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Als Oma das Papier noch bügelte - Erlebte Geschichten

Willi Fährmann

 

Verlag Butzon & Bercker GmbH, 2012

ISBN 9783766641731 , 123 Seiten

6. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz frei

Geräte

7,99 EUR


 

Als Oma das Papier noch bügelte

Der Freitag war auf jeden Fall ein besonderer Tag für mich. Ich durfte ihn nämlich von vormittags bis zum späten Nachmittag bei meiner Oma verbringen. Und meine Oma, die war für mich das ein und alles. Sie konnte nämlich wunderbare Geschichten erzählen, und sie tat es auch gern. Ich war der einzige Enkel, der in der Nähe wohnte. Die zahlreichen anderen Enkelkinder aus Holland oder aus dem Sauerland besuchten meine Oma nur gelegentlich in den Ferien. Ich fand, das reichte auch. Denn diese Oma war für mich vor allem meine Oma, und ich habe sie selbst in den Ferien nur widerwillig mit meinen Vettern und Cousinen geteilt. Das Besondere an ihr war, daß sie mich an fast allem, was sie auch tat, beteiligte. Beim Einkauf trug ich ihr den Henkelkorb. Das war auch nötig, denn sie war kurzatmig und mußte selbst auf dem Weg bis zum Laden von Collins dreimal stehenbleiben und verschnaufen. Dafür kochte sie freitags auch mein Lieblingsessen. Möhren durcheinander oder winzig kleine Pellkartoffeln, die ich dann besonders mochte, wenn Oma in einer Pfanne Speck ausbriet und gebräunte Zwiebeln brutzelte. Die Kartoffeln gepellt, mit einer Gabel aufgespießt und durch das Fett gerührt, hmm, mir läuft heute noch das Wasser im Mund zusammen.

Höhepunkt am Freitag war jedoch das Zubereiten des Weißbrotteigs für den großen Stuten, der jeden Samstagabend angeschnitten wurde. Ich durfte mitmischen, mitkneten und ihn zusammen mit ihr in die lange Weißbrotform drücken. Dann kam jene spannende halbe Stunde, in der der Teig, mit einem frischen Küchenhandtuch sorgfältig abgedeckt, aufgehen mußte. Doch die Hefe, die ihn auftreiben sollte, war meistens frisch und tat das, was man von ihr erwartete.

„So, nun kannst du den Teig zum Abbacken zu Bäcker Jochums bringen“, sagte sie schließlich. „Aber halte die Form schön ruhig, damit nicht alles wieder zusammenfällt.“ Sie legte ein kleines weißes Zettelchen auf den Teig. Darauf hatte sie ihren Namen geschrieben: Tilla Lohgerber.

Am Nachmittag drückte sie mir fünf Pfennig in die Hand. Das war das Geld, was der Bäcker für das Abbacken verlangte. Ich zog los. Unter den vielen Broten, die im Regal zum Abholen fertig standen, erkannte ich sofort „unser“ Brot. Auch die Bäckersfrau brauchte keinen Blick auf das Schildchen zu werfen.

„Wieder mal schön geworden“, sagte sie und deckte das Brot mit Seidenpapier ab.

Dann nahm sie ein Stück von einer Kante, die ihr Mann von dem Kuchen auf der Platte abgeschnitten hatte, und gab es mir. Ich zahlte die fünf Pfennig, ließ mir die Kuchenkante schmecken und zog davon. Das Brot war noch warm.

Oma begutachtete es. Der Teig war bis hoch über den Rand der Form emporgequollen und hellbraun gebacken.

„Der Jochums versteht was von seinem Handwerk“, lobte sie den Bäcker. Das Brot wurde auf der Kommode im Wohnzimmer abgestellt. Das Seidenpapier jedoch kam nicht in den Abfall. Oma breitete eine Bügeldecke über den Küchentisch, legte das Papier darauf und ging zum Kohlenherd in der Ecke. Dort stand immer ein eisernes Bügeleisen hinten auf der heißen Herdplatte. Das nahm sie und bügelte das Seidenpapier glatt, faltete es sorgfältig zusammen und legte es in eine besondere Schublade im Küchenschrank. Wozu sie es eigentlich später benützte, das habe ich nie herausbekommen.

Das war mit dem Zeitungspapier anders. Auch das war zu kostbar, als daß man es fortgeworfen hätte.

Der frühe Morgen begann gleich mit Zeitungspapier. Es standen damals immer die Frauen als erste auf. Oma kam in die kalte Küche. Welches Haus hatte schon eine Heizung! Es mußte zuallererst Feuer im Herd gemacht werden. Wie hätte das wohl ohne Zeitungspapier gehen sollen? Oma knüllte also ein Doppelblatt einer alten Zeitung zusammen, steckte es in das Feuerloch, schichtete Kleinholz darauf und zündete das Feuer an. Wenig später wurde eine Schaufel Kohlen nachgeschoben. Allmählich wurde es in der Küche warm.

Nun kam auch der Opa aus dem Schlafzimmer, tippte mit dem Finger an den Wasserkessel, der mitten auf dem Herd stand, und schüttete etwas von dem warmen Wasser in ein Schälchen. Dann legte er sein Rasierzeug zurecht. Zunächst mußte das Rasiermesser geschliffen werden. Er klappte es auf, hängte seinen Leibriemen an den Fenstergriff und wetzte das Messer hin und her. Wenn er die Schärfe prüfen wollte, nahm er ein Stück von der Zeitung, hielt es mit zwei Fingern der linken Hand fest und schnitt mit dem Messer hinein. Wenn sich das Papier beim Schneiden bewegte, war das Rasiermesser nicht rasiermesserscharf. Wie durch Butter mußte das Messer durch das Papier gleiten. In dem Wasserschälchen schlug er dann mit einem kurzen Pinsel aus Dachshaaren und einem runden Seifenstückchen Rasierschaum, strich sein Gesicht dick damit ein und schabte dann Bart und Schaum mit dem Messer ab. An einer alten Zeitung wurde das Messer immer wieder abgewischt. Es kam häufiger vor, daß er sich beim Rasieren einen kleinen Schnitt zufügte. Es blutete ein wenig. Doch Hilfe war schnell zur Hand. Es gab einen Stein, so groß wie eine Streichholzschachtel, und er sah aus wie ein Stück Eis. Wenn man mit diesem Alaunstein auf die Wunde tupfte, hörte die sofort zu bluten auf. Aber diese Medizin biß auf der Haut. Und harte Männer waren zu allen Zeiten selten. Die meisten jedenfalls und auch mein Opa rissen eine kleine Ecke von der Zeitung ab und pappten das Papier auf die Schnittstelle. Das half genauso gut wie der Alaunstein. Bevor Opa jedoch das Haus verließ, fragte er jedesmal seine Frau: „Tilla, hab' ich noch ein Pflaster im Gesicht?“

Das Brot, das er mit zur Arbeit nahm, wurde zwar in Butterbrotpapier eingeschlagen, aber dann doch noch in Zeitungspapier eingewickelt. Denn kein Arbeiter, kein Kind in der Volksschule hätte das Butterbrotpapier nach dem ersten Gebrauch in den Papierkorb geworfen. Es wurde vielmehr sorgfältig zusammengefaltet und nach Hause getragen. Manchmal wurde es die ganze Woche lang zum Einwickeln des Brotes benützt. Die äußere Zeitungshülle sollte verhindern, daß das Butterbrotpapier von außen schmutzig wurde.

Sicher, beim Frühstück las Opa in der neuen Zeitung. Dann brach er auf und schob sein Fahrrad aus dem Schuppen in den Hof.

„Tilla“, rief er meiner Oma zu, „wirf mir bitte zwei Zeitungsblätter herunter. Es ist heute kühl. “

Diese Blätter schob er sich als Kälteschutz unter die Jacke. Die Landstreicher und die Radrennfahrer haben es nicht vergessen, wie warm Zeitungen den Körper halten.

Wenn ich dann wenig später bei meiner Oma schellte, dann schaute sie aus dem Fenster.

„Ich bin's, Oma“, rief ich ihr zu. Sie wickelte den großen, eisernen Hausschlüssel in eine Zeitung und warf ihn mir herunter. Sie konnte übrigens, was damals vielen alten Frauen nicht schwerfiel, aus Zeitungspapier herrliche Sachen falten, einen Hut, ein Schiffchen, eine Schwalbe, ein Pferdchen, ein Windrad oder auch ein Gebilde, das wir Himmel und Hölle nannten.

Hatte ich an Regentagen feuchte Schuhe, dann mußte ich sie ausziehen. Es wurde eine Zeitung hineingestopft. Das Papier saugte das Wasser bald aus dem Leder.

Nebenan die Brunecks hatten viele Kinder. Wenn eines der kleineren unbedingt ein paar neue Schuhe brauchte, dann wurde zunächst einmal nachgeschaut, ob die älteren nicht ein Paar besaßen, das ihnen zu klein geworden war. Paßten die dann nicht, weil die kleineren Füße den Schuh nicht ganz ausfüllten, dann wurde kurzerhand soviel Zeitungspapier in die Spitze gepreßt, bis das Innere des Schuhs klein genug war. Ich mußte gelegentlich aus Zeitungspapier handlange Stäbe falten. Wir nannten sie „Fimmkes“, aber im Lexikon sind sie wohl eher unter „Fidibus“ zu finden. Diese Fidibusse wurden im Bündel hinten an die Herdstange gehängt. Wenn Opa sich eine Pfeife anzünden wollte oder sich an Feiertagen eine Festtagszigarre genehmigte, dann hätte er doch beim Anzünden kein Streichholz verschwendet! Er hielt die Spitze des Fidibus in das Feuer und brachte Pfeife oder Zigarre zum Glühen. Er hatte dicke Schwielen an den Händen. Ich habe immer bewundert, daß er die Flamme des Fidibus mit den bloßen Fingern ersticken konnte.

Auch wurde das Zeitungspapier gebraucht, wenn nach dem Fensterputzen das Glas blank gescheuert werden mußte. Die zusammengeknüllte Zeitung schaffte das bestimmt genausogut wie irgendein Spray aus der Dose. Aber irgendwann hatte auch früher das Zeitungsleben ein Ende. Jeden Sonntag nach dem Kirchgang setzte sich Opa auf die Bank hinter den Tisch. Vor sich hatte er den ganzen Stapel der noch übriggebliebenen Zeitungsblätter liegen. Und eine scharfe Schere. Zunächst wurde der Roman ausgeschnitten, jenes Stück eines Buches, das in Fortsetzungen ja auch heute noch in den Zeitungen abgedruckt wird. Diese Ausschnitte wurden gesammelt. Wenn eines Tages „Letzte Fortsetzung“ unter dem Schlußkapitel stand, dann wurden die Einzelteile mit einer dünnen Kordel zu einem Bündel zusammengeschnürt und in die Schrankschublade gelegt. Fand sich für Oma oder Opa irgendwann eine Lesezeit, dann hatten sie ein kostenloses Buch auf Einzelblättern.

Der Rest der Zeitung wurde schließlich in gleich große Stücke zerschnitten und zu einem Block zusammengelegt. Mit der Scherenspitze bohrte Opa ein Loch durch den Block, zog eine Kordel ein, machte einen Knoten und legte ihn zur Benutzung bereit.

Wozu dieses Papier gut war, diese Frage hat mir in den letzten Jahren kein Grundschulkind mehr richtig beantworten können.

„Er wollte für die Oma einen Kalender machen.“

„Er war ja so sparsam und wollte den Block für Notizen nützen.“

„Er wollte ein Daumenkino machen.“

„Er hat es bereitgelegt für die Altpapiersammlung.“

Das ist nur eine bescheidene...