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Tausendschön - Thriller

Kristina Ohlsson

 

Verlag Limes, 2012

ISBN 9783641080402 , 480 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

Stockholm

Nicht ahnend, dass er bald sterben würde, hielt er mit großem Engagement den Vortrag, der sein letzter werden sollte. Der Freitag war lang gewesen, und doch waren die Stunden schnell verflogen. Die Zuhörer waren aufmerksam, und es wurde Jakob Ahlbin warm ums Herz, wenn sich so viele andere für das Thema interessierten.

Ein paar Tage später, als er sich eingestehen musste, dass alles vergebens war, dachte er noch darüber nach, ob ausgerechnet dieser letzte Vortrag vielleicht ein Fehler gewesen war. War er während der Fragestunde vielleicht zu offen gewesen, hatte er zu erkennen gegeben, dass er geheimes Wissen besaß? Doch eigentlich glaubte er das nicht. Noch im Moment seines Todes war er überzeugt davon, dass die Katastrophe unmöglich hatte verhindert werden können. Als er den Lauf der Jagdpistole an seiner Schläfe spürte, war ohnehin alles zu spät. Und doch empfand er eine große Trauer darüber, dass sein Leben auf diese Weise endete. Wo er doch immer noch so unendlich viel zu geben gehabt hätte.

Jakob Ahlbin hatte im Laufe der Jahre mehr Vorträge gehalten, als er zählen konnte, und er wusste, dass er die Gabe, ein guter Redner zu sein, exzellent genutzt hatte. Der Aufbau seiner Vorträge war oft der gleiche gewesen und die Fragen, die folgten, ebenso; nur das Publikum hatte sich geändert. Manchmal waren die Leute hinbeordert worden, manchmal suchten sie ihn spontan auf. Jakob schätzte beides, er fühlte sich in jedem Fall hinter dem Rednerpult wohl.

Meist begann er damit, dass er Bilder von den Booten zeigte. Zugegeben, ein simpler Trick, dessen man sich jedoch, wie er wohl wusste, nur schwer erwehren konnte. Ein Dutzend Menschen in einem viel zu kleinen Boot, das Tag um Tag, Woche um Woche auf dem Meer dahintreibt, während die Passagiere immer erschöpfter und verzweifelter werden. Und am Horizont die Fata Morgana Europas, wie ein Traum oder eine Fantasie, die für diese Leute doch niemals Wirklichkeit werden sollte.

»Wir glauben, dieses Phänomen wäre neu«, pflegte er einleitend zu sagen. »Wir glauben, es gehörte zu einem anderen Teil der Welt, während uns so etwas nie passiert ist und nie passieren wird.«

Dann wechselte diskret das Bild hinter ihm, und eine Europakarte erschien.

»Aber da greift unser Gedächtnis zu kurz«, seufzte er. »Wir erinnern uns lieber nicht daran, dass es nur ein paar wenige Jahrzehnte her ist, dass Europa in Flammen stand und die Menschen in Panik von einem Land ins nächste flüchteten. Und ebenso vergessen wir, dass vor einem knappen Jahrhundert mehr als eine Million Schweden sich entschieden, ihr Land zu verlassen, um in Amerika neu anzufangen.«

Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar, hielt einen Moment inne und kontrollierte, ob er die volle Aufmerksamkeit des Publikums besaß. Das Bild hinter ihm wechselte erneut, und nun waren da Max von Sydow und Liv Ullmann aus der Verfilmung von Vilhelm Mobergs Auswanderersaga zu sehen.

»Eine Million Menschen«, wiederholte er mit lauter Stimme. »Glauben Sie ja nicht, dass Karl Oskar und Kristina hier die Reise nach Amerika auch nur einen Augenblick lang als etwas anderes betrachteten als eine Strafe. Glauben Sie ja nicht, dass sie nicht in Schweden geblieben wären, wenn sie nur gekonnt hätten. Überlegen Sie, was es mit sich bringen würde, wenn Sie selbst aufbrechen und Ihr altes Leben hinter sich lassen müssten, um ein neues auf einem anderen Kontinent zu beginnen – ohne einen Cent in der Tasche und nur mit den Habseligkeiten versehen, die in eine erbärmliche, verdammte Reisetasche passen.«

Der Fluch war bewusst eingesetzt. Ein fluchender Pfarrer hatte immer etwas Unerhörtes.

Er wusste nur zu gut, wo er mit Widerstand rechnen konnte: manchmal schon in dem Moment, da er das Bild von Karl Oskar und Kristina, den Auswanderern, zeigte; manchmal erst später. An diesem Nachmittag geschah es, nachdem er zum ersten Mal geflucht hatte. Ein junger Kerl aus einer der vorderen Reihen fühlte sich offensichtlich provoziert, und seine Hand schoss hoch, als Jakob eben weiterreden wollte. »Entschuldigen Sie, wenn ich unterbreche«, gellte der junge Mann, »aber dieser Vergleich hinkt doch, zum Teufel!«

Jakob wusste, was jetzt kommen würde, doch um der Wirkung willen runzelte er die Stirn.

»Karl Oskar und Kristina und all die anderen Schweden, die nach Amerika gegangen sind, haben dort schließlich geschuftet wie die Tiere. Sie haben dieses verdammte Land überhaupt erst aufgebaut. Sie haben die Sprache gelernt und sich der Kultur angepasst. Sie haben sich Arbeit gesucht und sich selbst versorgt. Die Menschen, die heutzutage nach Schweden kommen, machen nichts in der Art! Sie wohnen in ihren Ghettos und scheißen darauf, Schwedisch zu lernen, leben von der Sozialhilfe und denken nicht daran zu arbeiten.«

Im Saal wurde es still. Wie ein unguter Geist schwebte Sorge über den Zuschauern: die Sorge, dass es zu einem Eklat kommen könnte, aber auch die Sorge, selbst als jemand entlarvt zu werden, der die Ansichten des jungen Mannes teilte. Gedämpftes Murmeln breitete sich aus, und Jakob wartete ab. Er hatte lange versucht, den Politikern, so sie ihm überhaupt noch zuhören wollten, zu erklären, dass man diese Art von Denken und die Frustration, der der Junge soeben Luft gemacht hatte, nicht totschweigen dürfe.

Der Mann verschränkte die Arme vor der Brust. Er schob das Kinn vor und wartete auf die Antwort des Pfarrers. Und Jakob ließ ihn warten. Er nahm einen Gesichtsausdruck an, der vermuten ließ, dass das, was da gerade gesagt worden war, ihm völlig neu wäre. Er sah zu dem Bild hinter sich und wandte sich dann wieder den Zuschauern zu.

»Glauben Sie wirklich, dass diese Menschen sich das so vorgestellt haben, als sie hierherkamen? Zum Beispiel diejenigen, die bis zu fünfzehntausend Dollar gezahlt haben, um aus einem in Flammen stehenden Irak nach Schweden zu kommen? Haben die von einem Leben in verkommenen, alten Städtebauprojekten aus den Sechziger- und Siebzigerjahren in isolierten Vororten geträumt? Wo sie zusammen mit zehn anderen Erwachsenen tagaus, tagein in einer Dreizimmerwohnung hocken würden, ohne Beschäftigung und ohne ihre Familien? Allein? Fünfzehntausend Dollar kostet es nämlich für eine Person hierherzukommen.« Er hielt einen langen, geraden Finger in die Luft. »Glauben Sie wirklich, dass diese Menschen sich auch nur in ihren kühnsten Träumen vorgestellt haben, dass sie von uns zu solchen Außenseitern gemacht würden? Dass jemand, der ausgebildeter Arzt ist, im besten Fall noch einen Job als Taxifahrer angeboten bekommt und jemand, der einen niedrigeren Ausbildungsgrad hat, noch nicht einmal das?«

Ohne vorwurfsvoll auszusehen, konzentrierte Jakob seinen Blick auf den jungen Mann.

»Ich glaube, dass die Menschen genauso denken wie Karl Oskar und Kristina. Ich glaube, sie erwarten, dass es so sein wird, wie vor hundert Jahren nach Amerika zu kommen: dass die Möglichkeiten für diejenigen, die bereit sind, sich abzurackern, unendlich sind und dass harte Arbeit sich bezahlt macht.«

Eine junge Frau fing Jakobs Blick auf. Ihre Augen glänzten, und in der Hand hielt sie ein Papiertaschentuch umklammert.

»Ich weiß«, fuhr er langsam fort, »dass es nur sehr wenige Menschen gibt, die sich bewusst dafür entscheiden, in einer Wohnung in einem Vorort zu sitzen und vor sich hinzustarren, solange sie das Gefühl haben, dass es noch Alternativen gibt. Zumindest habe ich das im Rahmen meiner Arbeit festgestellt«, fügte er hinzu.

Und genau an dieser Stelle ging die Veränderung vonstatten. So wie immer. Das Publikum saß schweigend da und hörte mit wachsendem Interesse zu. Die Bilder wechselten, während sein Bericht von den Einwanderern, die in den letzten Jahrzehnten nach Schweden gekommen waren, Gestalt annahm. Schmerzlich scharfe Fotografien zeigten Männer und Frauen, die in einen Lastwagen gepfercht waren, der durch die Türkei und dann weiter nach Europa fuhr.

»Für fünfzehntausend Dollar erhält ein Iraker heute Pass, Reise und Geschichte. Die Netzwerke der Schlepper erstrecken sich über ganz Europa, und sie haben Verzweigungen in sämtliche Konfliktherde, wo Menschen gezwungen sind, sich auf die Flucht zu begeben.«

»Was soll das heißen, Geschichte?«, fragte eine der Frauen aus dem Publikum.

»Eine Asylgeschichte«, erklärte Jakob. »Die Schlepper erklären dem Flüchtling, was er oder sie sagen muss, um in Schweden eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen.«

»Aber fünfzehntausend Dollar«, fragte ein Mann zögernd, »das ist so unglaublich viel Geld – ist das denn wirklich so teuer?«

»Natürlich nicht«, antwortete Jakob geduldig. »Die Leute, die hinter diesen Netzwerken stehen, verdienen unglaubliche Summen. Es ist ein hart umkämpfter Markt und entsetzlich ungerecht. Gleichzeitig ist trotz der Brutalität verständlich, dass es diesen Markt gibt. Europa ist für Menschen in Not verschlossen. Der einzige Weg hinein führt durch die Illegalität, und er ist von Kriminellen kontrolliert.«

Mehrere Hände winkten, und Jakob beantwortete eine Frage nach der anderen. Am Ende war nur noch die Hand einer jungen Frau erhoben. Das Mädchen mit dem Papiertaschentuch. Ein viel zu langer roter Pony hing ihm wie eine Gardine über die Augen und ließ es fast anonym wirken. Eine Person, die man im Nachhinein nicht...