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Im Leben mehr Glück - Reden und Schriften

Erich Hackl

 

Verlag Diogenes, 2019

ISBN 9783257609479 , 432 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

10,99 EUR


 

Heimatkunde


Alphabet mit Auslassungen


Stichworte zum Thema Heimat, Land, Geschichte

ARBEIT Wer über ungetrübte Erinnerungen seiner Vorfahren verfügt, wird das Leben auf dem Land nicht a priori für das gesündere halten. Berichte von Mühsal und Armut, beides gemildert durch das Versprechen auf ein Jenseits, in dem die Äcker weniger steinig sind, die Rücken weniger gekrümmt … Aber ebensosehr wie die detailfreudigen Schilderungen meiner Eltern, die im Unteren Mühlviertel aufgewachsen sind, hat mich ein erfindungsreiches Gedicht des Schriftstellers Wulf Kirsten beeindruckt. Kirsten lebt seit langem in Weimar, stammt jedoch aus der Gegend um Meißen, deren Massiv wie das Mühlviertel aus Granit besteht, und ist dem ländlichen Österreich wie dessen kritischen Chronisten – vor allen anderen dem Kärntner Michael Guttenbrunner, dem Oberösterreicher Franz Kain – eng verbunden gewesen. Kirstens Vater war Steinmetz, seine Mutter ging zu Bauern arbeiten. Sie hatten fünf Kinder und ein Stück Land, das ihnen im Zuge der Bodenreform in der Sowjetisch Besetzten Zone 1945 übereignet wurde; das Gedicht die ackerwalze handelt davon, wie sie mangels Zugviehs sich selbst ins Joch spannten und statt einer eisernen Walze, die nicht aufzutreiben war, eine gestürzte Grabsäule übers Feld zogen, »bergauf, bergunter«, um Erdklumpen zu zerdrücken, das Saatbeet zu bereiten. Ihre Schinderei ist, im Gedicht, aufgehoben in der im Lehm sich abzeichnenden Inschrift auf dem gerundeten rollenden Grabstein: »geliebt, beweint und unvergessen«.

 

BRÜDERLICHKEIT Ohne Verweis auf ihre Seelenlandschaft lassen sich Leben, Werk und Gesinnung der Linzer Arbeiterschriftstellerin Henriette Haill nicht begreifen. Im Mühlviertel, hat sie einmal gesagt, sei sie aufgegangen, »als wenn ich es selbst gewesen wäre. Das Hohe, das Gigantische ist mir nichts, mir ist nur das Kleine, wie ich selbst bin, etwas. Die Hügel, die kleinen Erhebungen, das Herbe. Das Mühlviertel ist ja herb im Winter. Mich hat das Herbe so angezogen.« Darüber hat sie unzählige Gedichte, auch in Mundart, und viele Erzählungen verfaßt. Aber nicht diese will ich jetzt würdigen, sondern eine Reminiszenz aus dem Ersten Weltkrieg, bei der sich Haills Tugend erweist, mit dem Herzen eines anderen zu fühlen. Damals, 1915, mußten russische Kriegsgefangene einen alten Wasserspeicher am Linzer Römerberg instand setzen. Mit einem der jungen Männer, Porf‌iri Oleschko, freundete sich die elfjährige Jettel an. Porf‌iri erzählte ihr von seinen Eltern, den Geschwistern, der Not zu Hause in Odessa und davon, daß er im Krieg, aus revolutionärer Überzeugung, nicht auf die österreichischen Soldaten geschossen habe. Nach beendeter Arbeit, ehe der zerlumpte Trupp wieder abgezogen wurde, küßte er die rauhe, rissige Hand ihrer Mutter und strich dem Mädchen übers Haar, während er ihr seine Wahrheit zuflüsterte: »Du darfst nicht vergessen Porf‌iri Oleschko, einmal nicht mehr Krieg, einmal alle Brüder.« Haill sah ihn noch einmal, nach Wochen, auf einem Gerüst am neuen Linzer Dom, wo die Gefangenen Handlangerdienste verrichten mußten. »Ich winkte und rief nach ihm, er aber sah und hörte mich nicht. Er stand und blickte nach Osten, wo in weiter Ferne Brüder einander immer noch töteten und seine arme, verwüstete Heimat lag.«

 

CHRISTKINDL, BESITZANZEIGEND Elektropost aus einer Heimat, die weder arm noch verwüstet ist, genau hundert Jahre später. Erstens: »Sehr geehrter Herr Hackl, wir möchten keine Flüchtlinge in unserer Christkindlsiedlung. Wir sind ganz sicher, dass Ihre Mutter das auch nicht gewollt hätte. Mit freundlichen Grüßen Ihre Gegenübernachbarn ███ ████ ███████ Von meinem iPhone gesendet 4400 Steyr.« – Zweitens: »Sehr geehrter Herr Hackl! Ich habe von Ihrem direkten Nachbarn in der Goldbacherstraße, Steyr Herrn Schober erfahren, dass Sie überlegen im Haus Ihrer verstorbenen Mutter Asylanten oder Flüchtlinge unterzubringen. Ich möchte Ihnen – nachdem ich Sie bislang nicht erreichen konnte – auf diesem Weg mitteilen, dass ich in unserer Siedlung keine Flüchtlinge oder Asylanten einquartiert haben möchte und ich mir das auch offen zu sagen traue. Mit freundlichen Grüßen aus der Wegererstraße Mag. Gerhard ██████ 4400 Steyr.«

 

DEFINITIONEN Die erste stammt vom spanischen Dichter Antonio Machado, der in der andalusischen Metropole Sevilla aufwuchs und in der kastilischen Kleinstadt Soria seine Erfüllung fand. Uno es de donde nace al amor, no a la vida, lautete seine Botschaft. »Einer ist von dort, wo er zur Liebe erwacht, nicht zum Leben.« Den zweiten Satz hat Machados Landsmann Max Aub geschrieben, der in Paris geboren und im mexikanischen Exil gestorben ist: Se es de donde se hace el bachillerato. »Man ist von dort, wo man die Matura macht.« Wo man also erste Bindungen außerhalb des Elternhauses eingeht, nach Orientierung sucht, das Bewußtsein von Recht und Unrecht schärft, Wissen und Ohnmacht im Umgang mit Lehrern und anderen Erwachsenen erfährt. Die dritte schlüssige Definition hat der Dramatiker Heiner Müller gegeben, im Monolog Ajax zum Beispiel, sie lautet kurz und bündig: »Heimat ist / Wo die Rechnungen ankommen sagt meine Frau.«

 

EINMAL NOCH … schrieb mein Vater am 13.3.1982 auf ein Blatt Papier, unter der Überschrift »Gedanken in der Intensivstation« … »möchte ich vorm Haus auf der Gasse beim Wasser spielen / neben dem Fluder kleine Wasserräder laufen lassen / in der Hammerschmiede spielen, den Wasserrädern zuschauen / mit Onkel Hans den Wehrkanal bis zur Weißen Aist abgehen / am Sonntag vorm. während des Hochamtes den Reiterweg mit meiner Großmutter begehen / mit meiner Mutter die Gärten spritzen / mit Tante Gusti in die Maiandacht gehen / in der Mühlkammer Holz bearbeiten u. basteln / auf dem Mühlboden alte Bücher und Schriften anschauen und lesen / dem Müller Onkel Max in der Mühle helfen / auf dem Mühlanger herumlaufen und in der Waldaist baden / meiner Mutter beim Brotbacken im großen Backofen helfen / im Herbst bei der Flachsbearbeitung mithelfen / Freunden und Gästen in der großen Stuben an langen Winterabenden zuhören / möchte ich Wiesen, Felder und den Wald begehen / dem Köhler das Essen bringen und beim Kohlenziehen helfen / den Handwerkern zusehen und kleine Hilfsdienste leisten / einmal noch möchte ich ein Kind sein wie vor 56 Jahren!«

 

FREUNDSCHAFT In Erinnerung der Partisanentätigkeit im Salzkammergut würdigte Franz Kain die Bedeutung der Großfamilie. Entfernte Verwandte, zu denen früher kaum noch Beziehungen bestanden hatten, seien den von den Nazis Gejagten beigestanden. »Eine alte, im Dialekt noch durchaus lebendige Bezeichnung für die Verwandtschaft ist ›Freundschaft‹. Der Ausdruck ›wir sind in der Freundschaft‹ heißt soviel wie ›wir sind miteinander verwandt‹. Diese Freundschaft hat sich bewährt in der schwersten Zeit als eine Freundschaft auf Leben und Sterben. Tauf- und Firmpaten, meist nur noch Formalität und freundliche Gefälligkeit, bekamen das Gewicht echten und tapferen Beistandes. Viele dieser ›Godn‹ und ›Gödn‹ haben in bewundernswerter Solidarität unter Einsatz ihres eigenen Lebens das der tödlich bedrohten ›Patenkinder‹ gerettet.« – Auch unter der Francodiktatur half der Familienzusammenhalt oft über politische Abgründe hinweg. Der österreichische Spanienfreiwillige Josef Kotz, der während des Bürgerkriegs Josefa Gimeno Charco geheiratet hatte und kurz vor der Niederlage der Republik nach Frankreich geflohen war, kehrte 1940, nach dem Überfall Deutschlands auf Frankreich, heimlich nach Barcelona zurück, wo er unter seinem katalanisierten Namen José Cots als Chauffeur arbeitete. Obwohl sie mit den Frankisten sympathisierte, hielt seine Schwägerin ihre schützende Hand über ihn, so daß er bis Ende des Zweiten Weltkrieges von politischer Verfolgung verschont blieb. 1946 ließ er sich mit Frau und vier Kindern repatriieren.

 

GEFALLEN Hier die Erinnerung des spanischen Chemieprofessors Miguel Ángel Alario Franco, mitgeteilt in einem Leserbrief an die Tageszeitung El País: Im April 1965 war Miguel Ángel zusammen mit vierzig anderen jungen Leuten nach Perpignan gefahren. »Uns zog Europa an, ein magischer, beinahe mythischer Begriff für unsere Generation. Die Freiheit sehen. Vielleicht war das unser eigentliches Reiseziel gewesen.« Dort in der südfranzösischen Stadt begegnete er einem etwa dreißigjährigen Mann, ärmlich gekleidet, der einen zwei- oder dreijährigen Jungen an der Hand führte. Der Mann war Spanier, vertrieben mitsamt seinen Eltern. Als er herausfand, daß Miguel Ángel geradewegs von dort kam, fragte er: »Darf ich dich um einen Gefallen bitten?« – »Ja natürlich«, sagte Miguel Ángel ein wenig überrascht. »Kannst du dem Jungen einen Kuß geben?« Und wie um sich zu rechtfertigen, fügte er hinzu: »Es ist … weil ihn noch nie jemand aus Spanien geküßt hat.«

 

HEIMWEH Frage Nr. 5 aus Max Frischs...