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Die Brillenmacherin - Historischer Roman

Titus Müller

 

Verlag Heyne, 2020

ISBN 9783641223632 , 480 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

1


Weißes Licht glitzerte auf dem Wasser der Karpfenbecken. Der Wind wehte die Schirmchen der Kuhblumen hinein und trieb sie wie kleine Schiffe vor sich her. Von Zeit zu Zeit schnappte ein Karpfenmaul danach.

Hinter den Gehöften stakten Krähen über die Felder. Sie stocherten mit ihren dicken Schnäbeln im Stroh nach vergessenen Körnern. Schafe blökten. Braybrooke schien ein idyllischer Ort zu sein, die Art, die der Wanderer in den Midlands für eine Mahlzeit und ein Bettlager auswählt, ein Dorf mit freundlichen Bewohnern.

Catherine lehnte an der letzten Eiche des Rockingham Forest und sah hügelabwärts auf die Ortschaft hinunter. Ihre Augen brannten.

Weiße Wollbausche schmückten den Himmel, die Luft strich warm über das Gras. Hinter den Karpfenbecken ragten fünf Türme aus dem Tal herauf, dunkle, hölzerne Finger. Der mittlere war bis zum ersten Knöchel aus Stein gemauert. Rote Fahnen schmückten die Türme, auf jedes Tuch ein goldenes Kreuz genäht.

Sie wischte sich Schlammspritzer aus dem Gesicht und polierte mit dem Ärmel den gläsernen Ring am Finger. Ihre Füße waren schwarz vom Straßenstaub.

Am Lederband entnahm sie dem Halsausschnitt ihres Kleides die hölzerne Dose. Sie drehte sie mit spitzen Fingern, öffnete den Deckel, zupfte den Lappen beiseite. Sie löste eine Brille heraus und bog die Rundungen am mittleren Nietgelenk auseinander. Zärtlich strich sie über die Einschnitte am oberen Rand der Fassung. Schließlich hielt sie sich die Brille vor die Augen. Ihre Finger griffen durch den Rahmen hindurch. Wo Gläser hingehörten, gähnten Löcher. »Diese bekommst du nicht, Elias. Diese nicht.«

Sorgfältig verpackte sie den Brillenrahmen wieder. Als sie die Dose unter das Hemd geschoben hatte, blickte sie mit zusammengekniffenen Augen auf Braybrooke Castle hinunter, löste sich vom Baum und stieg den Hügel hinab.

Dorfbewohner sammelten Äpfel am Rand der Straße und legten sie in geflochtene, bauchige Körbe. Als Catherine die Brücke erreichte, verstummte das Geschwätz der Dörfler, und sie hielten inne, um sie zu mustern.

Vor einem Haus saß ein alter Mann und nähte einen Schuh. Auf dem Schemel zwischen seinen Knien lagen Ahle, Leder und verschiedene Messer. Der Alte blickte nicht auf, als ihm Catherine einen guten Tag wünschte. Sie wartete einen Augenblick, dann sagte sie etwas lauter: »Ich würde Euch gern um eine Auskunft bitten.«

»Müsst nicht brüllen.« Seine brüchigen Lippen entblößten Zahnlücken.

»Ich suche den Brillenmacher.«

»Ihr seid eine Fremde. Wer schickt Euch?«

»Niemand schickt mich. Könnt Ihr mir sagen, wo ich Elias Rowe finde?«

Bedächtig las der Alte seine Werkzeuge zusammen und klemmte sich zum Schluss noch den Schuh unter den Arm. »Hier gibt es keinen Brillenmacher. Geht, schnüffelt woanders.« Damit verschwand er im Haus.

»Ich habe freundlich gefragt.« Sie sah zur Burg hinüber, setzte sich in Bewegung. Sie passierte die vier Karpfenbecken, Wasserbäuche voller Tiere, Fischgefängnisse. Männer standen oben auf den Wällen und streuten Getreide in die Teiche. Drei von ihnen schleppten ein Netz zur Burg. Beflosste Tierleiber hingen darin und tropften. Catherine wich den Pfützen aus.

Größer und größer wuchs die Burg. In das dunkle Holz waren Schießscharten eingelassen. Wo der Weg die Mauer berührte, sprang ein Einlasshaus vor. Catherine sah an den eisenbeschlagenen Torflügeln hinauf. Als sie anklopfte, hörte man nichts. Das Holz wies ihre Hand ab wie eine lästige Mücke.

Sie drehte sich herum und blickte den Weg zurück. Tränen standen ihr in den Augen. Catherine holte mit dem Fuß aus, trat gegen das Tor.

Eine kleine Tür öffnete sich. »Was willst du?« Der Wächter roch nach Schweiß.

»Ich suche Elias Rowe.«

»Kenne ich nicht.«

»Er ist Brillenmacher. Arbeitet er nicht für Sir Latimer?«

»Oh, der Brillenmacher.«

»Ich bringe ihm Material.«

»Davon weiß ich nichts. Wie ist dein Name?«

»Catherine.«

»Warte hier.«

Der Wächter schloss die Tür. Nun schwiegen die Mauer, die Türme. Nur die Fahnen fingen geräuschvoll den Wind. Es roch nach altem Holz und nach Fischinnereien.

Endlich erschien der Wächter erneut. »Er ist sehr erstaunt, aber er sagt, er kennt dich.« Er hielt ihr die Tür auf.

Stumm überquerten sie den Burghof. Zwei Pferdeknechte striegelten einen Rappen. Ihre Bürsten hinterließen Bahnen im Fell des Tiers, auf denen die Sonne glänzte. Der Hahn, der sich auf dem Misthaufen daneben in die Brust warf, beachtete das Pferd nicht; er legte ruckhaft den Kopf schief und besah Catherine, als überlegte er, ob er sie in seinem Reich dulden würde oder nicht.

Vor einem Turm blieb der Wächter stehen. »Störe ihn nicht zu lange. Der Herr wünscht, dass der Brillenmacher unbehelligt arbeiten kann.«

»Hat er nicht gesagt, wer ich bin?«

»Was meinst du?«

»Ich bin seine Ehefrau.« Sie drückte die Tür auf. Talgkerzen flackerten in der Dunkelheit. Zuerst nahm Catherine die breite Treppe wahr, die in das nächste Stockwerk hinaufführte. Dann erfasste ihr Blick die Werkzeuge auf den Tischen: Zangen, Feilen, Schleifschalen, Hämmer, Zirkel, Bohrer, Messer, Sägen, Hobel, dazu Rohglasplatten, Schmirgel, Säckchen mit Zinnasche und Uhrensand, Brettchen von Lindenholz.

Elias stand über einen der Tische gebeugt. Das weiße Haar wucherte ihm schon wieder weit über den Nacken, ihn kümmerte so etwas nicht. Seine Schultern kündeten Kraft, aber sie waren gekrümmt von der Arbeit. Ohne auf seine Hände zu schauen, wusste sie sofort, was er tat: Er führte die Glasfeile über eine Linse. Seine gleichmäßigen Bewegungen verursachten ein feines, schabendes Geräusch. Dann und wann hob er die Linse in die Höhe und fuhr mit dem Daumen über ihren Rand.

»Elias, ich weiß, das wird dir nicht gefallen.«

Das Schleifen brach ab. Langsam richtete der Brillenmacher sich auf, legte die Linse und die Feile aus den Händen. Er drehte sich um. Die weißen Augenbrauen fuhren in die Höhe. »Also hat der Torwächter die Wahrheit gesagt. Du bist mir nachgereist. Was ist geschehen?«

»Seit Wochen warte ich auf deine Rückkehr.«

»Ah.« Er lächelte milde, wendete sich ab und nahm die Arbeit wieder auf.

»Elias!«

Er legte die Feile aus der Hand und griff nach einem Lederlappen. Sorgfältig polierte er den Rand der Linse und prüfte immer wieder mit dem Daumen nach.

»Ich möchte mit dir reden, Elias.«

»Siehst du die Brillenfassung dort hinten? Bring sie mir.«

Catherine holte den hölzernen Rahmen und legte ihn neben ihrem Mann ab. »Warum lässt dich Sir Latimer nicht gehen?«

»Meine Arbeit ist noch nicht abgeschlossen.«

»An Ägidien wäre ich gern wieder zu Hause. Mit dir.«

»Du weißt, dass ich diesen Ort nicht verlasse, bis ich die passende Brille für Sir Latimer hergestellt habe.«

»Warum dauert es so lange? Du bist seit neun Wochen hier. Du fehlst mir.«

Er nahm auf einem Schemel Platz und dehnte vorsichtig den Brillenrahmen, wo das kreisrunde Holz eingeschnitten war. In die Öffnung hinein presste er eine der Linsen. Es knackte leise, als sie sich in die dafür vorgesehene Kerbe fügte. Der Rahmen schloss sich. »Verzeih, Catherine. Ich habe oft an dich gedacht. Du weißt, ohne Ausdauer ist den Augenleiden nicht beizukommen.«

»Wie viele Linsen hast du Sir Latimer schon geschliffen?«

»Dort hinten, die Kiste.«

Es war eine lange, schmale Holzschachtel, von Querstreben in kleine Fächer unterteilt. In jedem Fach klemmten zwei Linsen. Vierzig mochten es sein oder fünfzig. »Bist du dir sicher, dass du ihm helfen kannst?«

»Natürlich. Er hat die üblichen Beschwerden. Auf der Jagd sieht er gut, aber er kann nicht lesen. Zuletzt konnte er die Schrift nur noch erkennen, wenn er das Buch weit von sich gestreckt hat, und inzwischen muss er einen Schreiber bitten, ihm das Gewünschte vorzutragen. Wer für die Ferne blind ist, dem können wir nicht helfen.«

»Du hast ihm so viele Linsen vorgehalten. Was lässt dich glauben, dass du noch Erfolg haben wirst?«

»Die Linsen haben etwas bewirkt, allerdings hat keine es geschafft, dass er klar sieht. Am Anfang war ich nah dran, dann wurde es schlechter, und jetzt nähere ich mich wieder der richtigen Linse, obwohl ich viel dickeres Glas verwende.«

»Wie merkwürdig.«

»Thomas Latimer ist ein einflussreicher Mann, erst vergangenes Jahr wurde er vom Feldzug gegen die Schotten freigestellt, um die Mutter des Königs zu beschützen. Ich werde ihm eine Brille schaffen, die ihm die Sicht seiner Jugend zurückgibt.«

»Und was ist mit deiner Frau?«

Elias stand auf. Sich leise räuspernd, trat er an Catherine vorüber, wickelte einige Rohglasscheiben aus ihrer Hülle und hielt sie vor ein Talglicht. Im gelbgrünen Glas schimmerten Beulen, Luftblasen und kleine Einschlüsse. Er murmelte: »Vielleicht sollte ich noch einen Versuch mit diesem dicken Barillaglas machen.«

Catherine trat an den Werktisch heran. Sie zog das Trenneisen hervor und drehte es in der Hand. »Darfst du hier im Turm Feuer machen, um das Eisen zu erhitzen?«

»Bitte!« Seine Stimme schlug hart gegen die Wände. »Lege es weg.«

»Aber du brauchst es jetzt.«

»Richtig, ich brauche es. Ich werde es mir nehmen, wenn ich so weit bin.« Er legte die Glasscheibe ab. In ein kleines Schüsselchen stäubte er etwas Kreide hinein und goss aus einem Becher Wasser hinzu. Er...