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Der Pferdeflüsterer - Roman

Nicholas Evans

 

Verlag Aufbau Verlag, 2011

ISBN 9783841204165 , 464 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

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9,99 EUR


 

2


Annie war erst achtzehn, als sie Robert kennenlernte. Es war der Sommer des Jahres 1968, und statt direkt von der Schule nach Oxford zu gehen, wo ihr ein Studienplatz angeboten worden war, zog Annie es vor, ein Jahr auszusetzen. Sie trat einer Organisation namens Voluntary Services Overseas bei und absolvierte einen zweiwöchigen Intensivkurs über das Unterrichten der englischen Sprache und darüber, wie man Malaria vermied und den Annäherungsversuchen der Einheimischen widerstand (sag laut und deutlich »nein« und lass dich nicht beirren).

Derart vorbereitet, flog sie in den Senegal und stieg nach kurzem Aufenthalt in der Hauptstadt Dakar in einen offenen, mit Menschen, Hühnern und Ziegen vollgestopften Bus, um zu einer staubigen, fünfhundert Meilen langen Fahrt in den Süden aufzubrechen, wo sie in einer kleinen Stadt die nächsten zwölf Monate verbringen sollte. Als der Abend des zweiten Tages anbrach, erreichten sie die Ufer eines großen Flusses. Die Nacht war heiß und feucht, der Lärm der Insekten erfüllte die Luft, und Annie konnte die Lichter der Stadt auf der anderen Wasserseite schimmern sehen. Doch die Fähre fuhr erst wieder am nächsten Morgen, und der Fahrer und die Passagiere, mit denen sie sich inzwischen angefreundet hatte, fragten sich besorgt, wo Annie die Nacht verbringen sollte. Es gab kein Hotel. Sie selbst würden gewiss mühelos ein Plätzchen für die Nacht finden, aber die junge Engländerin brauchte eine wohnlichere Unterkunft.

Sie sagten ihr, dass ein »Tubab« in der Nähe wohne, der sie bestimmt beherbergen könne. Ohne auch nur zu ahnen, was ein Tubab sein könnte, wurde Annie von einem großen Aufgebot, das ihre Taschen trug, über einen gewundenen Dschungelpfad zu einem kleinen Lehmhaus unter Affenbrot- und Papayabäumen geführt. Der Tubab, der ihr die Tür öffnete – später sollte sie erfahren, dass »Tubab« weißer Mann bedeutet –, war Robert.

Er hatte sich freiwillig zum Friedenskorps gemeldet und wohnte hier seit einem Jahr, unterrichtete Englisch und legte Brunnen an. Er war vierundzwanzig, ein Harvard-Absolvent und der klügste Mensch, den Annie je kennengelernt hatte. An diesem Abend kochte er ihr ein wundervolles Essen, gewürzten Fisch und Reis, dazu gab es kaltes Bier zum Nachspülen, und bei Kerzenschein redeten sie bis um drei Uhr in der Früh. Robert kam aus Connecticut und wollte Anwalt werden. Es sei angeboren, entschuldigte er sich, und seine Augen funkelten hinter der goldrandigen Brille. Solange man sich erinnern könne, habe es in seiner Familie nur Anwälte gegeben. Es sei der »Fluch der Macleans«.

Und wie ein Anwalt nahm er Annie ins Kreuzverhör, fragte sie über ihr Leben aus, drängte sie, es zu beschreiben und auf eine Weise zu analysieren, die es ihr selbst in neuem Licht darstellte. Sie erzählte ihm, dass ihr Vater Diplomat gewesen war und dass sie die ersten zehn Jahre ihres Lebens von einem Land ins andere gereist sei. Sie und ihr jüngerer Bruder waren in Ägypten geboren, lebten in Malaysia, später in Jamaika. Dann starb ihr Vater überraschend an einem schweren Herzanfall. Annie konnte erst seit kurzem so darüber reden, dass die Unterhaltung nicht stockte und ihr Gegenüber plötzlich auf die Schuhe starrte. Ihre Mutter war nach England zurückgekehrt, hatte bald wieder geheiratet und sie und ihren Bruder in einem Internat untergebracht. Obwohl Annie diesen Teil ihrer Geschichte mit wenigen Worten abtat, erriet sie, dass Robert den tiefen, ungelinderten Schmerz dahinter spürte.

Am nächsten Morgen brachte Robert sie in seinem Jeep zur Fähre und lieferte sie anschließend wohlbehalten im katholischen Kloster ab, in dem sie ein Jahr unter dem nur gelegentlich missbilligenden Blick der Oberin, einer freundlichen und zum Glück recht kurzsichtigen Frankokanadierin, wohnen und unterrichten sollte.

Im Verlauf der nächsten drei Monate traf Annie sich jeden Mittwoch mit Robert, wenn er in die Stadt kam, um Vorräte einzukaufen. Er sprach fließend Jola – die Sprache der Einheimischen – und gab ihr jede Woche eine Stunde Unterricht. Sie wurden Freunde, aber kein Liebespaar. Stattdessen verlor Annie ihre Jungfräulichkeit an einen schönen Senegalesen namens Xavier, zu dessen Annäherungsversuchen sie laut und ehrlich »ja« sagte.

Dann wurde Robert nach Dakar versetzt, und am Abend vor seiner Abreise fuhr Annie zu einem Abschiedsessen auf die andere Flussseite. Amerika wählte einen neuen Präsidenten, und mit wachsender Niedergeschlagenheit hörten sie aus dem knisternden Radio, dass Nixon einen Staat nach dem anderen gewann. Fast schien es, als wäre ein naher Verwandter von Robert gestorben, und Annie war sehr gerührt, als er ihr mit gequälter Stimme erzählte, was diese Wahl für sein Land und für den Krieg bedeutete, in dem viele seiner Freunde in Asien kämpften. Sie umarmte ihn, drückte ihn an sich und fühlte sich zum ersten Mal nicht länger als Mädchen, sondern als Frau.

Erst als er fort war und sie andere Freiwillige vom Friedenskorps kennenlernte, begriff sie, was für ein ungewöhnlicher Mann er war. Seine Nachfolger waren zumeist Junkies oder Langweiler oder beides. Einer von ihnen hatte glasige, rot unterlaufene Augen, trug ein Stirnband und behauptete, seit einem Jahr high zu sein.

Sie traf Robert noch einmal im nächsten Juli, als sie über Dakar nach Hause flog. Hier sprachen die Einheimischen Wolof, und auch diese Sprache beherrschte er fließend. Er wohnte so nahe beim Flughafen, dass man nicht weiterreden konnte, wenn ein Flugzeug über das Haus flog. Um aus einer Not eine Tugend zu machen, hatte er sich ein riesiges Verzeichnis aller Flüge von und nach Dakar besorgt und es zwei Nächte lang studiert. Dann kannte er es auswendig. Sooft er danach ein Flugzeug hörte, sagte er den Namen der Fluggesellschaft, den Heimatflughafen, die Reiseroute und den Bestimmungsort auf. Annie lachte, und er schien ein wenig beleidigt. Sie flog in jener Nacht nach Hause, in der der erste Mensch den Mond betrat.

Sieben Jahre lang sahen sie sich nicht wieder. Annie schaffte ihr Studium in Oxford mit links, gründete eine radikale und unverschämt freche Studentenzeitung und schloss zum Entsetzen ihrer Freunde das Studium in Anglistik mit Auszeichnung ab, scheinbar ohne jemals einen Handschlag getan zu haben. Sie wurde Journalistin, weil sie sich das noch am besten vorstellen konnte, und arbeitete für eine Abendzeitung im Nordosten Englands. Ihre Mutter kam sie dort ein einziges Mal besuchen und fand die Landschaft und die mit einer Rußschicht bedeckte Bruchbude, in der ihre Tochter hauste, derart deprimierend, dass sie auf dem Rückweg nach London nicht aufhören konnte zu weinen. Annie selber hielt es ein Jahr aus, dann packte sie ihre Siebensachen, flog nach New York und staunte über sich selbst, wie sie sich mit einigen Bluffs einen Job bei Rolling Stone verschaffte.

Sie spezialisierte sich auf schräge, knallharte Porträts von Berühmtheiten, die eher Bewunderung gewohnt waren. Ihre Kritiker – und davon gab es viele – prophezeiten, dass ihr bald die Opfer ausgehen würden, aber sie sollten sich irren. Der Strom der Interviewpartner riss nicht ab. Es wurde zu einer Art Statusfrage, einmal von Annie Graves erledigt und hingerichtet worden zu sein.

Eines Tages rief Robert sie in ihrem Büro an, und einen Moment lang wusste sie mit seinem Namen nichts anzufangen. »Der Tubab, der dir für eine Nacht im Dschungel ein Bett besorgt hat?«, half er ihrem Gedächtnis nach.

Sie trafen sich auf einen Drink, und er sah viel besser aus, als Annie ihn in Erinnerung hatte. Zu ihrem Erstaunen stellte sie fest, dass er jeden ihrer Artikel besser zu kennen schien als sie selbst. Inzwischen war er stellvertretender Staatsanwalt und unterstützte, soweit seine Arbeit dies zuließ, die Wahlkampagnen für Jimmy Carter. Er war Idealist und platzte vor Enthusiasmus, doch vor allem brachte er sie immer wieder zum Lachen. Außerdem war er sehr offen zu ihr und trug sein Haar kürzer als irgendein Mann, mit dem sie in den letzten fünf Jahren ausgegangen war.

Während Annies Garderobe vor schwarzen Ledersachen und Sicherheitsnadeln überquoll, fanden sich bei ihm ausschließlich dezente Hemden und Kordhosen. Wenn sie zusammen ausgingen, konnte man glauben, L. L. Bean hätte die Sex Pistols getroffen. Und ohne dass sie ein Wort darüber verloren, genossen sie beide den Nervenkitzel dieser unkonventionellen Mischung.

Im Bett, diesem so lang ausgeklammerten Bereich ihrer Beziehung, vor dem Annie, ehrlich gesagt, ein wenig zurückschreckte, erwies sich Robert erstaunlich frei von jenen Hemmungen, die Annie bei ihm erwartet hatte. Eigentlich war er sogar weit einfallsreicher als die meisten drogenschlaffen, coolen Typen, mit denen sie seit ihrer Ankunft in New York hin und wieder das Bett geteilt hatte. Als sie Wochen später eine entsprechende Bemerkung machte, überlegte Robert einen Augenblick, so wie er es früher stets getan hatte, ehe er eine Eintragung aus dem Flugverzeichnis von Dakar zum besten gab, und antwortete mit vollem Ernst, dass er schon immer der Ansicht gewesen sei, dass man den Sex ebenso wie das Gesetz mit angemessener Sorgfalt zu pflegen habe.

Sie heirateten im nächsten Frühjahr, und Grace, ihr einziges Kind, wurde drei Jahre später geboren.

 

Annie hatte sich nicht bloß aus Gewohnheit Arbeit für die Zugfahrt mitgenommen, sondern auch gehofft, sich damit ablenken zu können. Sie legte die Papiere hin, Fahnen eines längeren Artikels, von dem sie erwartete, dass er sich als wichtiger Bericht über die Befindlichkeit der Nation entpuppte und den sie gegen eine nicht gerade gering zu nennende Summe bei einem berühmten...