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Der Beobachter - Kriminalroman

Charlotte Link

 

Verlag Blanvalet, 2011

ISBN 9783641070724 , 656 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

SONNTAG, 3. JANUAR (S. 205-206)

1


Die Sonntage waren am schlimmsten. Nicht, dass sie im Grunde anders abgelaufen wären als die Montage oder Donnerstage. Aber an den Sonntagen senkte sich eine bleierne Ruhe über die Stadt, jedenfalls über dieses ziemlich seelenlose Neubaugebiet in Croydon, im Süden Londons gelegen, in dem Liza wohnte. Selbst da, wo man Menschen sah, Geräusche hörte, durchaus registrierte, dass man nicht allein auf der Welt war, schien eine dicke Decke erstickend über den Resten von Lebendigkeit zu liegen. Eine Atmosphäre der Reglosigkeit. Die Sonntage waren tote Tage.

Sie hatte einmal gelesen, dass sich die meisten Selbstmorde sonntagnachmittags ereigneten, und sie bezweifelte keine Sekunde lang den Wahrheitsgehalt dieser Information. Außerdem gab es eine Suizidhäufung in den Silvesternächten und jeweils am ersten Januar. Auch das glaubte sie sofort. Weihnachten, seltsamerweise, nahm keine Spitzenposition ein. Aber auch das verstand sie. Wer Kummer hatte, brachte das Fest der Besinnlichkeit und inneren Einkehr noch halbwegs standhaft hinter sich. Die aufdringliche Fröhlichkeit der Silvesternacht mit ihren knallenden Korken, ihren Luftschlangen und ihrer dröhnenden Musik hingegen verlieh jedem Schmerz erst wahrhaft grelle Umrisse. Zu diesem Zeitpunkt war er nicht mehr verdrängbar.

Und der erste Januar tauchte ihn in ein blasses Winterlicht, das in den Augen schmerzte. Das neue Jahr begann so trostlos, wie das alte aufgehört hatte, und es würde genauso wieder enden. Also beendete man es lieber gleich. Liza hatte alle Klippen überstanden. Weihnachten, Silvester, den ersten Januar. Sie würde ihr Leben nun nicht an diesem traurigen, leeren, toten Sonntagnachmittag wegwerfen. Sie beschwor sich, auszuhalten. Irgendwo in einer der Wohnungen unter ihr spielte jemand Klavier. Das Stück kam ihr vage bekannt vor, aber sie vermochte es nicht einzuordnen. Es war eigentlich nur eine ziemlich kurze Passage.

Am Ende machte der Klavierspieler jedes Mal einen Fehler und begann dann von vorn. Seit zwei Stunden jetzt schon. Er musste eine Engelsgeduld haben. Oder er war einfach stumpfsinnig. Bis auf das Klavier war nichts im Haus zu hören. Die meisten Familien gingen sicher spazieren. Draußen schien die Sonne, der Schnee glitzerte und funkelte, es war eisig kalt. Genau der Tag, an dem man einen ausgiebigen Fußmarsch unternahm, um sich hinterher im warmen Wohnzimmer mit einem Glühwein aufzuwärmen und sich ein schönes Abendessen zu kochen.

Das konnte sie zumindest auch tun: sich etwas Schönes kochen. Es war zwar nicht dasselbe, wenn man vorher nicht gelaufen war, aber es gab dann etwas, worauf sie sich freuen konnte. Sie blickte auf die Uhr. Noch nicht ganz vier. Etwas früh, um über ein Abendessen nachzudenken. Trotzdem ging sie in die Küche, schaute in den Kühlschrank. Sie hatte einiges da, was sich verwenden ließ, Fleisch, Kartoffeln, Karotten. Sie könnte ein Irish Stew … Ihr wurde auf einmal übel, sie schlug die Kühlschranktür zu, richtete sich auf. Ihr Hunger und ihre Vorfreude waren mit einem Schlag verflogen.