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Herzklopfen auf Französisch

Stephanie Perkins

 

Verlag cbj Kinder- & Jugendbücher, 2012

ISBN 9783641074036 , 448 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR


 

Kapitel zwei

Ich spüre, wie sie mich überkommt, aber ich kann nichts dagegen tun.

PANIK.

Sie haben mich allein gelassen. Meine Eltern haben mich tatsächlich allein gelassen! IN FRANKREICH!

Inzwischen ist es in Paris merkwürdig still. Selbst die Opernsängerin hat für heute Schluss gemacht. Ich darf jetzt bloß nicht durchdrehen. Die Wände hier sind dünner als Heftpflaster. Wenn ich also einen Nervenzusammenbruch kriege, bekommen meine Nachbarn – meine neuen Mitschüler – alles mit. Ich glaube, ich muss mich übergeben. Ich werde diese komische Olivenpaste erbrechen, die ich zum Abendbrot gegessen habe, alle werden es mitbekommen und niemand wird mich einladen, den Pantomimen zuzusehen, wie sie aus ihren unsichtbaren Kisten schlüpfen, oder was immer die Leute hier sonst in ihrer Freizeit tun.

Ich renne zu meinem Sockelwaschbecken, um mir Wasser ins Gesicht zu spritzen, aber es schießt heraus und spritzt mir stattdessen aufs Shirt. Jetzt weine ich noch heftiger, weil ich meine Handtücher noch nicht ausgepackt habe und mich nasse Sachen an diese bescheuerten Wildwasserbahnen im Freizeitpark erinnern, in die mich Bridgette und Matt immer gezerrt haben. Das Wasser dort ist nicht blau, riecht wie Farbe und wimmelt von Millionen von Bakterien. O Gott. Was, wenn hier Bakterien im Wasser sind? Darf man französisches Wasser überhaupt trinken?

Armselig. Ich bin wirklich armselig.

Wie viele Siebzehnjährige würden sonst was tun, um von zu Hause wegzukommen? Meine Nachbarn erleiden keine Nervenzusammenbrüche. Hinter ihren Schlafzimmerwänden dringt kein Weinen hervor. Ich schnappe mir ein Shirt vom Bett, um mich abzutrocknen, als mir die Lösung einfällt. Mein Kopfkissen. Ich lasse mich mit dem Gesicht nach unten in den Lärmschutz fallen und höre gar nicht mehr auf zu schluchzen.

Jemand klopft an meine Tür.

Nein. Das ist bestimmt nicht meine Tür.

Da ist es wieder!

»Hallo?«, ruft ein Mädchen vom Flur. »Hallo? Alles in Ordnung?«

Nein, nichts ist in Ordnung. Hau ab. Aber sie ruft noch einmal, sodass ich mich vom Bett aufraffen und die Tür öffnen muss. Eine Blondine mit langen, dichten Locken wartet davor. Sie ist groß und kräftig, aber nicht kräftig, als wäre sie übergewichtig, sondern kräftig wie eine Volleyballspielerin. Ein diamantartiger Nasenring glitzert im Flurlicht. »Alles okay?« Ihre Stimme klingt einfühlsam. »Ich bin Meredith, ich wohne nebenan. Waren das deine Eltern, die gerade gegangen sind?«

An meinen verquollenen Augen kann sie erkennen, dass die Antwort Ja lautet.

»Ich hab an meinem ersten Abend auch geheult.« Sie neigt den Kopf zur Seite, denkt einen Augenblick nach und nickt dann. »Komm mit. Chocolat chaud

»Eine Schokoladenshow?« Warum sollte ich mir eine Schokoladenshow ansehen wollen? Meine Mutter hat mich hier ausgesetzt, ich habe schreckliche Angst davor, mein Zimmer zu verlassen, und …

»Nein.« Sie lächelt. »Chaud. Heiß. Heiße Schokolade. Ich kann uns in meinem Zimmer welche machen.«

Oh.

Ich folge ihr unwillkürlich. Meredith hält mich mit der Hand zurück wie ein Schülerlotse. Sie trägt Ringe an allen fünf Fingern. »Vergiss deinen Schlüssel nicht. Die Tür fällt hinter dir zu und du kommst ohne nicht mehr rein.«

»Ich weiß.« Ich ziehe die Halskette unter meinem Shirt hervor, um es ihr zu beweisen. Ich habe meinen Schlüssel während der Seminare in Lebenskunde, die an diesem Wochenende für neue Schüler Pflicht waren, drangehängt. Da haben sie uns erklärt, wie leicht es ist, sich selbst auszusperren.

Wir gehen in ihr Zimmer. Es verschlägt mir den Atem. Es hat dieselbe unmögliche Größe wie meines – zwei mal drei Meter –, den gleichen Minischreibtisch, Minikommode, Minibett, Minikühlschrank, Miniwaschbecken und Minidusche (keine Minitoilette, denn die sind für alle draußen auf dem Gang). Aber … anders als in meinem sterilen Käfig ist hier jeder Zentimeter Wand und Decke mit Postern, Bildern, glänzendem Geschenkpapier und knallbunten, französisch beschrifteten Flyern bedeckt.

»Wie lange bist du denn schon hier?«, frage ich.

Meredith reicht mir ein Papiertaschentuch, und ich putze mir die Nase – ein furchtbares Tröten wie von einer wütenden Gans –, aber sie zuckt weder mit der Wimper noch verzieht sie das Gesicht. »Ich bin gestern angekommen. Das ist jetzt mein viertes Jahr hier, deshalb musste ich nicht zu den Seminaren gehen. Ich bin allein hergeflogen und hänge seitdem hier rum und warte, dass meine Freunde auftauchen.« Sie stemmt die Hände in die Hüften und lässt den Blick zufrieden über ihr Werk schweifen. Ich entdecke einen Zeitschriftenstapel, eine Schere und Klebeband auf dem Fußboden und stelle fest, dass sie noch nicht fertig ist. »Nicht schlecht, oder? Ich kann weiße Wände einfach nicht leiden.«

Ich gehe eine Runde durch ihr Zimmer und sehe mir alles genau an. Schnell merke ich, dass die meisten Gesichter dieselben fünf Leute zeigen: John, Paul, George, Ringo und irgendeinen Soccerspieler, den ich nicht kenne.

»Ich höre nur die Beatles. Meine Freunde ziehen mich ständig damit auf, aber …«

»Und wer ist das hier?« Ich zeige auf den Soccerspieler. Er trägt Rot und Weiß und scheint fast nur aus dunklen Augenbrauen und dunklem Haar zu bestehen. Eigentlich sieht er ziemlich gut aus.

»Cesc Fàbregas. Ich sag dir, der kann passen! Spielt für Arsenal. Den englischen Fußballverein? Nein?«

Ich schüttle den Kopf. Was Sport angeht, bin ich nicht auf dem Laufenden, aber vielleicht sollte ich das sein. »Hat aber nette Beine.«

»Kann man wohl sagen. Mit diesen Oberschenkeln könnte man Nägel einschlagen.«

Während Meredith chocolat chaud auf ihrem Kocher zubereitet, erfahre ich, dass sie auch im Abschlussjahrgang ist und dass sie nur in den Sommerferien Soccer spielt, weil das in unserer Schule nicht auf dem Lehrplan steht, aber dass sie in Massachusetts sogar in der Landesauswahl gespielt hat. Da kommt sie her, aus Boston. Und sie erinnert mich daran, dass ich hier in Europa »Fußball« und nicht »Soccer« sagen sollte, was ja auch die sinnvollere Bezeichnung ist, wenn ich so darüber nachdenke. Und es scheint ihr nichts auszumachen, dass ich sie mit Fragen löchere oder ihre Sachen betatsche.

Ihr Zimmer ist wirklich der Hammer. Außer dem Krimskrams, der an den Wänden hängt, hat Meredith noch ein Dutzend Teetassen aus Porzellan, in denen sie glitzernde Plastikringe, Silberringe mit Bernstein und Glasringe mit gepressten Blumen aufbewahrt. Es sieht so aus, als lebte sie schon seit Jahren hier.

Ich probiere einen Ring mit einem Gummidinosaurier an. Als ich den Dino drücke, leuchtet er rot, gelb und blau auf. »Ich wünschte, ich könnte so ein Zimmer haben.« Ich finde es hinreißend, aber ich selbst bin viel zu ordnungsfanatisch, als dass ich so etwas Ähnliches aus meinem Zimmer machen würde. Ich brauche saubere Wände und einen aufgeräumten Schreibtisch und alles muss jederzeit an seinem richtigen Platz sein.

Meredith scheint sich über das Kompliment zu freuen.

»Sind das deine Freunde?« Ich lege den Dinosaurier in seine Teetasse zurück und zeige auf ein Bild, das in ihrem Spiegel steckt. Es ist grau und voller Schatten und auf dickes Hochglanzpapier gedruckt. Offensichtlich stammt es aus einem Fotokurs in der Schule. Vier Personen stehen vor einem riesigen hohlen Würfel, und aus der Fülle stylisher schwarzer Kleidung und den absichtlich zerzausten Haaren lässt sich schließen, dass Meredith zur hiesigen Kunstclique gehört. Aus irgendeinem Grund bin ich überrascht. Okay, ihr Zimmer ist gewollt künstlerisch und sie trägt all diese Ringe an den Fingern und in der Nase, aber der Rest ist eher normal – lila Pullover, gebügelte Jeans, sanfte Stimme. Und dann ist da noch diese Soccer-Sache, aber jungenhaft ist sie auch nicht.

Sie lächelt breit und ihr Nasenring blitzt auf. »Ja. Ellie hat das in La Défense geschossen. Das sind Josh und St. Clair und ich und Rashmi. Du wirst sie morgen beim Frühstück kennenlernen. Das heißt, alle außer Ellie. Sie hat letztes Jahr ihren Abschluss gemacht.«

Mein Magen entkrampft sich ein wenig. War das eine Einladung, mich zu ihr zu setzen?

»Aber sie wird dir sicher trotzdem bald über den Weg laufen. Sie ist nämlich mit St. Clair zusammen. Sie studiert jetzt Fotografie an der Parsons Paris.«

Ich habe noch nie davon gehört, nicke aber, als hätte ich bereits in Erwägung gezogen, selbst mal dort hinzugehen.

»Sie hat wirklich Talent.« Ihr scharfer Unterton deutet eher auf das Gegenteil, aber ich gehe lieber nicht darauf ein. »Josh und Rashmi sind auch zusammen«, fügt sie hinzu.

Aha. Dann muss Meredith solo sein.

Bedauerlicherweise kann ich es ihr nachfühlen. Zu Hause war ich fünf Monate mit Matt zusammen. Er war halbwegs groß, halbwegs witzig und hatte halbwegs passables Haar. Es war eine dieser typischen Situationen nach dem Motto: »Da ich gerade niemand Besseren habe, hast du Lust rumzumachen?« Mehr als Küssen lief allerdings nicht zwischen uns und selbst das war nicht besonders toll. Zu viel Spucke. Ich musste mir danach immer das Kinn abwischen.

Wir trennten uns, als ich von Frankreich erfuhr, aber es war keine große Sache. Weder heulte ich noch schickte ich ihm sentimentale E-Mails oder zerkratzte den Kombi seiner Mutter mit einem Schlüssel. Jetzt geht er mit Cherrie Milliken, die im Chor singt und glänzendes Haar wie aus einer Shampoowerbung...