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Die Legende von Sigurd und Gudrún

J.R.R. Tolkien, Christopher Tolkien

 

Verlag Klett-Cotta, 2010

ISBN 9783608101454 , 560 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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12,99 EUR

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DIE »ÄLTERE EDDA«

Die unter diesem irreführenden und unglücklichen Titel versammelten Lieder ziehen Leute der unterschiedlichsten Couleur an: Philologen, Historiker, Völkerkundler und andere Zunftgenossen, aber auch Dichter, Literaturwissenschaftler und Freunde neuer literarischer Sensationen. Die Philologen haben wie gewohnt den Löwenanteil der Arbeit getan und es in ihrem Eifer nicht mehr als gewohnt (wahrscheinlich weniger als beim Beowulf) versäumt, den literarischen Wert dieser Urkunden wenigstens zur Kenntnis zu nehmen. Ungewohnt hoch ist hierbei das Maß, in dem eine wirkliche Beurteilung und Würdigung dieser Lieder – die so dunkel und schwierig sind, dass erst die hingebungsvolle Arbeit vieler Philologen sie zugänglich gemacht hat – von der individuellen Vertrautheit mit den literaturwissenschaftlichen, metrischen und sprachlichen Problemen abhängt. Ohne den Philologen würden wir natürlich gar nicht wissen, was viele der Wörter seinerzeit bedeuteten, wie die Verse gebaut waren oder wie die Wörter klangen: Letzteres ist in der altskandinavischen Dichtung möglicherweise von noch größerer Bedeutung als sonst. Die Dichter verwandten einen ungewöhnlich großen Teil ihres Talents darauf, dass sich die Verse auf jeden Fall gut anhörten.

Doch auch ihrer ureigenen vortrefflichen Form beraubt sowie ihrer Sprache, deren Gestalt und Eigentümlichkeiten mit der Atmosphäre und Vorstellungswelt der Lieder innig verbunden sind, haben sie eine besondere Kraft: Selbst in der gefilterten Form von Übersetzungen und »kindgerechten« Bearbeitungen geht von ihnen eine Wirkung aus, die vielen schon in der Schule und früher den Wunsch nach näherer Bekanntschaft mit ihnen weckt.

Bleibende Wirkung hinterlässt auch das erste Hören im Original, wenn die Vorscharmützel mit dem Altnordischen überstanden sind und man beim Lesen eines Eddaliedes zum ersten Mal genug mitbekommt, um dabeizubleiben. Wer diesen Prozess durchlaufen hat, bei dem dürfte kaum die jähe Erkenntnis ausgeblieben sein, dass ihm hier etwas von ungeheurer Wucht begegnet, etwas, das in manchen Teilen immer noch von einer beinahe dämonischen Kraft erfüllt ist, trotz des Verfalls der Form. Diese Wirkung zu erleben ist eines der größten Geschenke, die die Lektüre der Älteren Edda bereitet. Wer sie nicht in der Anfangsphase erlebt, dem wird sie wohl auch durch jahrelange Philologenfron schwerlich zuteil werden; erlebt man sie, so können auch Berge oder Maulwurfshügel wissenschaftlicher Forschungsarbeit sie nicht wieder verschütten und verleiht sie die Durchhaltekraft zu langwieriger Mühe und Plage.

Das ist im Altenglischen anders, dessen erhaltene Bruchstücke (besonders der Beowulf) – so jedenfalls meine Erfahrung – ihre Meisterschaft und Vortrefflichkeit nur langsam preisgeben, erst dann, wenn das erste Ringen mit der Sprache und die erste Bekanntschaft mit der Dichtung lange hinter einem liegen. An dieser Verallgemeinerung ist etwas dran – innerhalb gewisser Grenzen. Die eingehende Beschäftigung wird natürlich die Wirkung der Älteren Edda auf den Leser verstärken. Die altenglische Dichtung hat stellenweise einen Reiz, der unmittelbar wirkt. Aber die altenglische Dichtung versucht nicht, den Hörer umzuhauen. Den Hörer umzuhauen war der erklärte Vorsatz des nordischen Dichters.

Und daher kommt es, dass die besten Eddalieder (vor allem die eindrücklichsten Heldenlieder) über die Hürde der schwierigen Sprache zu springen scheinen und einen packen, wenn man noch mitten im Akt des Entzifferns Vers für Vers ist.

Möge sich niemand, der den Dichtern der Älteren Edda lauscht, der Illusion hingeben, er habe die Stimmen des germanischen Urwalds gehört oder er habe in den Heldengestalten die Züge seiner edlen, wenn auch noch wilden Vorfahren erblickt, der wackeren Streiter gegen oder auch für die Römer. Ich sage das mit größtem Nachdruck, denn die Vorstellung von grauer Vorzeit, die (in neuerer Zeit) dem Namen »Ältere Edda« bei der breiten Masse anhaftet (sofern man der breiten Masse überhaupt die Beschäftigung mit einem so entlegenen und unrentablen Thema nachsagen kann), hält sich so hartnäckig, dass ich wider Willen in der Steinzeit ansetze – wider Willen und wider alle Vernunft, weil die Darstellung eigentlich im siebzehnten Jahrhundert mit einem gelehrten Bischof beginnen müsste.

Der skandinavische Raum, sagt die Archäologie, ist seit der Steinzeit bewohnt (die Feinheiten von Paläo- und Neo- sparen wir uns). Die kulturelle Entwicklung ist nie unterbrochen, nur mehrfach modifiziert und erneuert worden, hauptsächlich von Süden und Osten aus. In Skandinavien scheint man mit mehr Recht als anderswo sagen zu können, dass die Bevölkerung, die heute dort lebt, zum größten Teil schon immer dort gelebt hat.

Runeninschriften von etwa 400 n. Chr. oder früher geben uns erste Eindrücke der nordischen Sprache. Doch obwohl es eine germanische Sprache war – der Form nach leicht archaisch, wie es scheint –, nahmen ihre Sprecher nicht am großen germanischen Heldenzeitalter teil, es sei denn, sie hörten auf, Skandinavier zu sein. Das heißt, die Völker, die wir später als Schweden, Gauten, Dänen und so weiter bezeichnen, sind Nachfahren von Leuten, die nicht samt und sonders loszogen, um sich in die Abenteuer, Wirren und Katastrophen dieser Zeit zu stürzen. Viele der Völker, die das taten, kamen ursprünglich aus Skandinavien, verloren später aber jede Verbindung dazu: Burgunder, Goten, Langobarden.

Durch allerlei seltsame Kunde und neue Lieder, die fix und fertig importiert oder zu Hause aus dem Rohmaterial des Gehörten geschaffen wurden, drang ein Echo dieser heute dunklen und unüberschaubaren Ereignisse an das Ohr der Daheimgebliebenen. Sagen- und Liedstoffe fanden den Weg zu ihnen – und trafen in den skandinavischen Ländern auf Bedingungen, die ganz anders waren als in den Ursprungsgebieten. Vor allem gab es keine reichen Königshöfe wie im Süden, keine Zentren mächtiger Streitkräfte, keine großen Heerführer oder Könige, die Dichter gefördert und bezahlt hätten. Dafür gab es einen Schatz von Mythen und Geschichten um die eigenen Recken und Seefahrer. Die einheimischen Götter- und Heldensagen wurden abgewandelt, aber sie blieben skandinavisch, und wenn wir sie besäßen, könnten sie uns doch nicht – und noch viel weniger können das die späteren unzusammenhängenden Erinnerungsfetzen – für den Verlust nahezu aller Zeugnisse aus dem südlichen Germanien entschädigen und schon gar nicht als adäquater Ersatz des Verlorenen gelten. Verwandt waren sie wohl, doch sie waren anders.

Für zusätzliche Verwirrung sorgte dann das Aufkommen eines eigenen skandinavischen Heldenzeitalters, der sogenannten Wikingerzeit, nach 700 n. Chr. Die Daheimgebliebenen fingen an, über die ganze Welt auszuschwärmen – ohne jedoch die Verbindung zu ihren angestammten Ländern und Meeren zu verlieren. Obwohl damals ein höfisches Umfeld entstand, entwickelte sich in diesen Ländern nie eine epische Dichtung. Die Gründe sind unklar, Antworten auf die meisten drängenden Fragen gibt es kaum – eine Tatsache, mit der wir uns abfinden müssen. Die Ursachen mag man im Geist der Zeit und der Menschen suchen – und in ihrer Sprache, die beides widerspiegelte. Erst zu einem relativ späten Zeitpunkt waren »Könige« im Norden reich genug oder mächtig genug, um prunkvoll Hof zu halten, und als das eintrat, verlief die Entwicklung anders: Die Dichtkunst entwickelte ihre eigene knappe, markige, strophische, häufig dramatische Form nicht zum Epos weiter, sondern zu den erstaunlichen und wohllautenden, aber formverliebten Ausschmückungen der Skaldendichtung [siehe S. 46–49]. In den Eddaliedern ist sie noch »unentwickelt« (sofern sich »strophische« Gedichte überhaupt jemals irgendwo durch unmerkliche Übergänge zum Epos weiterentwickelt haben, ohne Bruch, ohne Sprung, ohne gezielte Anstrengung), unentwickelt, heißt das, in formaler Hinsicht, dafür pointiert und beschnitten. Doch auch hier finden wir die »strophische« Form vor, die Konzentration auf den dramatischen und eindringlichen Moment, und nicht die langsame Entfaltung eines epischen Themas.

Letztere, soweit davon die Rede sein kann, fand in Prosa statt. In Island, einer norwegischen Kolonie, bildete sich die einzigartige Technik der Saga aus, der Prosaerzählung. Sie war zumeist eine Geschichte aus dem Alltagsleben, häufig von meisterhafter Geschliffenheit, und ihr angestammter Themenkreis war nicht die Sage, der Mythos. Dies lag freilich allein am Naturell und Geschmack der Zuhörer, denn rein vom Wortsinn her bedeuten Saga und Sage dasselbe, etwas, das »gesagt« wird, sprich: erzählt, nicht gesungen. So wurde der Begriff »Saga« ganz selbstverständlich auch auf Formen wie die zum Teil romantisierte Völsunga Saga angewandt, die einer typischen isländischen Saga nicht im geringsten gleicht. Im nordischen Gebrauch sind die Evangelien und die Apostelgeschichte »Sagas«.

Doch im Norwegen der Zeit, die uns interessiert, war Island noch gar nicht gegründet, und einen großen Königshof gab es nicht. Dann trat Harald Schönhaar auf den Plan und unterwarf dieses stolze Heimatland vieler unbeugsamer Häuptlinge und unabhängiger Bauern, wobei er viele der Besten und Stolzesten verlor, sei es durch den Krieg, sei es durch die Auswanderung nach Island. In den zirka sechzig ersten Jahren der Kolonisierung zogen über fünfzigtausend aus Norwegen auf diese Insel, entweder direkt oder über Irland und die Britischen Inseln. Dennoch begann an Harald Schönhaars Hof die Blütezeit der nordischen Dichtung, zu der die...