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Auf dem Weg - Eine Reise zum wahren Sinn des Lebens

Yongey Mingyur Rinpoche

 

Verlag btb, 2019

ISBN 9783641236939 , 384 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR


 

KAPITEL 1

Wer bist du?


Bist du Mingyur Rinpoche?

Mein Vater stellte mir diese Frage, kurz nachdem ich mit etwa neun Jahren begonnen hatte, mich von ihm unterrichten zu lassen. Es war so befriedigend, die richtige Antwort zu wissen, dass ich stolz verkündete: Ja, der bin ich.

Dann fragte er: Und kannst du mir sagen, was genau es ist, was aus dir Mingyur Rinpoche macht?

Ich schaute an meinem Körper hinunter bis zu den Füßen. Ich schaute auf meine Hände. Ich dachte über meinen Namen nach. Ich dachte darüber nach, wer ich im Verhältnis zu meinen Eltern und meinen älteren Brüdern war. Ich konnte mit keiner Antwort aufwarten. Dann machte mein Vater aus meiner Suche nach dem wahren Ich eine Art Schatzsuche, und ich suchte allen Ernstes unter Steinen und hinter Bäumen. Mit elf Jahren begann ich in Sherab Ling zu studieren, in einem Kloster in Nordindien, wo ich diese Suche durch Meditation verinnerlichte. Zwei Jahre später trat ich in das traditionelle Dreijahresretreat ein, in eine Periode intensiven Geistestrainings. In dieser Periode führten wir Novizen viele verschiedene Übungen aus, die nach und nach unser Verständnis für die subtileren Realitätsebenen vertieften. Das tibetische Wort für Meditation, gom, bedeutet, sich vertraut machen mit: vertraut damit, wie der Geist arbeitet, wie er unsere Wahrnehmungen von uns selbst und der Welt erzeugt und gestaltet, wie die äußeren Schichten des Geistes – die konstruierten Labels – wie Kleidung funktionieren, die unsere gesellschaftlichen Identitäten identifiziert und den nackten, unverfälschten Zustand des ursprünglichen Geistes verhüllt, egal, ob diese äußeren Kleider Businessklamotten, Jeans, Uniformen oder buddhistische Roben sind.

Als ich mich zu diesem Retreat aufmachte, verstand ich, dass der Wert der Kennzeichen sich je nach den Umständen und dem gesellschaftlichen Konsens verschiebt. Ich hatte bereits bejaht, dass ich nicht mein Name, mein Titel oder mein Status war, dass das essenzielle Ich nicht anhand von Rang oder Rolle definiert werden konnte. Gleichwohl hatten genau diese Bezeichnungen, von jeder essenziellen Bedeutung entleert, meine Tage umschrieben: Ich bin ein Mönch, ein Sohn, ein Bruder und ein Onkel, ein Buddhist, ein Meditationslehrer, ein Tulku, ein Abt und ein Autor, ein tibetischer Nepali, ein menschliches Wesen. Was davon beschreibt das essenzielle Ich?

Diese Liste aufzustellen ist eine einfache Übung. Es gibt nur ein Problem: Die unvermeidliche Schlussfolgerung widerspricht jeder liebgewonnenen Annahme, die uns am Herzen liegt, wie ich in diesem Moment gerade aufs Neue erfahren sollte. Ich wünschte mir, jenseits des relativen Selbst zu gelangen, des Selbst, das sich mit diesen Kennzeichen identifiziert. Ich wusste, dass diese gesellschaftlichen Kategorien, obwohl sie eine dominante Rolle in unseren persönlichen Geschichten spielen, mit einer größeren Realität jenseits von Kennzeichen koexistieren. Im Allgemeinen erkennen wir nicht, dass unsere gesellschaftlichen Identitäten von Kontext geformt und eingeschränkt werden und dass diese äußeren Schichten von uns innerhalb einer grenzenlosen Realität existieren. Gewohnte Muster überdecken diese grenzenlose Realität, sie verschleiern sie, aber sie ist immer da und wartet darauf, aufgedeckt zu werden. Wenn wir nicht von gewohnten Mustern eingeschränkt werden, die definieren, wie wir uns sehen und wie wir uns in der Welt verhalten, dann schaffen wir Zugang zu jenen Qualitäten des Geistes, die unermesslich sind, Qualitäten, die nicht von Umständen oder Begrifflichkeiten abhängig und die immer präsent sind. Aus diesen Gründen nennen wir das den ultimativen oder absoluten Geist oder den Geist absoluter Realität, was das Gleiche ist wie der Geist des reinen Gewahrseins und was genau diese Essenz unserer wahren Natur zum Ausdruck bringt. Anders als der intellektuelle und konzeptuelle Kopf und die grenzenlose Liebe eines weiten Herzens hat diese Essenz der Realität keine Verbindung zu jeglicher Art von Ort oder Materialität. Sie ist überall und nirgends. Sie ist gewissermaßen wie der Himmel, so vollkommen integriert in unserer Existenz, dass wir nie aufhören, seine Realität zu hinterfragen oder seine Qualitäten zu erkennen. Da das Gewahrsein in unserem Leben so präsent ist wie die Luft, die wir atmen, können wir überall und jederzeit darauf zugreifen.

Ich hatte eine gewisse Fähigkeit entwickelt, die relativen und absoluten Perspektiven gleichzeitig beizubehalten. Dennoch hatte ich keinen Tag ohne Menschen und Requisiten erlebt, die das zusammengeschusterte Flickwerk widerspiegelten, das ich und andere als Mingyur Rinpoche kennen gelernt haben: stets höflich, gern lächelnd, ein eher reserviertes Auftreten, ordentlich, glattrasiert, mit randloser Brille und Goldgestell. Nun fragte ich mich, wie sich diese Identitäten im Bahnhof von Gaya machen würden. Ich war viele Male vorher dort gewesen, aber immer mit mindestens einem Begleiter. Das hieß, dass ich nie ohne einen Bezug auf meinen Rang dort gewesen war und nie herausgefordert worden war, mich ausschließlich auf meine inneren Ressourcen zu verlassen.

Die Tibeter haben einen Begriff dafür, wenn sie bewusst die Herausforderungen an einen ruhigen Geist erhöhen. Sie nennen das Öl ins Feuer gießen. Im Allgemeinen nehmen wir Menschen in unserem Leben Ereignisse wahr, die uns immer wieder wütend, besorgt oder ängstlich machen und die wir dann mit etwa folgenden Aussagen vermeiden wollen: Ich kann mir keine gruseligen Filme ansehen. Ich kann nicht in großen Menschenansammlungen sein. Ich habe schreckliche Höhenangst oder Flugangst oder Angst vor Hunden oder vor der Dunkelheit. Aber die Ursachen, die diese Reaktionen auslösen, verschwinden nicht, und wenn wir uns in diesen Situationen wiederfinden, können unsere Reaktionen uns überwältigen. Wirklich schützen können wir uns einzig und allein dadurch, dass wir mit unseren inneren Ressourcen an diesen Themen arbeiten, denn äußere Umstände verändern sich ständig und sind daher nicht verlässlich.

Wenn wir Öl ins Feuer gießen, bringen wir schwierige Situationen absichtlich an die vorderste Front, damit wir direkt mit ihnen arbeiten können. Wir nehmen gerade diejenigen Verhaltensweisen oder Umstände, die wir für problematisch halten, und machen sie zu Verbündeten. Ein Beispiel: Als ich etwa drei oder vier Jahre alt war, unternahm ich mit meiner Mutter und den Großeltern eine Pilgerreise per Bus zu den wichtigsten buddhistischen Stätten in Indien. Auf der ersten Busfahrt wurde mir richtig übel. Und wenn wir später auch nur in die Nähe eines Busses kamen, bekam ich Angst, mir wurde schlecht, und es blieb nicht aus, dass sich mein Magen abermals umdrehte. Mit etwa zwölf Jahren fuhr ich nach einem einjährigen Aufenthalt im Sherab Ling Kloster in Nordindien nach Hause, um meine Eltern zu besuchen. Der Betreuer, der mich begleitete, buchte für uns eine Busfahrt nach Delhi, die die ganze Nacht dauern sollte, und von dort aus einen Flug nach Kathmandu. Ich hatte mich auf den Besuch gefreut, mich aber wochenlang vor der Busfahrt gefürchtet. Ich bestand darauf, dass der Betreuer zwei Plätze für mich buchte, denn ich glaubte, meinen Magen beruhigen zu können, wenn ich mich hinlegte. Aber kaum hatte die Reise begonnen und ich mich lang ausgestreckt, stellte ich fest, dass es mir im Liegen noch schlechter ging. Mein Betreuer bekniete mich, etwas zu essen oder einen Saft zu trinken, aber mein Magen war so aufgebläht, dass ich nichts schlucken konnte. Als der Bus unterwegs anhielt, wollte ich nicht aufstehen, um mir die Beine zu vertreten. Ich wollte mich nicht bewegen, und das hielt ich auch viele Stunden lang durch. Schließlich stieg ich dann doch aus, ging zur Toilette und trank ein wenig Saft.

Als ich zu meinen beiden Plätzen zurückkehrte, fühlte ich mich viel besser, und ich beschloss, es mit Meditieren zu versuchen. Ich begann mit einem Body Scan und brachte mein Gewahrsein auf die Empfindungen im Bereich des Magens, das Völlegefühl und die Übelkeit. Das war sehr unangenehm, ein wenig eklig und machte alles zunächst nur noch schlimmer. Aber als ich diese Empfindungen allmählich akzeptierte, erlebte ich meinen ganzen Körper als Gästehaus. Nun spielte ich den Gastgeber für diese Empfindungen und auch für die Gefühle von Abneigung, Widerstand und Reaktion. Je mehr Bereitschaft ich zeigte, diese Gäste in meinem Körper wohnen zu lassen, umso ruhiger wurde ich. Bald schlief ich tief und fest und wachte erst wieder in Delhi auf.

Dieses Erlebnis konnte nicht alle Ängste vor Busfahrten vertreiben, und sie kehrten bei weiteren Reisen zurück, wenngleich mit nachlassender Heftigkeit. Der große Unterschied war, dass ich nach dieser Fahrt nichts mehr gegen Busreisen hatte. Ich suchte sie nicht absichtlich aus, wie ich dieses Wander-Retreat ausgesucht hatte, aber ich war dankbar für die Herausforderung, mit meinem Geist zu arbeiten, um Widrigkeiten zu überwinden.

Wenn wir Öl ins Feuer gießen, statt die Flammen unserer Ängste zu ersticken, fachen wir das Feuer weiter an und gewinnen in der Folge Zutrauen zu unserer Fähigkeit, mit allen Situationen zu arbeiten, die sich für uns ergeben. Wir gehen keinen Situationen mehr aus dem Weg, die uns in der Vergangenheit beunruhigt haben, oder solchen, die destruktive Muster oder emotionale Ausbrüche erzeugen. Wir lernen, uns auf einen anderen Aspekt unseres Geistes zu verlassen, der unter unserer Reaktivität existiert. Wir nennen das »Nicht-Selbst«. Es ist das unbedingte Bewusstsein, das sich mit dem Auflösen des plappernden Geistes enthüllt, der den ganzen Tag lang...