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Wintergeschichten

Wintergeschichten

Anton Cechov

 

Verlag Diogenes, 2019

ISBN 9783257609738 , 272 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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18,99 EUR


 

Knaben


Volodja ist da! – rief jemand auf dem Hof.

– Volodička ist da! – jammerte Natalja und kam ins Esszimmer gelaufen. – Ach, mein Gott!

Die gesamte Familie Korolev, die Stunde um Stunde auf ihren Volodja gewartet hatte, stürzte an die Fenster. An der Auf‌fahrt stand ein großer Schlitten, und von den drei Schimmeln stieg Nebel auf. Der Schlitten war leer, denn Volodja stand schon im Flur und knüpf‌te sich mit roten, verfrorenen Fingern die Kapuze auf. Sein Gymnasiastenmantel, die Uniformmütze, Galoschen und Haare waren reifbedeckt, und er verströmte von Kopf bis Fuß einen so appetit‌lichen Frostgeruch, dass man bei seinem Anblick am liebsten nach draußen gelaufen wäre und gesagt hätte: »Brrr!« Mutter und Tante stürzten ihm in die Arme, Natalja fiel ihm zu Füßen auf die Knie und begann, ihm die Filzstiefel auszuziehen, die Schwestern erhoben ein Gezeter, Türen quietschten, schlugen, und Volodjas Vater kam, nur in der Weste, eine Schere in der Hand, in den Flur gelaufen und rief erschrocken:

– Aber wir haben dich schon gestern erwartet! Bist du gut hergekommen? Wohlbehalten? Herrgott, lass ihn doch auch seinen Vater begrüßen! Bin ich etwa nicht sein Vater, wie?

– Haw! Haw! – heulte mit Bassstimme Mylord, der riesige schwarze Hund, der mit dem Schwanz gegen Wände und Möbel klopf‌te.

All das vermengte sich zu einem einzigen freudigen Geschrei, das ein, zwei Minuten anhielt. Als der erste Freudensturm sich gelegt hatte, bemerkten die Korolevs, dass außer Volodja sich im Flur noch ein kleiner Mensch befand, in Tücher, Schals und Kapuzen gehüllt und reifbedeckt; er stand, einen großen Fuchspelz übergeworfen, reglos in einer Ecke im Schatten.

– Volodička, und wer ist das? – flüsterte die Mutter.

– Ach! – erinnerte sich Volodja plötz‌lich. – Habe die Ehre vorzustellen, das ist mein Schulkamerad Linseničin, Schüler der 2. Klasse … Ich habe uns einen Gast mitgebracht.

– Sehr angenehm, seien Sie uns willkommen! – sagte freudig der Vater. – Entschuldigen Sie, ich bin im Hauskleid, ohne Jackett … Kommen Sie herein! Natalja, hilf Herrn Plinseničin beim Auskleiden! Herr du mein Gott, jagt end‌lich diesen Hund weg! Er ist eine Strafe!

Wenig später saßen Volodja und sein Freund Linseničin, betäubt von dem s‌türmischen Empfang und noch immer rosig von der Kälte, am Tisch und tranken Tee. Die Wintersonne, den Schnee und die Eisblumen an den Fenstern durchdringend, zitterte auf dem Samovar und badete ihre reinen Strahlen im Spucknapf. Im Zimmer war es warm, und die Knaben spürten, wie in ihren durchgefrorenen Körpern, ohne dass eines dem anderen nachgeben wollte, Wärme und Frost sich gegenseitig kitzelten.

– Ja, nun haben wir schon wieder Weihnachten! – sprach in singendem Tonfall der Vater, während er sich aus dunkelrotem Tabak eine Zigarette drehte. – Und war nicht vor kurzem noch Sommer, hatte Mutter nicht geweint, als sie dich begleitete? Und jetzt bist du wieder da … Die Zeit, Freund, vergeht so schnell! Kaum sagst du Ach!, schon ist das Alter gekommen. Herr Flinteničin, bitte greifen Sie zu, genieren Sie sich nicht! Bei uns gehts ungezwungen zu.

Volodjas drei Schwestern, Katja, Sonja und Maša – die älteste war elf Jahre alt –, saßen am Tisch und ließen kein Auge von dem neuen Bekannten. Linseničin war so alt und von gleichem Wuchs wie Volodja, aber nicht so pummelig und weiß, sondern mager, dunkel und mit Sommersprossen bedeckt. Er hatte borstige Haare, schmale Augen, dicke Lippen und war überhaupt sehr häss‌lich, und hätte er nicht die Uniformjacke eines Gymnasiasten angehabt, so hätte man ihn, dem Äußeren nach, für den Sohn der Köchin halten können. Er war griesgrämig, schwieg die ganze Zeit und lächelte kein einziges Mal. Die Mädchen, die ihn ansahen, waren sich sofort darüber im Klaren, dass er ein sehr kluger und gelehrter Mensch sein müsse. Er dachte die ganze Zeit über etwas nach und war so sehr mit seinen Gedanken beschäftigt, dass er, wenn man ihn nach etwas fragte, zusammenfuhr, den Kopf schüttelte und bat, die Frage zu wiederholen.

Die Mädchen bemerkten, dass auch Volodja, der immer heiter und gesprächig gewesen war, dieses Mal wenig sprach, überhaupt nicht lächelte und irgendwie gar nicht froh war, wieder zu Hause zu sein. Solange sie beim Tee saßen, wandte er sich nur ein einziges Mal an die Schwestern, und auch das mit seltsamen Worten. Er zeigte mit dem Finger auf den Samowar und sagte:

– In Kalifornien trinkt man Gin statt Tee.

Auch er war mit irgendwelchen Gedanken beschäftigt, und wie es schien, den Blicken nach zu schließen, die er bisweilen mit seinem Freund Linseničin wechselte, hatten die Knaben gemeinsame Gedanken.

Nach dem Tee gingen alle ins Kinderzimmer. Der Vater und die Mädchen setzten sich an den Tisch und nahmen die Arbeit wieder auf, die durch die Ankunft der Knaben unterbrochen worden war. Sie machten aus Buntpapier Blumen und Ketten für den Weihnachtsbaum. Das war eine schöne und geräuschvolle Arbeit. Jede neu gemachte Blume begrüßten die Mädchen mit begeisterten Schreien, sogar mit entsetzten Schreien, so als sei die Blume vom Himmel gefallen; Papaša verfiel ebenfalls in Begeisterung und warf bisweilen die Schere zu Boden, aus Ärger darüber, dass sie stumpf war. Mamaša kam ins Kinderzimmer gelaufen, machte ein besorgtes Gesicht und fragte:

– Wer hat meine Schere genommen? Hast du schon wieder meine Schere genommen, Ivan Nikolaič?

– Herr du mein Gott, nicht mal eine Schere geben sie einem! – antwortete Ivan Nikolaič mit weiner‌licher Stimme und nahm, gegen die Stuhllehne zurückgelehnt, die Pose des Gekränkten ein, geriet jedoch eine Minute später erneut in Begeisterung.

Früher, wenn Volodja nach Hause kam, hatte auch er sich am Vorbereiten des Weihnachtsbaums beteiligt oder war auf den Hof gelaufen, um zuzusehen, wie der Kutscher und der Hirte die Rodelbahn machten, jetzt jedoch schenkten er und Linseničin dem Buntpapier keinerlei Beachtung und waren kein einziges Mal im Pferdestall, sondern saßen am Fenster und flüsterten miteinander; dann schlugen beide gemeinsam den Weltatlas auf und begannen, irgendeine Karte zu betrachten.

– Zuerst nach Perm… – sagte Linseničin leise … – von dort nach Tjumen … dann Tomsk … dann … dann … nach Kamčatka … Von hier bringen uns die Samojeden in Booten über die Beringstraße … Und dann bist du in Amerika … Hier gibt es viele Pelztiere.

– Und Kalifornien? – fragte Volodja.

– Kalifornien ist weiter unten … Wenn wir erst in Amerika sind, ist Kalifornien nicht mehr weit. Ernähren werden wir uns von Jagd und Raub.

Linseničin mied die Mädchen den ganzen Tag, sah sie nur aus den Augenwinkeln an. Nach dem abend‌lichen Tee geschah es, dass man ihn für fünf Minuten mit den Mädchen allein ließ. Zu schweigen wäre pein‌lich gewesen. Also räusperte er sich streng, rieb die linke Hand in der rechten Handfläche, blickte Katja griesgrämig an und fragte:

– Haben Sie Mayne Reid gelesen?

– Nein, hab ich nicht … Hören Sie, und können Sie Schlittschuh laufen?

In seine Gedanken vertieft, antwortete Linseničin nichts auf diese Fragen, sondern blies nur die Wangen auf und stieß einen Seufzer aus, als sei ihm sehr heiß. Er hob noch einmal die Augen auf Katja und sagte:

– Wenn eine Bisonherde durch die Pampas rast, dann bebt die Erde und die Mustangs schlagen aus und wiehern.

Linseničin lächelte traurig und setzte hinzu:

– Außerdem überfallen die Indianer die Eisenbahnen. Aber das Schlimmste sind die Moskitos und die Termiten.

– Was ist denn das?

– Das ist etwas wie die Ameisen, nur mit Flügeln. Sie beißen sehr schmerzhaft. Wissen Sie, wer ich bin?

– Herr Linseničin.

– Nein, ich bin Montigomo, Habichtskralle, Häuptling der Unbesiegbaren.

Maša, die Kleinste, sah ihn an, dann das Fenster, hinter dem bereits der Abend anbrach, und sagte nachdenk‌lich:

– Bei uns hat es gestern Linseneintopf gegeben.

Die völlig unverständ‌lichen Worte Linseničins und der Umstand, dass er beständig mit Volodja flüsterte, dass er nicht mitspielte, sondern ständig über etwas nachdachte – all das war seltsam und rätselhaft. Und die beiden älteren Mädchen, Katja und Sonja, begannen, die Knaben wie ein Luchs zu beobachten. Am Abend, als die Knaben sich schlafen gelegt hatten, stahlen sich die Mädchen an die Tür und belauschten ihr Gespräch. Oh, was sie da erfuhren! Die Knaben wollten irgendwohin nach Amerika fliehen, um Gold zu graben; sie hatten schon alles für die Reise beisammen: eine Pistole, zwei Messer, Zwieback, eine Lupe zum Feuermachen, einen Kompass und in barem Geld vier Rubel. Sie erfuhren, was die Knaben alles zu bestehen hatten: einige Tausend Werst zu Fuß zurücklegen, unterwegs mit Tigern und Wilden kämpfen, dann nach Gold graben und Elfenbein gewinnen, Feinde töten, unter die Seeräuber gehen, Gin trinken und am Ende zwei schöne Frauen heiraten und Plantagen bearbeiten. Volodja und Linseničin sprachen miteinander und unterbrachen sich in ihrer Begeisterung gegenseitig. Sich selbst nannte Linseničin »Montigomo, Habichtskralle«, Volodja hingegen »meinen bleichgesichtigen...