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Die Chroniken der Elfen - Elfenblut (Bd. 1)

Wolfgang Hohlbein

 

Verlag Verlag Carl Ueberreuter, 2009

ISBN 9783709000007 , 764 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR

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I

Einhundertfünfzig Jahre«, seufzte Pia. »Und nichts hat sich geändert.«

Sie bekam keine Antwort – und wenn sie ehrlich war, hatte sie auch nicht damit gerechnet –, sondern nur ein nachdenkliches Stirnrunzeln und einen dümmlich-fragenden Blick aus einem runden Mondgesicht, das gute drei Handspannen über ihr schwebte, von stoppelkurz geschnittenem schwarzem Haar und einer mindestens fünfmal gebrochenen und breit geschlagenen Nase beherrscht wurde und auch darüber hinaus ungefähr genauso intelligent, verständnisvoll und sanftmütig aussah wie der nahezu perfekt gerundete Vollmond, der trotz der eigentlich noch frühen Stunde bereits am Himmel stand.

Schließlich machte Jesus (der im Übrigen nicht Jesus hieß, aber kaum jemand hatte es nach einem auch nur flüchtigen Blick auf seine gewaltigen schwieligen Fäuste jemals gewagt, ihn darauf hinzuweisen) ein noch fragenderes Gesicht und rang sich immerhin zu einem genuschelten »Hä?« durch.

Irgendwie gelang es Pia, weder die Augen zu verdrehen, noch zu laut zu seufzen, sondern sogar so etwas wie ein (mühsames) Lächeln auf ihr Gesicht zu zwingen. »Einhundertfünfzig Jahre«, wiederholte sie und brachte dabei das Kunststück fertig, nicht allzu genervt zu klingen. »So lange gibt es die Favelas schon. Mindestens. Vielleicht auch schon viel länger. Und nichts hat sich seither verändert. Ich meine: Sieh es dir doch an! Denk dir die Satellitenschüsseln von den Dächern weg, und das alles sieht aus wie vor zweihundert Jahren.«

Sie unterstrich ihre Worte mit einer ebenso weit ausholenden wie übertrieben deutenden Geste über die graue und rostig rote Landschaft aus Holz, Wellblech und Satellitenschüsseln der unterschiedlichsten Ausführung und Größe, die sich unter und hinter ihnen erstreckte, so weit sie sehen konnte … was ungefähr einen Kilometer bedeutete, vielleicht anderthalb. Alles, was dahinter lag, war unter einem schmutzig grauen Nebel aus Smog und hochgewirbeltem Straßenstaub verborgen. Aber Pia wusste, dass sich die Favelas tatsächlich so weit in diese Richtung ausdehnten, wie das Auge reichte … oder doch zumindest bis zu den Bergen, die westlich der Stadt eine natürliche Barriere bildeten. Wahrscheinlich, überlegte sie, hätten sie auch längst dieses Hindernis überwuchert und verschlungen, wäre das Gebirge nicht karstig und steil genug gewesen, um selbst einer Bergziege Kopfzerbrechen zu bereiten. So versuchten sie unentwegt, in die andere Richtung vorzudringen, was zu einem seit Jahrzehnten andauernden Guerillakrieg zwischen den Favelas und den angrenzenden Teilen der Stadt führte, deren Einwohner sich für etwas Besseres hielten.

Im Augenblick tobte nicht einmal weit entfernt eine weitere Schlacht in diesem nur scheinbar ungleichen Krieg. Lediglich einen Steinwurf hinter Jesus und ihr waren ganze drei der Ehrfurcht gebietenden Kriegsmaschinen der anständigen Bürger Rio de Janeiros aufgefahren, flankiert von einer Kohorte ihrer besten Krieger. Man hätte es auch anders ausdrücken können: gut zwei oder drei Dutzend Bauarbeiter mit gelben, roten und blauen Helmen – deren unterschiedliche Farben etwas bedeuten mochten oder auch nicht –, über denen sich die Schaufeln von drei riesigen Baggern erhoben, bereit, sich mit ihren gewaltigen Stahlzähnen in die aus Wellblech und morschem Holz errichteten Gebäude zu fressen, die es gewagt hatten, die imaginäre Grenzlinie zwischen dem Elendsviertel und der anständigen Leuten vorbehaltenen Seite der Straße zu überschreiten. Am Ausgang dieser Schlacht gab es nicht den geringsten Zweifel, da machte sich Pia nichts vor. Morgen, spätestens übermorgen (wenn nichts dazwischenkam, die Arbeiter oder die Müllabfuhr oder die städtischen Wasserwerke nicht streikten, es morgen nicht zu heiß oder zu kalt war, oder einer von tausend anderen denkbaren Umständen eintrat, um die Arbeiten wieder einmal lahmzulegen) würde nichts mehr von dem halben Hundert ärmlicher Hütten übrig sein, die es gewagt hatten, sich im anständigen Teil der Stadt breitzumachen. Und wenn ihre Bewohner dumm genug waren, sich zu heftig zur Wehr zu setzen oder zu laut zu protestieren, dann von etlichen von ihnen wohl auch nichts.

Aber Pia wusste auch, dass dieser Eindruck täuschte. Die Favelas mochten jede einzelne Schlacht in diesem ungleichen Kampf verlieren, doch der Krieg selbst endete nie. Dafür waren die Elendsviertel zu groß, die Stadt zu erbarmungslos und ihre anständigen Bewohner zu unanständig. Pia war – wie viele ihrer Freunde und Verwandten – in den Favelas geboren und aufgewachsen, aber sie kannte auch genug, die auf der anderen Seite der Straße auf die Welt gekommen und irgendwie doch durch die immer größer werdenden Maschen des Netzes gefallen waren, mit dem sich die gutbürgerlichen Einwohner Rios vor den Massen der Armen und Ungebildeten schützten.

»Hundertfünfzig Jahre?« Jesus ließ eine Kaugummiblase platzen und versuchte ein noch nachdenklicheres Gesicht zu machen.

Es sah ziemlich dämlich aus, fand Pia. Außerdem hatte sie im allerersten Moment Mühe, seinen Worten irgendeinen Sinn abzugewinnen. Erst dann wurde ihr klar, dass er auf ihre eigene Bemerkung von gerade anspielte. Entweder, dachte sie, sie hatte nicht annähernd so lange über den Sinn des Lebens, die Ungerechtigkeit der Welt im Allgemeinen und die Geschichte der Favelas im Besonderen nachgedacht, wie sie geglaubt hatte, oder ihre Bemerkung hatte so lange gebraucht, um an die kümmerlichen Reste von Jesus’ Intellekt zu dringen.

Wahrscheinlich Letzteres.

Jesus sah sie fragend an, kratzte sich mit einem perfekt manikürten Fingernagel am Kopf und wartete vergeblich auf irgendeine Reaktion, bevor er schließlich fortfuhr: »Ist die Stadt überhaupt schon so alt?«

Die ehrliche Antwort wäre gewesen: Ich habe nicht die geringste Ahnung, aber selbstverständlich hätte sie das nie zugegeben. Sie nickte und machte das gewichtigste Gesicht, das sie zustande brachte.

»Vielleicht«, behauptete sie. »Aber niemand weiß genau, wie alt wirklich.« Das war glatt gelogen, wie sie sehr wohl wusste, hinderte sie jedoch nicht daran, auch noch hinzuzufügen: »Und niemand weiß, was zuerst da war: die Stadt oder die Favelas.« Was vermutlich genauso falsch war. Aber es klang gut.

Jesus zeigte sich jedenfalls gebührend beeindruckt, schüttelte nach einer weiteren Sekunde trotzdem den Kopf und deutete in den Himmel hinauf. »Das hat sich geändert«, sagte er.

Womit er natürlich ebenfalls recht hatte. Trotzdem sah Pia ihn nur beinahe finster an und dachte auch gar nicht daran, in die Richtung zu blicken, in die sein ausgestreckter Zeigefinger wies. Obwohl der Tag fast zu Ende war, hatte die Sonne noch viel Kraft, und sie hatte wenig Lust, sich die Augen zu verblitzen … und noch weniger Lust, direkt ins Kameraobjektiv einer Drohne zu lächeln. Schon vor einer geraumen Weile war herausgekommen, dass die meisten davon nichts als billige Attrappen und nur allerhöchstens jede zehnte tatsächlich mit einer Kamera bestückt war (von denen wiederum allerhöchstens die Hälfte auch wirklich funktionierte. Rios Stadtväter gingen zwar mit der Zeit und waren mächtig stolz auf ihr Hightech-Spielzeug, das ihnen helfen sollte, die Straßen unserer schönen Stadt noch sicherer zu machen, aber sie waren auch mindestens genauso geizig und hatten irgendeinen ostasiatischen Schrott gekauft, der vorn und hinten nicht funktionierte), aber sie legte nun wirklich keinen Wert darauf, ihr Konterfei in irgendeiner elektronischen Datei der Polizeibehörde verewigt zu wissen.

Pia verscheuchte sowohl diesen wie auch etliche andere, womöglich noch unangenehmere Gedanken und machte eine auffordernde Geste zu den Baggern hin. Es wurde Zeit. Sie hatte nicht auf die Uhr gesehen (was auch daran lag, dass sie keine besaß), aber das war ohnehin nicht nötig. Nebst einigen anderen nützlichen Talenten verfügte sie über die Fähigkeit, stets beinahe auf die Minute genau sagen zu können, wie spät es war. Im Augenblick wartete sie darauf, dass der Vorarbeiter dort drüben seine Leute in den Feierabend schickte und seine letzte Runde über die Baustelle drehte, um sich davon zu überzeugen, dass alles seine Ordnung hatte, und alles kostbare Werkzeug entweder sicher weggeschlossen oder in einem Betonkübel untergebracht war, den er später an einem Drahtseil zwanzig Meter in die Höhe hieven würde; eine Vorsichtsmaßnahme, die so alt war wie die Geschichte der Baustellen, Kräne und Diebe und die noch nie wirklich funktioniert hatte – was unzählige Generationen von Bauarbeitern natürlich nicht daran gehindert hatte, sie zu praktizieren, und ebenso viele Generationen von Dieben nicht, sie auszunützen.

Pia interessierte sie nicht. Ebenso wenig wie jenes Werkzeug, das der Polier in ein paar Minuten in luftige Höhen...