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Das Mädchen auf den Klippen - Roman

Lucinda Riley

 

Verlag Goldmann, 2012

ISBN 9783641075194 , 464 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

1

Dunworley Bay, West Cork, Irland

Die Gestalt stand gefährlich nahe am Rand der Klippe. Der Wind blies ihr üppig langes rotes Haar hoch. Das dünne weiße Baumwollkleid reichte bis zu den Knöcheln; darunter kamen nackte Füße zum Vorschein. Sie hielt die Arme, die Handflächen nach oben, über den sich brechenden Wellen der grauen See ausgestreckt, als wollte sie sich den Elementen als Opfergabe darbieten.

Grania Ryan beobachtete sie fasziniert und unsicher, ob sie real war. Sie schloss die Augen kurz, machte sie wieder auf und sah, dass sie nach wie vor dort stand. Grania ging einige Schritte auf sie zu.

Als sie näher kam, merkte Grania, dass es sich bei der Gestalt um ein Kind und bei dem weißen Baumwollkleid um ein Nachthemd handelte. Über dem Meer ballten sich schwarze Sturmwolken zusammen, die ersten Regentropfen landeten auf ihren Wangen, und der Wind heulte ihr um die Ohren. Aus etwa zehn Metern Entfernung erkannte Grania, wie sich die blau gefrorenen Zehen der Kleinen am Fels festkrallten und Böen den schmalen Körper ins Wanken brachten. Wenn sie sie packte und erschreckte, konnte ein falscher Schritt zu einer Tragödie, zum sicheren Tod des Mädchens auf den gischtbedeckten Felsen dreißig Meter unter ihnen führen.

Grania überlegte verzweifelt, was zu tun sei. Bevor sie zu einer Entscheidung gelangen konnte, drehte sich die Kleine um und sah sie mit leerem Blick an.

Grania streckte instinktiv die Arme aus. »Ich tu dir nichts. Komm zu mir.«

Das Mädchen starrte sie weiter unverwandt an.

»Wenn du mir sagst, wo du wohnst, bringe ich dich nach Hause. Hier draußen holst du dir den Tod. Bitte lass dir helfen«, flehte Grania sie an.

Als sie einen Schritt auf das Kind zumachte, trat ein Ausdruck der Angst auf das Gesicht der Kleinen, als wäre sie aus einem Traum erwacht, und sie rannte von Grania weg, immer die Klippen entlang, bis sie außer Sichtweite war.

»Ich wollte grade eine Suchmannschaft losschicken. Übler Sturm da draußen.«

»Mam, ich bin einunddreißig Jahre alt und habe die letzten zehn in Manhattan gelebt«, erwiderte Grania, als sie die Küche betrat und ihre nasse Jacke vor den Rayburn-Herd hängte. »Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Ich bin ein großes Mädchen.« Sie gab ihrer Mutter, die den Tisch fürs Abendessen deckte, einen Kuss auf die Wange. »Wirklich.«

»Mag sein, aber solche Stürme haben schon starke Männer von den Klippen geweht.« Kathleen Ryan deutete zum Küchenfenster hinaus, gegen das die Äste des blütenlosen Glyzinienbuschs peitschten. »Ich hab grade Tee gekocht.« Kathleen wischte sich die Hände an der Schürze ab und ging zum Herd. »Möchtest du eine Tasse?«

»Gern, Mam. Setz dich hin und lass mich das machen, ja?« Grania drückte ihre Mutter sanft auf einen Küchenstuhl.

»Bloß fünf Minuten. Um sechs kommen die Jungs heim und wollen ihren Tee.«

Als Grania das starke Gebräu in zwei Tassen goss, runzelte sie die Stirn. In den zehn Jahren ihrer Abwesenheit hatte sich nichts verändert – Kathleen verwöhnte ihre Männer wie eh und je und ordnete ihre eigenen Bedürfnisse den ihren unter. Der Kontrast zwischen dem Leben ihrer Mutter und dem Granias, in dem Emanzipation und Gleichberechtigung selbstverständlich waren, verunsicherte Grania.

Sie fragte sich, wer von ihnen beiden, Mutter oder Tochter, im Augenblick glücklicher war. Seufzend gab Grania Milch in Kathleens Tee. Die Antwort kannte sie.

»Möchtest du einen Keks?«, erkundigte sich Grania, stellte die Dose vor Kathleen und öffnete sie. Wie üblich war sie bis zum Rand voll. Granias figurbewusste New Yorker Zeitgenossinnen hätten diese Kekse, die Grania an ihre Kindheit erinnerten, sicher entsetzt beäugt.

Kathleen nahm zwei und sagte: »Gönn dir doch auch einen, damit ich nicht allein bin. Du isst wie ein Spatz.«

Grania nahm ebenfalls einen Keks und knabberte daran. Sie hatte das Gefühl, seit ihrer Heimkehr zehn Tage zuvor ständig zu essen.

»Der Spaziergang hat dich ein bisschen durchgelüftet, was?«, erkundigte sich Kathleen, die bereits beim dritten Keks war. »Ich geh beim Nachdenken gern spazieren. Wenn ich wieder daheim bin, weiß ich meistens die Lösung meiner Probleme.«

»Ich hab da draußen etwas Merkwürdiges gesehen.« Grania trank einen Schluck Tee. »Ein kleines Mädchen, vielleicht acht oder neun Jahre alt, mit wunderschönen langen roten Haaren, im Nachthemd am Rand der Klippe. Ich hatte den Eindruck, dass die Kleine schlafwandelt. Als sie sich zu mir umgedreht hat, war ihr Blick …«, Grania suchte nach dem richtigen Wort, »… ausdruckslos. Als würde sie mich nicht wahrnehmen. Sie ist aufgewacht und wie ein erschrecktes Kaninchen den Klippenpfad entlanggerannt. Weißt du, wer das gewesen sein könnte?«

Kathleen wurde blass.

»Alles in Ordnung, Mam?«

»Du hast sie gerade eben gesehen?«

»Ja.«

»Maria, Mutter Gottes.« Kathleen bekreuzigte sich. »Sie sind also wieder da.«

»Wer ist ›wieder da‹, Mam?«, fragte Grania.

»Warum sind sie zurückgekommen?« Kathleen blickte durchs Fenster in die Nacht hinaus. »Warum nur? Ich dachte, sie wären endlich weg.« Kathleen ergriff Granias Hand. »Bist du dir sicher, dass das ein kleines Mädchen war, keine erwachsene Frau?«

»Ja, Mam. Ungefähr acht oder neun Jahre alt. Ich habe mir Sorgen gemacht. Die Kleine hatte keine Schuhe an; ihre Füße waren blau gefroren. Ich dachte zuerst, ich hätte einen Geist vor mir.«

»Da liegst du vielleicht gar nicht so falsch, Grania«, murmelte Kathleen. »Sie sind noch nicht lange wieder da. Ich bin letzten Freitag nach zehn abends an ihrem Haus vorbeigekommen und habe kein Licht gesehen.«

»Welches Haus ist es?«

»Dunworley House.«

»Das große verlassene Gebäude auf der Klippe?«, fragte Grania. »Das steht doch seit Jahren leer, oder?«

»In deiner Kindheit, ja …« Kathleen seufzte. »Während deiner Zeit in New York sind sie zurückgekommen und nach dem … Unfall verschwunden. Niemand hätte gedacht, dass sie wieder hier auftauchen würden. Ehrlich gesagt, waren wir ganz froh darüber. Ihre und unsere Familie verbindet eine lange Geschichte. Aber«, Kathleen schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und machte Anstalten aufzustehen, »vorbei ist vorbei. Ich würde dir raten, dich von ihnen fernzuhalten. Sie bringen uns nur Schwierigkeiten.«

Kathleen trat an den Herd, um den schweren Topf mit dem Abendessen aus dem Ofen zu holen.

»Wenn das Kind, das ich beobachtet habe, eine Mutter hat, sollte die doch erfahren, in was für einer gefährlichen Situation sich ihre Tochter heute befand, oder?«, meinte Grania.

»Die Kleine hat keine Mutter.« Kathleen rührte mit einem Holzlöffel in dem Eintopf.

»Sie ist tot?«

»Ja.«

»Verstehe … Und wer kümmert sich um das arme Kind?«

»Frag mich nicht.« Kathleen zuckte mit den Achseln. »Die Leute sind mir egal; sie interessieren mich nicht.«

Grania runzelte die Stirn. Diese Reaktion war völlig untypisch für Kathleen, deren großes Herz für alle notleidenden Wesen, besonders Kinder, schlug.

»Wie ist ihre Mutter gestorben?«

Kathleen hörte auf zu rühren; es herrschte Stille. Erst nach einer ganzen Weile drehte sie sich seufzend zu ihrer Tochter um. »Wenn ich es dir nicht erzähle, erfährst du’s von jemand anders. Sie hat sich das Leben genommen.«

»Selbstmord?«

»Ja, so nennt man das wohl.«

»Wie lange ist das her?«

»Vier Jahre. Sie hat sich von der Klippe gestürzt. Ihre Leiche wurde zwei Tage später bei Inchydoney angeschwemmt.«

Grania blieb einige Sekunden lang stumm, bevor sie sich erkundigte: »Wo genau ist sie gesprungen?«

»Ich vermute an der Stelle, an der du heute ihrer Tochter begegnet bist. Wahrscheinlich hat Aurora nach ihrer Mutter gesucht.«

»Du kennst ihren Namen?«

»Klar. Der ist kein Geheimnis. Früher hat den Lisles alles hier gehört, ganz Dunworley, dieses Haus eingeschlossen. Sie waren die Herren der Gegend. In den Sechzigern haben sie den Grund verkauft und nur das Gebäude auf der Klippe behalten.«

»Der Name kommt mir bekannt vor … Lisle …«

»Der örtliche Friedhof ist voll mit ihren Gräbern.«

»Du hast das Mädchen – Aurora – schon mal auf der Klippe beobachtet?«

»Deswegen hat ihr Daddy sie weggebracht. Nach dem Tod ihrer Mutter ist Aurora immer die Klippen entlanggelaufen und hat, halb wahnsinnig vor Kummer, nach ihr gerufen.«

Grania fiel auf, dass die Miene ihrer Mutter sanfter wurde. »Arme Kleine«, sagte sie mit leiser Stimme.

»Ja, ein solches Schicksal hat sie nicht verdient. Aber der Familie haftet etwas Düsteres an. Hör auf mich, Grania, und lass die Finger von diesen Leuten.«

»Warum sie wohl zurückgekommen sind?«, murmelte Grania.

»Die Lisles machen, was sie wollen. Ich weiß es nicht, und es ist mir auch egal. Würdest du mir jetzt bitte helfen, den Tisch zu decken?«

Grania ging wie an jedem Abend seit ihrer Ankunft kurz nach zehn in ihr Zimmer. Währenddessen deckte ihre Mutter unten den Tisch fürs Frühstück, ihr Vater döste in einem Sessel vor dem Fernseher, und ihr Bruder Shane war im örtlichen Pub. Er bewirtschaftete mit seinem Vater die zweihundert-Hektar-Farm, hauptsächlich mit Milchkühen und Schafen. Trotz seiner neunundzwanzig Jahre schien »der Junge«, wie Shane immer noch liebevoll...