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State of Emergency - Die Katastrophe

Marc Cameron

 

Verlag Festa Verlag, 2019

ISBN 9783865527585 , 100 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

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4,99 EUR


 

1

Arlington, Virginia

16. Dezember, 11:10 Uhr

Jericho Quinn drehte am Gashebel der stahlgrauen BMW R 1200 GS Adventure und genoss die zusätzlichen Pferdestärken, die nötig waren, um mit dem hektischen Puls des Stadtverkehrs von D. C. mitzuhalten. Sechs Wagen weiter setzte der Mann, den er töten wollte, den Blinker und wechselte mit seinem waldgrünen Ford Taurus auf die linke Spur.

Die BMW war ein wuchtiges Motorrad, ähnlich aggressiv wie ein mechanisches Raubtier aus einem Science-Fiction-Film. Groß genug, um mit vorbeiziehenden Autos auf Augenhöhe zu bleiben. Dabei beschleunigte sie enorm schnell für etwas, das manche als Motorrad-Version eines zweistöckigen Gebäudes betrachteten.

Selbst voll auf sein Ziel fixiert blieb Quinn wachsam. Das Fahren auf einem Bike verlangte ständige Aufmerksamkeit. Sein Vater ermahnte ihn andauernd: Tu so, als wären alle anderen auf Crack und darauf aus, dich umzubringen. Obwohl er schon als kleiner Junge in Alaska Motorrad gefahren war, wurde in Wahrheit jedes Mal, wenn er die Straßen eroberte, eine intensive Hyperwahrnehmung in ihm aktiviert. Wie früher, als er zum ersten Mal einen verwundeten Braunbären aufgestöbert, im Irak außerhalb des Basislagers operiert oder ein Mädchen geküsst hatte.

Es erforderte Konzentration, den Taurus im starken Nachmittagsverkehr zu verfolgen, aber von jeder Auffahrt, jeder Kreuzung und jedem Auto in seiner Nähe ging die Gefahr einer Kollision aus. Die Briten bezeichneten so etwas als SKIHDNG-Unfälle – Sorry, Kumpel, ich hab dich nicht gesehen. In seiner Kindheit war kaum ein Sommer vergangen, in dem er und sein Bruder Bo nicht aufgrund einer solchen Begegnung mit einem geistesabwesenden Fahrer in einer Art Gipsverband gelandet waren.

Und trotzdem fuhren sie weiter, weil sich das Risiko lohnte. In seiner Jugend stellten er und sein kleiner Bruder fest, dass die Meilen, die man auf dem Sitz eines Motorrades verbrachte, wie Hundejahre zählten – irgendwie kostbarer als eine gewöhnliche Meile.

Quinn verfolgte den Kleinwagen von Ford jetzt wie eine Rakete, wechselte am Autobahnkreuz Pentagon/Crystal City von der 395 auf die linke Spur, nahm dann die Auffahrt zum Jeff Davis Highway. Er ließ sich dabei ein gutes Stück zurückfallen und behielt drei Fahrzeuge als Puffer zwischen sich und dem Zielobjekt, gab abwechselnd Gas und trat auf die Bremse, ähnlich flexibel wie eine Slinky-Spirale. Der Taurus wechselte auf den rechten Fahrstreifen. Quinn warf einen Blick über die Schulter und nahm, indem er seinen Körper leicht neigte, die Verfolgung auf.

Zum Schutz vor der feuchten Kälte des Washingtoner Dezembers trug er eine schwarze Transit-Motorradjacke aus schwerem, mikroperforiertem Leder mit dazu passender Hose. Der Aerostich-Anzug war wasserdicht und verfügte über einen abnehmbaren Aufprallschutz, der ihn vor jeglicher Kollision mit dem Asphalt schützte. Quinns Boss hatte dafür gesorgt, dass der Shop, eine Unterabteilung von DARPA – der Defense Advanced Research Projects Agency –, die beeindruckende Vielseitigkeit des Anzugs um eine schusssichere Weste der Klasse IIIA für herkömmlichen ballistischen Schutz sowie um ein paar weitere Modifikationen, etwa ein hauchdünnes Kühl- und Heizsystem, ergänzte. Seine Kimber 10-Millimeter-Pistole, eine kompakte Beretta Kaliber 22 mit XCaliber Schalldämpfer sowie ein japanischer Morddolch aus dem 13. Jahrhundert, liebevoll Yawaraka-Te – oder Sanfte Hand – genannt, waren gut unter der schwarzen Jacke versteckt. Ein grauer Arai-Helm verbarg Quinns kupferfarbenen Teint und den dunklen Zweitagebart.

Sie waren von Downtown gekommen, auf der Constitution Avenue vorbei am Capitol, durch den Tunnel auf der Third Street und auf die 395. Trotz der Mittagszeit schien die Rushhour in D. C. im Lauf des Werktags nur leicht abzuebben und die tief stehende Wintersonne wurde von einem Strom aus Fahrzeugen reflektiert. Der Taurus sah bemerkenswerterweise so aus wie 80 Prozent der anderen Limousinen auf der Straße, deshalb musste Quinn sich beim Spurwechsel konzentrieren, um inmitten des Verkehrsstroms nicht den Überblick zu verlieren.

Beim Gedanken daran, wer in dem Auto saß, sträubten sich Quinns Nackenhaare. Nachdem er ein Jahr lang kaum etwas anderes getan hatte, als sich zurückzulehnen und zu observieren, juckte es ihn in den Fingern, etwas zu unternehmen. Es schien, als hätte ihm Hartman Drake die Chance dazu gegeben. Leute, die es gewohnt waren, sich von Kobe-Steak und Champagner zu ernähren, wechselten nicht urplötzlich zu Hamburgern und Leitungswasser. Der Sprecher des Repräsentantenhauses war sicherlich ein stilvolleres Fortbewegungsmittel als die schlichte vanillefarbene Limousine gewohnt. Es hatte einen Grund, weshalb seine Wahl auf den unauffälligen Taurus gefallen war.

Agenten des Air Force Office of Special Investigations waren in den Reihen der Strafverfolgungsbehörden als Experten im Umgang mit vertraulichen Quellen bekannt. Fahrzeugüberwachung ging mit dieser speziellen Kompetenz Hand in Hand. Als OSI-Agent und Veteran zahlreicher Einsätze in den ›sandi-stans‹ dieser Welt verfügte Quinn über eine umfassende Ausbildung in beiden Disziplinen. Jetzt, als Agent der Other Government Agency, kurz OGA, der unmittelbar für den nationalen Sicherheitsberater des Präsidenten arbeitete, hatte er reichlich Gelegenheiten, diese und andere Fähigkeiten, die eher seiner Persönlichkeit entsprachen, regelmäßig zum Einsatz zu bringen.

Er fasste hoch und öffnete das Visier seines grauen Arai einen Spaltbreit, um einen Hauch der kalten Winterluft einzulassen. Ein Airbrush-Gemälde aus gekreuzten Streitäxten, von denen sirupartiges Blut tropfte, verzierte die Seiten des Helms. Zusammen mit dem schwarzen Leder und der aggressiv vorspringenden Spitze der BMW 1200 GS erinnerte er an den Death Dealer, Frank Frazettas grüblerischen Reiterkrieger. Quinn hatte nichts gegen diesen Vergleich einzuwenden. Seine Ex-Frau hätte behauptet, dass er ihm sogar schmeichelte.

Die übersichtlich angeordneten Bäume, die sich in Crystal City unter die Hotels, Wohnhäuser und Stechpalmen mischten, hatten ihr Laub längst abgeworfen. Aus Nordosten blies eine steife Brise, drückte wie mit einer unsichtbaren Faust gegen Quinns Motorrad und kündete drohend noch deutlich kälteres Wetter an. Zum Glück gab es keinen Schnee.

»Was führst du im Schilde, Drake?«, flüsterte Quinn wie zu sich selbst und blies dabei eine Dampfwolke gegen das Visier seines Helms. Er musste dem Drang widerstehen, seitlich an den Taurus heranzufahren und dem Fahrer ins Gesicht zu schießen. Der Sprecher des Repräsentantenhauses war seinem Sicherheitsdienst aus einem ganz konkreten Grund ausgebüchst. Nach allem, was Quinn über ihn wusste, bedeutete es, dass er etwas Tödliches im Schilde führte.

Einen halben Block weiter schwenkte der grüne Taurus nach rechts, wo sich der Jeff Davis Highway in die North Patrick und die Henry Street teilte. Die Henry führte dabei in südliche Richtung weiter. Quinn ließ sich hinter zwei weitere Autos zurückfallen, um sich vor einem schwarzen Mercedes Coupé in den trägeren Rhythmus der engen Einbahnstraße einzufädeln, die in die historische Altstadt von Alexandria führte.

Das amerikanische Volk mochte glauben, dass Hartman Drake nach wie vor den Tod seiner aufopferungsvollen Ehefrau vor einem Jahr betrauerte, doch Quinn wusste es besser. Ihm fehlten zwar die Beweise, um einen derart mächtigen Mann anzuklagen, doch Quinn ging fest davon aus, dass der Sprecher selbst für den Tod der armen Frau verantwortlich war. Der Verlust seiner Ehefrau hatte ihm Sympathien eingebracht und eine Ausrede verschafft, nicht an der Veranstaltung teilzunehmen, bei der sowohl der Präsident als auch der Vizepräsident getötet werden sollten – womit Drake als Sprecher des Repräsentantenhauses an die oberste Stelle der Nachfolgerliste aufrückte.

Weiter vorn stoppte der Taurus an einer Kreuzung vor einer grünen Ampel und wartete auf eine Schar gut gekleideter Lobbyisten, die zu Hank’s Oyster Bar zum Freitagslunch gingen. Quinn stoppte das Bike, stellte den linken Fuß auf den Boden und spürte das vertraute horizontale Drehmoment des Motors. Die Gruppe überquerte unterdessen die Straße, als ob sie ihr gehörte. Sobald sie den Zebrastreifen frei gemacht hatten, bog der Taurus nach links in die King Street ab. Quinn ließ sich zurückfallen, sodass nun drei Fahrzeuge vor ihm waren, und wartete ab.

Restaurants, Souvenirläden, Eisdielen und Anwaltskanzleien vereinnahmten die bunten, dicht gedrängten Backsteingebäude auf beiden Seiten der schattigen Straße. Einige waren sogar älter als die Vereinigten Staaten.

Hartman Drake bog rasch in die letzte Einmündung vor dem Potomac River und raste auf einen eingezäunten Parkplatz hinter einer Hecke und einer Reihe blattloser Bäume.

Der Sprecher, der selten ohne die charakteristischen französischen Manschetten und eine farbenfrohe Fliege anzutreffen war, trug heute eine ausgewaschene Bluejeans und eine Bomberjacke aus braunem Leder. Basecap und Pilotenbrille rundeten die Maskerade ab.

Auf dem Capitol Hill war allgemein bekannt, dass Drake stolz auf seinen sportlich-schlanken Körper und die trainierte Brust war. Mit Mitte 40 suchte er jeden Tag den Fitnessraum des Repräsentantenhauses auf.

Er blieb einen Moment lang vor dem Wagenfenster stehen, um Kappe und Brille zurechtzurücken. Zunächst unterstellte Quinn, dass er nach einem Verfolger Ausschau hielt, doch dann wurde ihm klar, dass der narzisstische Pfau nur sein eigenes umwerfendes Spiegelbild bewunderte. Nachdem er mit...