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Rügener Inferno: Kommissarin Burmeisters dritter Fall. Inselkrimi

Sylvia Voigt

 

Verlag Schardt Verlag, 2018

ISBN 9783961521586 , 412 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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12,99 EUR


 

EINS


 

Endlich hat der Frühherbst Einzug gehalten. Die Jahreszeit, die ich so sehr liebe. Die Strahlen der bereits tiefer stehenden Sonne tauchen die Natur in ein dezentes Licht und besitzen trotzdem noch genügend Wärme. Da es am Morgen geregnet hat, steigt nun Dampf vom Waldboden auf, der für beeindruckende lichtdurchflutete Nebelschleier sorgt. Wieder einmal hat es mich in den Jasmunder Nationalpark verschlagen. Er ist mein beliebtester Rückzugsort, und ich bin nicht böse, dass der Touristenansturm langsam verebbt.

Sehr vorsichtig trete ich an den Rand des Hochuferweges, darauf bedacht, mindestens drei Schritte Sicherheitsabstand zu wahren. In den vergangenen Tagen hat es sintflutartig geregnet, und die Kreide ist extrem aufgeweicht. Einiges hat sich in letzter Zeit verändert. Dort, wo vor kurzem noch Bänke an besonders schönen Aussichtsplattformen zum Verweilen einluden, flattert jetzt Absperrband. An jeder Kurve weist ein Schild auf die Gefahren hin, denen man sich aussetzt, wenn man zu nahe an die Felskante tritt. Mit unserer malerischen, aber bröckeligen Kreideküste ist nicht zu spaßen.

Wie gebannt schaue ich durch die Bäume auf das türkis schimmernde Wasser der Ostsee und die intensiv weiß leuchtenden Kreidefelsen. Der Kontrast ist überwältigend.

Der Baumbestand im kleinsten Nationalpark Deutschlands besteht fast ausschließlich aus Rotbuchen. Da die vergangenen Nächte bereits empfindlich kalt waren, machen sie ihrem Namen derzeit alle Ehre. Ihre Blätter leuchten im Licht der untergehenden Sonne in einem magischen Rot. Nicht mehr lange, dann bedecken sie zentimeterdick den Waldboden und vermitteln das Gefühl, auf einem weich gepolsterten rot-braunen Teppich zu laufen. Es ist beeindruckend, mit welch verschwenderischer Farbenvielfalt die Natur auf unserer Insel regiert.

Ich hoffe, dass niemand auf die Idee kommt, den Nationalpark einzuebnen. Seit man im Frühjahr fast dreihundert altehrwürdige Buchen rings um Sassnitz fällte, rechne ich mit dem Schlimmsten. Die Rodungsaktion begründete man zwar damit, dass die stolzen Riesen durch Umfallen zur ernsten Bedrohung werden könnten, doch nicht jeden Naturliebhaber konnte das restlos überzeugen. Manche vertraten die Meinung, dass jede zweite Buche nur gefällt wurde, weil die Motorsägen nun einmal heiß gelaufen waren und die Chance, legal allerhand Geld zu verdienen, redlich ausgenutzt werden sollte. Während mein älterer Kollege Wilfried Winterstein, genannt Willi oder auch Williwi, die Rodungsaktionen relativ leidenschaftslos verfolgte, erregte sich mein junger Kollege Andy Bollermann, genannt Bolle, in hohem Maße. Er warf Willi und mir und auch dem Rest der menschlichen Bevölkerung auf Rügen vor, unsere Naturschönheiten nicht gebührend zu schätzen. „Ihr nehmt das Meer und die einzigartige Landschaft einfach so als gegeben hin“, hielt er uns in einem leidenschaftlichen Plädoyer vor. Und da war er bei Weitem nicht der Einzige. Vor allem bei den Besuchern und Touristen unserer Insel stieß die Aktion auf wenig Gegenliebe. Sogar als sie schon abgeschlossen war. Denn die Holzindustrie hielt es nicht für nötig, die gewaltigen Überreste der gefällten Baumriesen umgehend zu beseitigen. Man ließ sie einfach mal so am Straßenrand liegen. Dieser Anblick erbarmungswürdiger Reste einst stolzer Bäume sorgte dann schon für Unverständnis. Und Naturfreunde schimpften über den aus ihrer Sicht übertriebenen Kahlschlag.

Mit Wehmut denke ich an die vielen gefällten Alleebäume auf unserem Inselparadies, die breiteren Straßen weichen mussten, damit die Touristen schneller zu ihrem ersehnten Ziel kommen können. Und nicht selten musste der eine oder andere altehrwürdige Baum vor seiner Zeit weichen, weil er neuen Bauprojekten im Wege stand. Die entscheidende Frage wird letzten Endes sein: Was bringt mehr Geld?

Mit einer energischen Handbewegung wische ich die zugegebenermaßen sehr düsteren Gedanken beiseite. Ich betrachte ein meterbreites, von den Naturelementen freigelegtes Wurzelgeflecht einer über dem Abhang schräg in der Luft stehenden Buche. Dann laufe ich langsam weiter und blinzle, da mir die untergehende Herbstsonne ins Gesicht scheint.

Durch meinen Kopf kreiseln die Gedanken, und meine Gefühle fahren Achterbahn. Mein Sohn Sebastian feilt mit seiner Liebsten an den gemeinsamen Ausreiseplänen. Noch immer ist Down Under ihr erklärtes Ziel. Schneewittchen, die mit weltlichem Namen eigentlich Franziska heißt, hat sich mittlerweile daran gewöhnt, dass ich sie mit dem Namen der Märchenfigur anspreche. Die Ähnlichkeit ist aber auch frappierend. Was mein Sohn an seiner Franzi findet, bleibt berechtigterweise sein Geheimnis. Viel kann es nicht sein. Wenn sie weiterhin so stark raucht und nur Körner pickt, wird ihr Schatten in absehbarer Zeit kaum voluminöser als der einer Zaunlatte sein.

Meiner übergriffigen Mutter habe ich immerhin eine neue Beziehung im weitesten Sinne zu verdanken. Sie erweist sich als stabil und entwickelt sich zu einem wahren monatlichen Höhepunkt. Ich bin mit Herrn Gunthau übereingekommen, die restlichen fünfzehn Therapiestunden so aufzuteilen, dass ich noch einen beruhigenden Zeitraum damit abdecken kann. Denn die Therapiestunden habe ich bitter nötig. Mittlerweile weniger wegen meiner Mutter, aus deren Spinnennetz ich mich nach und nach zu befreien suche. Vielmehr Kopfzerbrechen und seelische Schmerzen bereitet mir meine neue Dienstvorgesetzte Frau Leitmeyer-Mummelthey, der Zeitersparnis halber auch Leitkuh genannt. Sie ist meine erklärte Lieblingsfeindin.

Auf Abstand bedacht, trete ich an die Felskante. Erst vor wenigen Monaten bezahlte eine junge Frau ihre Unaufmerksamkeit oder ihren Leichtsinn mit dem Leben. Sie kam ins Straucheln und stürzte fast sechzig Meter in die Tiefe. Sinnbildlich gesprochen stehe ich jeden Morgen vor so einem Abgrund. Immer dann, wenn ich vor unserem mausgrauen Präsidium stehe und mir die Frage stelle, ob ich den Dienst antreten soll oder nicht. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich unserer Leitkuh begegne, liegt zwar unter fünfzig Prozent, denn die Tür zum ihrem Büro ist fast immer geschlossen, trotzdem darf man die Möglichkeit eines Aufeinandertreffens nicht gänzlich außer Acht lassen. Flur und Toilette bergen ein nicht zu unterschätzendes Gefahrenpotenzial.

Warum ich mich auf die freie Stelle nicht beworben habe, wird für immer mein Geheimnis bleiben. Die Chance war da. Sie wird nie wiederkommen. Und ich werde ein Leben lang darunter leiden. Ich tröste mich mit der Redewendung meiner Mutter, die ich zeitlebens von ihr zu hören bekomme: „Tja, mein Mädchen. Ich habe es dir schon immer gesagt. Dir ist einfach nicht zu helfen.“

Der Sturm zerrt an meiner Jacke und reißt mir die Kapuze vom Kopf. Obwohl mir kalt ist und ich mich beeilen müsste, um nicht zu spät bei Bollermann einzutreffen, bleibe ich wie angewurzelt stehen. Die hohen Wellen unter mir rollen rauschend auf die Küste zu. Mit einem gewaltigen Tosen bringen sie das Land zum Zittern. Endlich reiße ich mich los und beende schnell meinen Spaziergang.

An der Weddinger Buswendeschleife habe ich meinen neuen Škoda geparkt, auch wenn man hier gar nicht mehr parken darf. Ich tue mich schwer bei der Namenssuche. Sein Vorgänger hörte auf Václav. Ein typischer tschechischer Name sollte es schon sein. Noch schwanke ich zwischen Jiří und Jakub. Kurze Zeit später klingle ich bei Andy Bollermann. Er hat uns zu einem Grillabend eingeladen. Im ersten Moment glaubte ich, Bolles Geburtstag vergessen zu haben, aber er begründete seine Einladung damit, dass das Leben kurz sei und man auch ohne die üblichen Anlässe durchaus zusammenkommen dürfe. Anstatt der obligatorischen Flasche Wein habe ich selbstgefertigten Kartoffelsalat mitgebracht. Ich habe ihn in meine größte Schüssel gefüllt und hoffe, der Berg reicht für alle Anwesenden. Denn Bolle hat auch unser Nesthäkchen, Oliver Teichert, eingeladen. Teichert ist Anfang zwanzig, IT-Experte und trotz größter theoretischer Bemühungen, abzuspecken, nach wie vor ein gewaltiger Fleischbrocken. Ich habe meine anfängliche Feindschaft mit ihm begraben und bereue das nicht im Geringsten. Zumindest vorläufig nicht.

„Hier geht es lang“, sagt Bolle und führt mich durch die Wohnung auf die hintere Terrasse. Winterstein steht mit karierter Schürze am Grill und winkt mir zu. „Guten Abend, Jungs“, rufe ich freundlich in die Runde und mache mich nützlich, indem ich den Tisch decke. Teicherts Augen strahlen, als er die Schüssel voller Kartoffelsalat sieht. „Ich habe Tomatensalat mitgebracht“, ruft er mir zu und zeigt stolz auf seine Kreation. Die Schüssel ist noch größer als meine, und der Salat sieht echt verlockend aus. Ich bin optimistisch, dass wir im Verlaufe des Abends keine Reste übriglassen werden. Bolle schleppt einen Kasten Bier heran. „Brauchst du ein Glas?“, fragt er mich. „Nicht unbedingt“, erwidere ich, während ich mich zu ärgern beginne, kein Taxi genommen zu haben. Bolle war vor Kurzem im sächsischen Freiberg, seiner Heimatstadt, und hat mehrere Kästen Bier mitgebracht. Er ist der Meinung, dass es keine andere Sorte mit dem Freiberger aufnehmen kann. „Nu gugge...