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In der Schweiz

Mark Twain

 

Verlag Diogenes, 2019

ISBN 9783257609929 , 320 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

Erstes Kapitel


Luzern · Schönheit des Sees · Die wilde Gemse · Ein großer Irrtum enthüllt · Methoden, die Gemse zu jagen · Schönheit Luzerns · Der Alpenstock · Alpenstöcke markieren · Nationalitäten raten · Eine amerikanische Gesellschaft · Eine unvermutete Bekanntschaft · Ich komme ins Schwimmen · Ich folge blinden Fährten · Eine frohe halbe Stunde · Niederlage und Rache

Am nächsten Morgen fuhren wir mit der Eisenbahn nach der Schweiz und erreichten Luzern gegen zehn Uhr abends. Meine erste Entdeckung war, daß man die Schönheit des Vierwaldstätter Sees nicht übertrieben hatte. Nach einem oder zwei Tagen machte ich eine weitere Entdeckung. Und zwar, daß die vielgepriesene Gemse keine wilde Ziege ist; daß sie kein gehörntes Tier ist; daß sie nicht scheu ist; daß sie die menschliche Nähe nicht meidet; und daß es nicht gefährlich ist, sie zu jagen. Die Gemse ist ein schwarzes oder braunes Tier, nicht größer als ein Senfkorn; man braucht sie nicht aufzusuchen, sie sucht einen auf; sie kommt in riesigen Herden und hüpft und springt einem unter der Kleidung über den ganzen Leib; also ist sie nicht scheu, sondern äußerst gesellig; sie fürchtet sich nicht vor dem Menschen, im Gegenteil, sie greift ihn an; ihr Biß ist nicht gefährlich, aber auch nicht angenehm; ihre Lebhaftigkeit ist nicht übertrieben worden – wenn man versucht, den Finger auf sie zu legen, hüpft sie in einem Sprung über das Tausendfache ihrer Länge, und kein Auge ist scharf genug, um zu sehen, wo sie landet. Man hat über die Schweizer Gemse und die Gefahren der Gemsenjagd eine Menge romantischen Unsinns geschrieben; wahr ist vielmehr, daß sogar Frauen und Kinder sie jagen, und zwar ganz ohne Furcht; tatsächlich jagt sie jedermann; die Jagd ist dauernd im Gange, Tag und Nacht, im Bett und außer Bett. Es ist eine schwärmerische Torheit, sie mit dem Gewehr zu jagen; das tun sehr wenige Leute; unter einer Million Menschen gibt es keinen, der sie mit einem Gewehr treffen könnte. Sie zu fangen ist viel leichter, als sie zu schießen, und beides kann nur der erfahrene Gemsenjäger schaffen. Noch eine verbreitete Übertreibung betrifft die »Seltenheit« der Gemse. Sie ist das Gegenteil von selten. Herden von hundert Millionen Gemsen sind in den schweizerischen Hotels nicht ungewöhnlich. Sie sind tatsächlich so zahlreich, daß sie eine große Plage darstellen. Die Romanschreiber kleiden den Gemsenjäger immer in eine phantasievolle, malerische Tracht, während die beste Methode, dieses Wild zu jagen, die ist, es überhaupt ohne jede Tracht zu tun. Der Handelsartikel namens »Chamoisleder« ist ein weiterer Betrug; niemand könnte eine Gemse häuten, sie ist viel zu klein. Das Geschöpf ist in jeder Beziehung ein Humbug, und alles, was darüber geschrieben worden ist, ist gefühlvolle Übertreibung. Es hat mir keine Freude gemacht, die Gemse zu entlarven, denn sie war eine meiner Lieblingsillusionen; mein ganzes Leben lang hatte ich davon geträumt, sie eines Tages in ihrer Wildnis zu sehen und mich in den abenteuerlichen Sport stürzen zu können, sie von Klippe zu Klippe zu hetzen. Es macht mir keine Freude, sie jetzt bloßzustellen und des Lesers Entzücken über sie und seine Achtung vor ihr zu zerstören; aber es muß doch sein, denn wenn ein ehrlicher Schriftsteller eine Betrügerei entdeckt, ist es einfach seine Pflicht, sie aufzudecken und von ihrem Ehrenplatz herabzustürzen, gleichgültig, wer darunter leidet. Durch jedes andere Vorgehen würde er sich des öffentlichen Vertrauens unwürdig erweisen.

Luzern ist eine bezaubernde Stadt. Sie beginnt am Ufer des Sees mit einem Saum von Hotels, klettert empor und breitet sich dichtgedrängt, in ungeordnetem, malerischem Stil über zwei oder drei steile Berge aus, wobei es dem Blick einen aufgetürmten Wirrwarr aus roten Dächern, wunderlichen Giebeln, Dachfenstern, zahnstocherähnlichen Kirchtürmen darbietet, wobei hier und da ein Stück alter, zinnengekrönter Stadtmauer wurmartig über die Bergkuppen kriecht und da und dort ein alter, viereckiger Turm aus festem Mauerwerk steht. Und auch hier und da eine Turmuhr mit nur einem Zeiger – einem Zeiger, der quer über das Zifferblatt reicht und kein Gelenk besitzt; eine solche Uhr hebt die Gesamtwirkung, aber die Tageszeit kann man von ihr nicht ablesen. Zwischen der geschwungenen Reihe der Hotels und dem See liegt eine breite Allee mit Lampen und einer doppelten Reihe niedriger, schattenspendender Bäume. Das Seeufer ist wie ein Pier mit Mauerwerk eingefaßt und besitzt ein Geländer, damit die Leute nicht über Bord gehen. Den ganzen Tag lang rasen Fahrzeuge die Allee entlang, und Kindermädchen, Kinder und Touristen sitzen im Schatten der Bäume oder lehnen sich über das Geländer und sehen zu, wie die Schwärme von Fischen im klaren Wasser umherflitzen, oder blicken über den See hinaus auf den prachtvollen Saum schneebedeckter Bergspitzen. Immerzu kommen und gehen kleine Vergnügungsdampfer, schwarz von Menschen, und überall sieht man junge Mädchen und junge Männer in wunderlichen Ruderbooten umherpaddeln oder, wenn Wind weht, mit Hilfe von Segeln dahintreiben. Die Vorderzimmer der Hotels haben einen kleinen vergitterten Balkon, wo man in ruhigem, kühlem Behagen für sich allein speisen und auf dieses geschäftige und hübsche Bild hinunterblicken und es genießen kann, ohne eine der damit verbundenen Arbeiten leisten zu müssen.

Die meisten Leute, Männer und auch Frauen, gehen in Wanderkleidung und tragen Alpenstöcke. Offensichtlich hält man es nicht für sicher, in der Schweiz – selbst in der Stadt – ohne Alpenstock umherzulaufen. Wenn der Tourist nicht daran denkt und ohne Alpenstock zum Frühstück herunterkommt, geht er zurück, holt ihn und stellt ihn in die Ecke. Wenn seine Reisen durch die Schweiz zu Ende sind, wirft er diesen Besenstiel nicht fort, sondern schleppt ihn mit nach Hause in die fernsten Winkel der Erde, obwohl ihm das mehr Mühe und Ärger macht, als ein Säugling oder ein Reiseführer verursachen könnten. Man muß wissen, der Alpenstock ist seine Trophäe; der Name des Besitzers ist darauf eingebrannt; und wenn er damit einen Hügel erstiegen, einen Bach übersprungen oder eine Ziegelei überquert hat, läßt er die Namen dieser Orte auch darauf einbrennen. Daher ist der Alpenstock sozusagen seine Regimentsfahne und trägt das Register seiner Heldentaten. Wenn der Reisende ihn kauft, ist er drei Franken wert, aber um eine Goldgrube könnte man ihn nicht kaufen, nachdem seine großen Taten darauf eingeritzt sind. In der ganzen Schweiz gibt es Handwerker, deren Gewerbe es ist, das in die Alpenstöcke der Touristen einzubrennen. Und man beachte, daß in der Schweiz ein Mann nach seinem Alpenstock bewertet wird. Ich stellte fest, daß ich dort keine Aufmerksamkeit auf mich lenken konnte, solange ich einen Stock ohne Brandmale trug. Aber das Brennenlassen ist nicht teuer, deshalb half ich dem bald nach. Die Wirkung auf die nächste Touristenabteilung war sehr bemerkenswert. Ich fühlte mich für meine Mühe belohnt.

Die Hälfte der Meute, die im Sommer die Schweiz bevölkert, besteht aus Engländern; die andere Hälfte setzt sich aus vielen Nationalitäten zusammen, wobei die Deutschen vorangehen und die Amerikaner als nächste folgen. Die Amerikaner waren nicht so zahlreich, wie ich erwartet hatte.

Die Table d’hôte um halb acht im großen Schweizerhof brachte ein gewaltiges Aufgebot der mannigfaltigsten Nationalitäten hervor, aber sie bot bessere Gelegenheit, Trachten zu studieren als Leute, denn die Menschenmenge saß an unendlich langen Tischen, und deshalb waren die Gesichter hauptsächlich in der Perspektive zu sehen; das Frühstück wurde an kleinen runden Tischen aufgetragen, und wenn man dann das Glück besaß, einen Tisch in der Mitte der Versammlung zu bekommen, hatte man so viele Gesichter zu betrachten, wie man es sich nur wünschen konnte. Wir versuchten immer, die Nationalitäten zu erraten, und im allgemeinen gelang uns das ziemlich gut. Manchmal versuchten wir auch, die Namen der Leute zu erraten, aber das schlug fehl; das ist etwas, das wahrscheinlich eine Menge Übung erfordert. Wir ließen es bald fallen und widmeten unsere Anstrengungen weniger schwierigen Einzelheiten. Eines Morgens sagte ich:

»Dort sitzt eine Gruppe Amerikaner.«

Harris sagte: »Ja, aber nenne den Staat.«

Ich nannte einen Staat, Harris nannte einen anderen. Wir waren uns jedoch über eines einig, und zwar, daß das junge Mädchen in dieser Gruppe sehr schön sei, und sehr geschmackvoll angezogen. Aber wir waren uns nicht über ihr Alter einig. Ich sagte, sie sei achtzehn, Harris sagte, sie sei zwanzig. Der Disput zwischen uns erhitzte sich, und schließlich sagte ich mit gespieltem Ernst:

»Na, es gibt einen Weg, die Sache zu klären – ich werde hingehen und sie fragen.«

Harris sagte sarkastisch: »Sicher, das ist das Richtige. Du brauchst nur die hier übliche Formel zu gebrauchen; geh nur hin und sage: ›Ich bin Amerikaner!‹ Natürlich wird sie sich freuen, dich kennenzulernen.«

Dann deutete er an, daß meine Absicht, sie anzusprechen, nicht sehr gefährlich sei.

Ich sagte: »Ich habe nur so hingeredet – ich hatte nicht vorgehabt, an sie heranzutreten, aber ich merke schon, daß du gar nicht weißt, was für ein waghalsiger Mensch ich bin. Ich fürchte mich vor keiner lebenden Frau. Ich werde hingehen und dieses junge Mädchen ansprechen.«

Was ich vorhatte, war nicht schwierig. Ich wollte sie in höchst respektvoller Weise ansprechen und sie um Verzeihung bitten, falls ihre starke Ähnlichkeit mit einer früheren Bekannten mich getäuscht hätte; und wenn sie antworten sollte, daß...