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Liturgie und Poesie - Zur Sprache des Gottesdienstes

Alex Stock

 

Verlag Butzon & Bercker GmbH, 2011

ISBN 9783766641229 , 237 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

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9,99 EUR


 

II. Gutes denken, tun und dichten

Der lateinischen Herkunft des Begriffs folgend, könnte man „Qualität“ zunächst im ontologischen Sinne der scholastischen „qualitas“ verstehen, als Beschaffenheit eines bestimmten Seienden, hier also der Eigenart jener bestimmten Textkörper, die man als Kirchengesänge bezeichnet. Im Zuge solchen Verständnisses wäre eine Taxonomie von Textsorten des Kirchengesangs vorzulegen, eine Typologie von Genera litteraria, in denen er sich realisiert. Bei der Bestimmung des Genus litterarium kommen bekanntlich formale und funktionale Komponenten zusammen; analog zu einem in der Kunstgeschichte gebräuchlichen Begriff könnte man von „Funktionsformen“ sprechen. Eine solche Sichtung der hymnodischen Genera et Species ist unverzichtbar, damit man weiß, von welchem literarischen Feld man überhaupt spricht. Aber der Begriff „Qualität“ ist im vorliegenden Zusammenhang nicht vorrangig in diesem ontologischen Sinne von literarischer Beschaffenheit gemeint, sondern im normativen Sinne von Wertigkeit. Es steht weniger die Klassifikation nach generischen Differenzmerkmalen zur Debatte als die Erörterung von Wertmaßstäben und Urteilskriterien. Es geht um eine Kriteriologie, die freilich ohne taxonomische Ordnung im Nebel stochert.

Bewertung setzt eine Situation der Wahl voraus, in der es zugleich möglich und nötig ist, das eine dem anderen vorzuziehen. Im Bereich des Kirchengesangs gibt es zwei exemplarische Wahlsituationen: die zumeist über mehrere Jahre sich erstreckende Makrosituation der Entstehung eines Gesangbuchs und die zumeist im Stundenmaß bleibende Mikrosituation der Entscheidung über die Liedgestaltung eines bestimmten Gottesdienstes. Die Resultate dieser beiden Wahlentscheidungen sind miteinander verschränkt. Die Globalentscheidung des Gesangbuchs befindet darüber, was langfristig als Repertoire dem Gemeindegesang zur Verfügung stehen soll. Die Mikroentscheidungen der Liturgen vor Ort befinden, jedenfalls in der Summe ihrer Bevorzugungen und Vernachlässigungen, darüber, was wirklich unter das Volk kommt und was als hymnodischer Ladenhüter verstaubt. Es wäre eine lohnende Arbeit empirischer Hymnologie, zu ermitteln, welche Gesänge, bezogen auf ein bestimmtes Gesangbuch, realiter in Gebrauch genommen worden sind, in welchem Umfang, zu welchen Anlässen, aus welchen Gründen. Solche von den lokalen Liturgen oder liturgischen Gremien gelenkte hymnologische Volksabstimmung über ein Gesangbuch kann zwar nicht alleiniger Maßstab sein, aber ihre Ergebnisse könnten doch den Realitätssinn von Gesangbuchmachern im Hinblick auf künftige Entscheidungen schärfen, jedenfalls der kriteriologischen Reflexion bodennahe Fakten bieten.

Da mir solche empirischen Untersuchungen aber nicht zur Hand sind, niste ich meine Überlegungen in der Makrosituation der Entstehung eines Gesangbuchs ein und wähle dazu den exemplarischen Fall des ersten katholischen Einheitsgesangbuchs deutscher Zunge, des in den Jahren 1963 bis 1975 entstandenen „Gotteslob“.10 Die verantwortlichen Hersteller dieses Gesangbuchs haben in einem umfänglichen Redaktionsbericht über Entscheidungsprozeduren ihrer zehnjährigen Arbeit Auskunft gegeben.11

Dieses Gesangbuch mitsamt den Informationen über seine Entstehung wirft für den an diesem Prozess nicht beteiligten, aber von seinem Ergebnis betroffenen Theologen eine Fülle von Fragen auf hinsichtlich des Konzepts und Verfahrens dieser einschneidenden Veränderung der Gesangbuchlandschaft des deutschsprachigen Katholizismus. Aber es ist hier nicht der Ort einer kirchen- und theologiegeschichtlichen Gesangbuchanalyse in toto.12 Es geht um etwas Begrenzteres, die Frage der Qualität kirchlicher Gesänge. Auch das ist schon ein weites Feld.

Als beschleunigender Anlass und legislativer Hintergrund des neuen Einheitsgesangbuchs ist die Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils anzusehen. In der Liturgiekonstitution des Jahres 1963 und den nachfolgenden Dokumenten zur „Musica sacra“ wird als allen Reformen zugrundeliegender Grundsatz herausgestellt, dass die Musik als „pars integralis“ der Liturgie zu betrachten sei.13 Der Kirchengesang des Chores oder des Volkes soll nicht mehr etwas sein, was die eigentlich allein vom Priester gefeierte Messe als eine Art Parallelaktion begleitet, sondern übernimmt als solcher bestimmte Funktionsstellen der Liturgie. Diese unbestreitbare Aufwertung der liturgischen Rolle der singenden Gemeinde bindet sie jedoch gleichzeitig auch enger an die Vorgegebenheiten der offiziellen Liturgie. Die funktionelle Beförderung bedeutet zugleich eine Einengung des Spielraums. Ein Passus der Instruktion „Musicam Sacram“ von 1967 macht das deutlich: „Aus dem überlieferten Schatz der Kirchenmusik soll zunächst das hervorgeholt werden, was den Bedürfnissen der erneuerten Liturgie entspricht; sodann sollen Fachleute prüfen, ob anderes diesen Bedürfnissen angepasst werden kann; das übrige schließlich, das mit dem Wesen und der angemessenen seelsorglichen Ausrichtung der liturgischen Feier nicht in Einklang gebracht werden kann, soll nach Tunlichkeit in Andachtsübungen, besonders auch in selbständige Wortgottesdienste übernommen werden.“14

Die Übernahme dieser liturgiereformerischen Grundstellung in die Kriteriologie der Gesangbuchherstellung hatte in Interferenz mit einer Reihe anderer Einflüsse der Zeit um 1970 erhebliche Veränderungen im Gefolge. Die vorrangige Orientierung an den messliturgischen Funktionsstellen der Ordinariumsgesänge Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus, Agnus Dei wie der primär antiphonal-psalmistisch verstandenen Propriumsgesänge hatte im „Gotteslob“ eine, an der älteren katholischen Gesangbuchpraxis gemessen, exorbitante Zunahme von „nichtliedmäßigen Gesängen“, Kehrversen, Psalmen, Akklamationen usw. zur Folge. Der produktive Eifer auf diesem liturgiefunktional neu erschlossenen Feld scheint weniger auf der literarischen als auf der musikalischen Ebene am Werk gewesen und dementsprechend eher einer musikologischen Analyse und Kritik zuzuordnen zu sein.

Die außergewöhnliche Expansion dieser Form des Kirchengesangs gibt jedoch auch zu pastoralliturgischen Rückfragen Anlass, welchen Wert es etwa hat, dass die Gemeinde – allein den Stammteil gerechnet – z. B. das Sanctus in insgesamt 18 Varianten singen kann, fünf lateinisch-gregorianischen, acht deutsch-verbalen und fünf deutsch-paraphrasierenden. Wenn das Evangelische Gesangbuch (EG) mit fünf Sanctus-Gesängen auskommt, dann hat das sicher seinen Grund in dem anderen Rang der Abendmahlsfeier, aber auch die älteren katholischen Diözesangesangbücher waren auf diesem Sektor viel bescheidener. Variatio delectat!? Dass die Variantenbildung auf dem Gebiet der Ordinariumsgesänge wie der Kehrverse kirchliche Komponisten delektiert, ist nicht zu übersehen. Aber diese Produktionslust ist abzuwägen gegen die Bedeutung des kulturellen Gedächtnisses, das mit der Steigerung der Varianten eher verschwimmen könnte, ohne dass im Gegenzug mit den einzelnen Varianten ein merklicher Bedeutungsgewinn zu verbuchen wäre. Eine Qualitätsprüfung hätte hier zu bedenken, ob nicht eine Reduzierung der Produktpalette die memoriellen Rezeptionschancen erhöhen könnte. Damit ist bereits ein generelleres Qualitätskriterium ins Feld geführt. Ein kirchlicher Gesang ist auch daran zu messen, wie weit es ihm – einzelnen Strophen, Versen, Motiven, Melodien, Imaginationen – gelingt, über den begrenzten Funktionsraum der Liturgie hinaus zu wirken in die memorielle Kultur.

Reformerische Uniformierung kann bestehende literarische und musikalische Gedächtnisstränge abreißen, die Einführung einer übermäßigen Variantenfrequenz sie erst gar nicht zustande kommen lassen. Die Ausbildung eines christlich geprägten Gedächtnisses als Referenzhorizont der wechselnden Alltagserfahrung erscheint mir als eine wichtige Zielperspektive des Gottesdienstes, die durch rein liturgiefunktionelle Bewertung nicht konterkariert werden sollte.

Die erwähnte liturgiereformerische Neubewertung des Kirchengesangs hat also einerseits zu einer produktiven, in ihrem Produktionseifer aber durchaus befragbaren Expansion nicht liedmäßiger Gesänge geführt. Andererseits schränken die liturgiefunktionalen Vorgaben, wenn man sie ernst nimmt, den Gebrauch der eigentlichen Kirchenlieder der deutschsprachigen Tradition zwangsläufig ein. Als messliturgische Gesänge zum Einzug, zwischen den Lesungen, zur Gabenbereitung, zur Kommunion sind viele dieser Lieder nach Herkunft, Umfang und inhaltlicher Ausrichtung nicht unmittelbar geeignet. Sie würden also, dem Siebprinzip der Instruktion „Musicam sacram“ entsprechend, eher in den Bereich der „pia exercitia“, der paraliturgischen Andachtsübungen gehören. Dass viele spezifisch katholische Lieder der deutschsprachigen Tradition nach Genese und Gebrauch im Bereich der Volksandachten, Messandachten, Prozessionen usw. anzusiedeln sind, ist offenkundig. Eben dieses für die katholische Frömmigkeit sehr prägende Andachtswesen wurde nun nicht nur von den liturgiereformerischen Kräften, die in klerikal-monastischer Tradition Messliturgie, Wortgottesdienst und Stundengebet favorisierten, vernachlässigt, es unterlag in der Zeit um 1970 auch dem Prozess einer frömmigkeitspraktischen Erosion großen Ausmaßes.15 Die sozioökonomisch bedingte Reduzierung der religiösen Aktivitäten auf den Sonntagsgottesdienst konvergierte mit dessen ekklesialer Hochschätzung. Viele einst sehr gebräuchliche und gern gesungene Lieder aus dem Bereich der Marien- und Heiligenverehrung, der Sakraments- und Herz-Jesu-Frömmigkeit, der Kreuzweg-, Mai- und Rosenkranzandachten gerieten durch diese Entwicklung in eine labile Position. Das „Gotteslob“ gibt das durch Reduzierung und...