischen Menschen nun mal gibt, während sie das Ideal der Gleichheit verabsolutiert. Es scheint eine Tendenz von liberalen Demokratien zu sein, ungleiche Menschen in einem falschen Verständnis von Gerechtigkeit gleich behandeln zu wollen. Sind erst mal alle Konflikte und Reibungsflächen im Namen der Vielfalt abgeschliffen, so die Illusion, müsste eine friedliche Gesellschaft möglich sein; dabei ist Dissens kein Kollateralschaden, sondern die Voraussetzung von Demokratie.

2019 sorgte der Rapper Samy Deluxe für Schlagzeilen, als er öffentlich gestand, dass Fußball für ihn der »Inbegriff von Rassismus« sei, weil Fans ihren Verein pauschal über einen anderen stellten. Mit derselben Logik, so der Musiker, könne man auch meinen, dass die eigene »Rasse« einer anderen überlegen sei.24 Man muss tatsächlich davon ausgehen, dass es Menschen gibt, die sportliche Wettkämpfe als ungerecht empfinden, weil am Ende der Bessere gewinnt. Die Soziologin Irmhild Saake berichtet sogar, dass sich das Versprechen der Gleichheit unter ihren Studierenden so überzeugend durchgesetzt habe, dass die es als komisch empfänden, wenn sich am Ende einer Diskussion das bessere Argument durchsetze, weil sie Mitleid mit dem ausgeschlossenen Argument hätten.25

Es klingt absurd, ist aber die logische Konsequenz, wenn emanzipatorische Errungenschaften wie Gleichheit, Toleranz und Rücksicht absolut gesetzt werden. Denkt man diese Logik weiter, gibt es am Ende keine Sportveranstaltungen, keine Gesangswettbewerbe, keine Talkshows, keine Diskussionen, keine Partnerschaften, ja eigentlich gar nichts mehr außer Stillstand und kaltem Respekt, weil keine Handlung, keine Aussage, keine Entscheidung denkbar ist, ohne dass sich jemand von ihr zurückgesetzt fühlen könnte. Der Philosoph Robert Pfaller scheint diese Toleranzexzesse im Blick zu haben, wenn er schreibt, dass am Ende vieler Emanzipationsstränge ein Rückfall in die Kindlichkeit stehe, eine Pseudopolitik, welche die Menschen infantilisiere, indem sie sie zur Empfindlichkeit ermuntere.26

Das Problem an der gutgemeinten Strategie ist, dass es sich in Wahrheit um eine Ausweichbewegung, um die Unmöglichmachung echter Vielfalt handelt, was man schon daran sehen kann, dass sich widersprechende Meinungen zu einem Thema immer häufiger als Problem für statt als Ausweis von Demokratie identifiziert werden. Es deutet einiges darauf hin, dass die liberale Idee dabei ist, sich in ihr Gegenteil zu verkehren, und die Schuldigen sind nicht nur rechte Spinner, sondern auch solche, die es besonders gut meinen und alles und jeden mit ihrem Respekt beglücken wollen.

Im Grunde ergeht es der Vielfalt nicht anders als der Transparenz und der Freiheit: Wo sie besonders vehement beschworen wird, verflüchtigt sie sich. Und wenn man sich die autoritären Methoden der digitalisierten Arbeitswelt und die Scheinheiligkeiten in den sozialen Netzwerken vor Augen führt, kann man nicht anders als festzustellen, dass unsere zur Schau getragene Toleranz in dem Maße steigt, in dem unsere Menschlichkeit schwindet.

In seinem Essay Die Monotonisierung der Welt beklagte Stefan Zweig vor knapp hundert Jahren, dass Amerika Europa mit seiner »fahrigen, nervösen und aggressiven Langeweile« kolonisiere – seitdem ist es schlimmer geworden:

»Alles wird gleichförmiger in den äußeren Lebensformen, alles nivelliert sich auf ein einheitliches kulturelles Schema. Die individuellen Gebräuche der Völker schleifen sich ab, die Trachten werden uniform, die Sitten international. Immer mehr scheinen die Länder gleichsam ineinandergeschoben, die Menschen nach einem Schema tätig und lebendig, immer mehr die Städte einander äußerlich ähnlich. (…) die Monotonie muß notwendig nach innen dringen. Gesichter werden einander ähnlicher durch gleiche Leidenschaft, Körper einander ähnlicher durch gleichen Sport, die Geister ähnlicher durch gleiche Interessen. Unbewußt entsteht eine Gleichhaftigkeit der Seelen, eine Massenseele durch den gesteigerten Uniformierungstrieb, eine Verkümmerung der Nerven zugunsten der Muskeln, ein Absterben des Individuums zugunsten des Typus.«27

Vielfalt, das heißt für uns, wenn es am Kiosk noch ein Frauenmagazin und an der Eisdiele nicht nur Erdbeere und Stracciatella, sondern auch serbische Himbeere und Safraneis gibt. Wenn immer noch ein Landstrich einen Tatort bekommt und wir im Schönheitssalon zwischen Complete, American und Brasilian Waxing, in der Stammkneipe aus 200 Gin-Sorten und in der Kantine zwischen Balsamico-, Malz-, Sherry- und Weinessig wählen können. Vielfalt, das sind Dutzende von Salamisorten, Raumduftaromen und Handytarifen – Otelo Allnet-Flat mit 5 GB & Highspeed-Option, Freenet Freeflat mit 2 GB, Vodafone CallYa Talk & SMS. Vielfalt ist vor allem eine absurde Menge an Überflüssigem wie beleuchtete Pfeffermühlen, internetaffine Rektalthermometer, Hängematten für Hamster. Soziologen sprechen von einer »Tyrannei der Wahl«, weil wir uns ständig zwischen Dutzenden von Optionen entscheiden müssen, egal ob wir ein Brot beim Bäcker oder einen Fickpartner für Samstagabend suchen.

»Mehr Biss, mehr Personality, mehr Show«, forderte Heidi Klum vor der letzten Staffel von Germany’s Next Topmodel. »Jeder Moment ist der einzige Moment.« Nichts darf sein, was es ist, alles muss mehr, besser, größer, geiler sein, ein Event, ein Erlebnis, wenn möglich ein einzigartiges. Wir werden nicht in Ruhe gelassen, permanent wird unsere Zufriedenheit torpediert, dauernd werden wir angestachelt und verführt. »Ich kann nie zufrieden sein, denn meine Wünsche sind endlos«, schrieb Erich Fromm vor vierzig Jahren. »Ich muss jene beneiden, die mehr haben als ich, und mich vor jenen fürchten, die weniger haben als ich.«28 Wie unsere Gier nach dem Neuen befeuert wird, zeigt ein Blick in die Mails der letzten Tage:

   Tobias Haberl, wir mussten an Sie denken (ebay.de)

   Sie wurden ausgewählt, Tobias Haberl (amazon.de)

   Wir haben eine Bitte an Sie, Tobias Haberl (flugboerse.de)

   Tobias Haberl, höchste Zeit für Ihren...