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Caliban Berlin - Kolumnen 1980-1984

Jörg Fauser

 

Verlag Diogenes, 2019

ISBN 9783257609776 , 368 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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20,99 EUR


 

Calibans Kolumne


Blick in die Zukunft


Die Gegend wurde immer trostloser. Hochhauswaben, Ausfallstraßen, Autobahnzubringer, dazwischen in ergrautem Grün Mietskasernen, Reihenhäuser, Einkaufszentren, der TÜV, die Großtankstelle, die Bowlingbahn, die Pizzabude, der ganze Plunder, den die Stadt aufs Land kippt, um es sich einzuverleiben – aber Stadt wird diese Gegend nie. Sie bleibt Zwischenzone. Niemandsland.

Als das Taxi hielt, hätte ich am liebsten gesagt: Warten Sie hier, aber dann fiel mir ein, dass der Mann, den ich aufsuchte, Telefon hatte, also zahlte ich, und das Taxi fuhr weg. Der Himmel zwischen den TV-Antennen war wie eine dunkle Ahnung.

Das Haus war Teil eines Blocks im Stil des sozialen Wohnungsbaus der frühen 50er Jahre – flache Dächer, Treppenhausfenster wie Schießscharten, Anstrich von der Farbe verdünnter Hühnersuppe. Es fehlten nur die Roller vor der Haustür, der Adenauer an der Litfaßsäule und die Capri-Fischer im Radio. Von ihrem Hochsitz im dritten Stock beobachtete mich eine Frau mit blauen Lockenwicklern im Haar. Ein seltsames Lächeln zog an ihren Mundwinkeln. Wusste sie, zu wem ich ging? Ich starrte zurück. Sie zog die Gardinen zu. Ich klingelte.

Der Mann, der mich an der Wohnungstür empfing, war mittelgroß, ziemlich massig, mit einem weißblonden Haarkranz und dicken Brillengläsern. Ich schätzte ihn auf etwa sechzig. Seine Kleidung und die Einrichtung des fensterlosen Zimmers, in das er mich führte, erinnerten auch an alte Zeiten, als die Leute noch mit simplen Gebrauchsgegenständen ausgekommen waren. Der altmodische Bücherschrank enthielt Lexika und Klassik, darunter der ganze Goethe. In einer Ecke stand ein Koffer, als sei der Mann erst gestern eingezogen und erwarte keinen langen Aufenthalt. Wir setzten uns. Mir fiel auf, dass er asthmatisch keuchte. Seine Hände zitterten. Er sah mich an.

»Sind Sie zum ersten Mal bei einem Astrologen?«

Ich steckte mir gerade eine Zigarette an und blies den Rauch weg, um seinem Asthma das Gröbste zu ersparen. Meine Antwort fiel wohl etwas undeutlich aus, denn er sagte mit unnötig lauter Stimme: »Ich bin schwerhörig, ich trage zwar ein Hörgerät, lese aber von den Lippen ab, bitte sprechen Sie deutlich.«

»Sind Sie Astrologe im Hauptberuf?«, fragte ich. Ich ertappte mich dabei, dass ich auf seine Lippen starrte.

»Ja«, sagte er und breitete Papiere aus, »ich mache das, seit ich 18 bin. Vor 30 Jahren hab ich fünf Mark für ein Horoskop bekommen, heute bin ich natürlich teurer. Und nun sagen Sie mir Ihren Geburtstag, Ihre Geburtsstunde und Ihren Geburtsort.«

Ich sagte sie ihm. Dann begann er, mein Horoskop zu erstellen. Bei den Berechnungen benutzte er keinen Taschenrechner. Alte Schule. Seine Hände zitterten zwar, aber er konnte mit dem Zittern umgehen. Ich drückte die Zigarette aus und rauchte dann nicht mehr. Während er berechnete und die Zeichen eintrug, stellte er mir Fragen. Ich hatte nicht vorgehabt, ihm meinen Beruf zu sagen, aber er bekam ihn auch so heraus. Dass ich nicht verheiratet war, machte ihm zunächst zu schaffen, bis er schließlich sagte: »Sie sollten überhaupt nicht heiraten, auf keinen Fall vor Oktober 1981, und nur eine Frau, die geistig zu Ihnen passt. Bei Ihrem Leben kommt nichts andres in Frage.«

Das war mir natürlich schon seit längerem klar, aber gerade weil mir eigentlich fast alles, was er mir sagte, irgendwie schon klar war, hatte ich allmählich das Gefühl, dass er mich ganz schön einkreiste. »Jemand wie Sie kann kein Angestellter sein. Ich wollte auch immer selbständig sein, aber das Leben ist dann schon schwerer, nicht wahr?« Seine Brille funkelte. Ich trug auch eine Brille, aber ich glaube nicht, dass sie funkelte. Ich bekam allmählich einen heftigen Durst und hörte zu, wie er mich auseinandernahm.

»Millionär werden Sie nie werden … Glücksspiel? Vergessen Sie’s … Kinder? Passen nicht zu Ihnen … Die nächsten Jahre werden Sie schon überstehen, Jupiter und Mars sind da recht günstig … Der Wassermann als Ihr Aszendent, der sorgt natürlich für Unruhe … Hab ich Ihnen gleich angesehen, den Wassermann … Hände weg von der Politik, falls Sie nach Bonn gehen wollen, die lassen Sie auflaufen …«

Ich fragte ihn, ob es Krieg geben werde. Er blickte vom Horoskop hoch und sagte ruhig und bestimmt, mit der Erfahrung, die eher dem Überleben zuzuschreiben ist als der Astrologie: »Vergessen Sie nicht, dass wir Deutschen 1941 in Russland eingefallen sind und zig Millionen Menschen umgebracht haben. Die Russen haben für immer ein Misstrauen, aber Krieg werden sie nicht machen, sie haben viel zu sehr gelitten. Ja, der Krieg. Jeder wollte durchkommen. Mit dem Spaten haben sie gekämpft, mit den bloßen Händen. Jeder musste kämpfen.« Er schwieg eine Weile, dann betrachtete er sein Werk: »Sie müssen auch kämpfen, Ihnen bleibt nichts anderes übrig, sehen Sie doch« – er zeigte mir das Horoskop –, »wie sich das alles zusammenballt, das ist Ihr Leben, da müssen Sie durch.«

Ich sah es mir an. Es ballte sich wirklich zusammen. Das tat es bei den meisten anderen auch, ob im Horoskop oder im Leben. Oder waren Horoskop und Leben das Gleiche? Das Horoskop konnte man einstecken. Ich steckte es ein, bezahlte und ging. Draußen war es jetzt dunkel. Ich hatte vergessen, ein Taxi zu bestellen. In der Pizzabude saßen sie bei Bier und Pizza, lachten, starrten ins Leere, stritten sich und machten jedenfalls Feierabend. Ich war von ihnen getrennt. Ich kannte mein Horoskop. Machen die Sterne auch Feierabend? Ich fühlte mich unruhig. Warum hatte er mir nichts Genaueres gesagt? Ich hatte einen Blick in die Zukunft werfen wollen, aber nur das erfahren, was ich schon zu kennen glaubte. Konnte das alles sein? Morgen hatte ich einen Termin bei der Wahrsagerin. Ein Taxi fuhr durch die Zwischenzone. Schon ging der Kampf weiter. Ich stellte mich auf die Straße und winkte. Diesmal hatte ich Glück, das Taxi hielt …

Auch die Wahrsagerin wohnte am Rand der Stadt, wo die Zusammenhänge sich verlieren. Diesmal klingelte ich an einem Appartementhaus im Stil der 60er Jahre, die Gegensprechanlage war schon eingeführt, der Müllschlucker noch kein Allgemeingut. Die junge Frau, die mir öffnete, war recht groß und gut gebaut. Sie hatte dunkle Locken, die ihr Gesicht besonders blass machten. Sie trug eine weiße Bluse über einer schwarzen Hose und bat mich, einen Augenblick zu warten. Ich wartete ziemlich lange vor einem Schrank, der mit Spiegeln verkleidet war. In einer Ecke lag ein Stapel Frauenzeitschriften. Auf einem Tischchen lag eine Zahnbürste über der Telefonrechnung. Ich kam mir lächerlich vor. Die Wände waren dünn, und ich hörte die Wahrsagerin und ihre Kundin in angeregtem Gespräch. Es hörte sich an wie ein Tratsch unter Nachbarinnen. Einmal sagte die Frau: »Wenn der Richter von oben runterblicken würde …« Ich dachte an Jehova, aber die Wahrsagerin ergänzte den Satz: »… er schaut bestimmt von oben rauf.«

Endlich kam ich dran.

Das Wohnzimmer wirkte behaglich. Mir fielen zwei Schreibmaschinen auf und eine Menge Bücher. Durch die hohen Fenster sah man zumindest Höfe und Balkone, den Himmel zwischen den Slips, die an den Wäscheleinen schaukelten. Wir setzten uns an einen Tisch, auf dem ein Manuskript und die Karten lagen, die meine Zukunft wussten.

»Hoffentlich krieg ich’s zusammen«, sagte die Wahrsagerin, »ich bin nämlich voll mit Chinin.« Ich tippte auf Malaria, sie hatte aber nur eine Grippe. Sie sagte, sie sei andauernd krank. Sie gab mir die Karten. Ich mischte. Ich fragte, wie sie zu dem Beruf gekommen sei. Sie sagte natürlich, sie hätte sich schon immer dafür interessiert. Sie sah auch so aus. Sie hatte lange Nägel und viele Ringe an den Fingern und große dunkle Augen, und wenn sie sich beim Weissagen über die Karten beugte und mich fixierte, kam sie meiner Vorstellung von einer kartenlegenden Zigeunerin schon ziemlich nahe. Ich fragte, wie ihr Geschäft ginge. Sie war ausgebucht. Wahrsagen ist eine Wachstumsbranche, wie wir alle sie uns wünschen sollten, und sie hatte eine große Stammkundschaft. Kein Wunder mit diesen Augen. Und sie nahm 60 Mark pro Sitzung. Dafür ließ sich eine Menge Chinin kaufen.

»Ich sage alles, was ich sehe«, sagte sie, bevor sie die Karten aufdeckte. »Ich habe einmal einem Freund prophezeit, dass er in eine tödliche Gefahr geraten wird, und als das eingetreten ist und er überlebt hat, hat er eine Anzeige in die Zeitung gesetzt mit meinem Namen und meiner Telefonnummer. Seitdem ist das mein Beruf, und ich bin auch beim Gewerbeamt gemeldet.« Sie betrachtete die Karten und lächelte. »Sie haben ein ganz schön chaotisches Leben. Und demnächst kommt ein großer Bruch …«

Eine gute Wahrsagerin ist eine Mischung aus Hexe, Krankenpflegerin, Drogenpusher und Lebensberatung. Wenn sie dazu noch eine Frau ist, die gut aussieht, kann das, was sie weissagt, noch so vage sein, der Kunde wird sich nie geneppt fühlen. Er bekommt am helllichten Tag gesagt, was er im Dunkeln schon immer gespürt haben will, und das ist mehr als das mit dem Schampus und der Schickse, die auf Liebling macht.

Als wir durch waren, sagte die Wahrsagerin: »Jetzt lächeln Sie so süffisant.«

»Süffisant? I wo …« Mein Lächeln war nur ein Reflex auf ihr Lächeln, aber genauso gut hätte ich ihr sagen können, dass ich vom Finanzamt wäre. Dabei hatte das, was sie mir weissagte, einen höheren Wahrheitsgehalt als jede...