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Der Rächer - Roman

Frederick Forsyth

 

Verlag C. Bertelsmann, 2009

ISBN 9783641028343 , 384 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

1

Der Bauarbeiter


Der einsame Läufer nahm die Steigung in Angriff und kämpfte einmal mehr gegen seinen Feind, den Schmerz. Es war zugleich Tortur und Therapie. Deswegen lief er.
Nach Meinung derer, die es wissen müssen, ist keine sportliche Disziplin so brutal und gnadenlos wie das Triathlon. Der Zehnkämpfer muss mehr Techniken beherrschen und braucht etwa beim Kugelstoßen mehr reine Körperkraft, aber was die schiere Ausdauer und die Fähigkeit angeht, Schmerzen auszuhalten und zu besiegen, gibt es nur wenige Wettbewerbe wie das Triathlon.
Der Mann, der bei Sonnenaufgang durch New Jersey lief, war wie an jedem Trainingstag lange vor dem Morgengrauen aufgestanden. Er fuhr mit seinem Pick-up zu dem entlegenen See, lud unterwegs sein Rennrad ab und kettete es sicherheitshalber an einen Baum. Zwei Minuten nach fünf stellte er die Stoppuhr an seinem Handgelenk, stülpte den Ärmel seines Neopren-Schwimmanzugs darüber und watete ins eisige Wasser.
Er trainierte das olympische Triathlon. Fünfzehnhundert Meter Schwimmen, dann raus aus dem Wasser, rasch ausziehen bis auf Radlerhose und Trikot und rauf auf das Rennrad. Danach vierzig Kilometer geduckt über dem Lenker, die gesamte Distanz im Sprinttempo. Vor langer Zeit schon hatte er die fünfzehnhundert Meter von einem Ende des Sees zum anderen abgemessen und sich genau die Stelle am anderen Ufer eingeprägt, wo sein Rad stand. Er hatte auf den um diese Zeit immer leeren Landstraßen seine Vierzig-Kilometer-Strecke abgesteckt und wusste, an welchem Baum er vom Rad steigen und mit dem Laufen beginnen musste. Die Strecke war zehn Kilometer lang, und das Gatter einer Farm kennzeichnete den Beginn der letzten beiden Kilometer. An diesem Morgen hatte er das Tor gerade passiert. Diese beiden Kilometer führten bergauf, der letzte Härtetest, der sich gnadenlos in die Länge zog.
Es tut deshalb so weh, weil ganz unterschiedliche Muskeln beansprucht werden. Normalerweise braucht ein Radfahrer oder Marathonläufer nicht die kräftige Brust, die muskulösen Schultern und Arme eines Schwimmers. Sie sind bloß zusätzlicher Ballast, den er mitschleppen muss.
Beim Radfahrer kommt die Kraft aus den Beinen und Hüften, dem Läufer helfen die Sehnen, seinen Rhythmus zu halten. Jede Disziplin hat ihren eigenen, gleich bleibenden Rhythmus. Der Triathlet muss alle drei beherrschen, dann kann er versuchen, an die Leistungen der Spezialisten heranzukommen.
Für einen Zweiundfünfzigjährigen ist dies mörderisch. Einundfünfzigjährige sollten durch die Genfer Konvention davor geschützt werden. Der Läufer war im Januar einundfünfzig geworden. Er riskierte einen Blick auf die Uhr. Seine Miene verfinsterte sich. Nicht gut. Mehrere Minuten über seiner Bestzeit. Er kämpfte noch verbissener gegen den Feind.
Olympiateilnehmer peilen zwei Stunden und zwanzig Minuten an, der Läufer in New Jersey hatte die Zweieinhalbstundenmarke bereits einmal unterboten. Beinahe ebenso lange war er nun schon unterwegs, und er hatte noch zwei Kilometer zu laufen.
Hinter einer Kurve des Highway 30 kamen die ersten Häuser seines Wohnorts in Sicht. Die Straße führt mitten durch die alte, aus vorrevolutionärer Zeit stammende Ortschaft Pennington, unweit der Interstate-Autobahn 959, die, von New York kommend, den Bundesstaat durchquert und weiter nach Delaware, Pennsylvania und Washington führt. Innerhalb der Ortschaft heißt der Highway Main Street.
Pennington ist eine ganz gewöhnliche Kleinstadt, so sauber und ordentlich, hübsch und freundlich wie die vielen tausend anderen, die das verkannte und unterschätzte Herz der USA ausmachen. Nur eine größere Kreuzung im Zentrum, wo sich die West Delaware Avenue und die Main Street schneiden, mehrere gut besuchte Kirchen der drei Glaubensgemeinschaften, eine Filiale der First National Bank, eine Hand voll Geschäfte und, abseits des Verkehrs, verstreute Häuser in Seitenalleen.
Der Läufer steuerte auf die Kreuzung zu, noch ein halber Kilometer. Es war noch zu früh für eine Tasse Kaffee im Café Cup of Joe oder ein Frühstück in Vito’s Pizza, doch selbst wenn sie geöffnet gewesen wären, hätte er nicht Halt gemacht.
Südlich der Kreuzung kam er an dem aus der Bürgerkriegszeit stammenden Schindelhaus vorbei, neben dessen Tür das Firmenschild Calvin Dexter, Rechtsanwalt, hing. Es war sein Büro, sein Firmenschild und seine Kanzlei, in der er arbeitete, wenn er sich nicht gerade wieder freinahm und wegfuhr, um seiner zweiten Beschäftigung nachzugehen. Klienten und Nachbarn akzeptierten, dass er hin und wieder zum Angeln fuhr, nicht ahnend, dass er in New York City unter einem anderen Namen eine kleine Wohnung gemietet hatte.
Mit schmerzenden Beinen quälte er sich über die letzten fünfhundert Meter bis zur Abzweigung in den Chesapeake Drive am Südende der Stadt. Dort wohnte er, und an der Ecke endete sein sich selbst auferlegtes Martyrium. Er verlangsamte seine Schritte, blieb stehen, ließ den Kopf hängen und sog, an einen Baum gelehnt, Sauerstoff in seine Lungen. Zwei Stunden und sechsunddreißig Minuten. Weit von seiner Bestzeit entfernt. Wahrscheinlich gab es im Umkreis von hundert Meilen niemanden, der mit einundfünfzig noch an diese Zeit herankam, aber das bedeutete ihm nichts. Auch wenn er es den Nachbarn, die ihn anfeuerten und belächelten, niemals würde erklären können: Ihm kam es nur darauf an, mit dem einen Schmerz den anderen zu bekämpfen, den immer währenden Schmerz, den, der niemals verging, den Schmerz über den Verlust eines Kindes, den Verlust einer Liebe, den Verlust von allem.
Der Läufer bog in seine Straße ein und legte die letzten zweihundert Meter im Schritttempo zurück. Vor sich sah er den Zeitungsjungen einen dicken Packen auf seine Veranda werfen. Der Junge winkte im Vorbeiradeln, und Cal Dexter winkte zurück.
Später würde er sich auf seinen Motorroller schwingen und seinen Pick-up holen, mit dem Roller hinten auf der Ladefläche wieder nach Hause fahren und unterwegs das Rennrad auflesen. Vorher brauchte er eine Dusche, ein paar Energieriegel und frisch gepressten Orangensaft.
Auf der Veranda angekommen, hob er den Packen Zeitungen auf, öffnete ihn und sah ihn durch. Wie erwartet, enthielt er das Lokalblatt, eine Zeitung aus Washington, die Sonntagsausgabe der New York Times sowie eine Zeitschrift.
Calvin Dexter, der drahtige, rotblonde, freundlich lächelnde Anwalt aus Pennington, New Jersey, war nicht auf der Sonnenseite des Lebens geboren worden.
Er wurde in einem kakerlaken- und rattenverseuchten Slum in Newark gezeugt und kam im Januar 1950 als Sohn eines Bauarbeiters und einer Kellnerin vom örtlichen Diner zur Welt. Die Moral der Zeit zwang seine Eltern zu heiraten, als ein Stelldichein in einem Tanzlokal und ein paar Gläser zu viel dazu führten, dass seine Mutter mit ihm schwanger wurde. Am Anfang wusste er nichts davon, denn Kinder wissen nie, wie und durch wen sie hierher gekommen sind. Sie müssen es herausfinden, und das kann sehr schmerzlich sein.
Sein Vater war für seine Verhältnisse kein schlechter Mensch. Nach Pearl Harbor hatte er sich freiwillig zum Militär gemeldet, war aber als qualifizierter Bauarbeiter an der Heimatfront im Raum New Jersey dringender gebraucht worden, wo im Zuge der Kriegsanstrengungen Tausende von neuen Fabriken, Werften und Verwaltungsgebäuden entstanden.
Er war ein harter Bursche und flink mit den Fäusten, in vielen Arbeiterjobs die einzige Chance, sich Recht zu verschaffen. Dennoch versuchte er, auf dem Pfad der Tugend zu bleiben, lieferte die Lohntüte ungeöffnet zu Hause ab und hielt seinen Sohn dazu an, das Sternenbanner, die Verfassung und Joe di Maggio zu lieben.
Doch nach dem Ende des Koreakriegs schwanden die Jobs. Nur die Industriekrise blieb, und die Gewerkschaften waren fest in Mafiahand.
Calvin war fünf, als seine Mutter die Familie verließ. Er war zu jung, um die Gründe dafür zu verstehen. Er wusste nicht, dass seine Eltern eine lieblose Ehe geführt hatten, und ertrug ihr Streiten mit dem stoischen Gleichmut von Kindern, die nichts anderes kannten. Er wusste nichts von dem Handelsvertreter, der ihr das Blaue vom Himmel und schönere Kleider versprochen hatte. Ihm wurde nur gesagt, dass sie »fortgegangen« sei.
Er nahm es einfach hin, dass sein Vater nun jeden Abend zu Hause saß, statt nach der Arbeit ein paar Bierchen zu trinken, ihn versorgte und deprimiert in den Fernseher stierte. Erst im Teenageralter sollte er erfahren, dass seine Mutter zurückkommen wollte, weil der Vertreter sie sitzen gelassen hatte, von seinem verbitterten Vater aber eine schroffe Abfuhr bekam.
Er war sieben, als sein Vater in der näheren Umgebung keine Jobs mehr fand und auf die Idee kam, ihre schäbige Wohnung in Newark aufzugeben und sich einen gebrauchten Wohnwagen zuzulegen. Darin verbrachte er zehn Jahre seiner Jugend.
Vater und Sohn zogen von Baustelle zu Baustelle, und der verwahrloste Junge besuchte die Schulen am Ort, die bereit waren, ihn aufzunehmen. Es war die Zeit Elvis Presleys, Del Shannons, Roy Orbisons und der Beatles, die aus einem Land kamen, von dem Cal noch nie gehört hatte. Es war die Zeit Kennedys, des Kalten Kriegs und Vietnams.
Jobs ergaben sich und wurden erledigt. Sie zogen durch die Städte East Orange, Union und Elizabeth im Norden, dann weiter zu Baustellen bei New Brunswick und Trenton. Eine Zeit lang, als Dexter senior Vorarbeiter bei einem kleinen Bauprojekt war, lebten sie in den Pine Barrens. Danach ging es in den Süden nach Atlantic City. Zwischen seinem achten und sechzehnten Lebensjahr besuchte Cal neun Schulen. Was er dort lernte, passte auf eine...