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Wächter - Roman

Stephen Baxter, Arthur C. Clarke

 

Verlag Heyne, 2009

ISBN 9783641032616 , 464 Seiten

Format ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR


 

{4}
WENN DER SCHLÄFER ERWACHT
Februar – März 2069
 
Bisesa war froh, als sie die Tiefschlafeinrichtung endlich verließ. Es stank nach faulen Eiern; das lag am Wasserstoffsulfid, mit dem die Sauerstoffaufnahme der Organe unterbunden wurde.
Im Krankenhaus dauerte es drei Tage, bis die Ärzte ihr wieder Blut in die Adern gefüllt hatten, die Organe zur Sauerstoffaufnahme überredet und sie einer Basis-Physiotherapie unterzogen hatten, sodass sie mit einer Gehhilfe zu gehen vermochte. Sie fühlte sich uralt, älter als ihre biologischen neunundvierzig Jahre, und sie war obendrein ausgezehrt – ein Opfer der Hungersnot. Und die Augen machten ihr ganz besonders zu schaffen. Sie litt anfangs an Sehstörungen, sogar an leichten Halluzinationen. Und sie hatte das unangenehme Gefühl, dass sie nach ihrem eigenen Urin roch.
Nun ja – seit neunzehn Jahren hatte sie keinen Puls und kein Blut mehr gehabt, die elektrischen Aktivitäten im Gehirn waren ausgesetzt, das Körpergewebe hatte keinen Sauerstoff verbraucht und sie hatte so lang in einer Tiefkühltruhe gelegen, dass beinahe ihre Zellen geplatzt wären. Da war es ganz normal, dass man leicht lädiert war.
Hibernaculum 768 hatte sich verändert, während sie im Tank gelegen hatte. Es sah inzwischen aus wie ein Hotel der gehobenen Kategorie, mit gläsernen Wänden, weißen Fußböden, Kunstledersofas und lauter alten Leuten – zumindest sahen sie alt aus – in Morgenmänteln, die umhertappten.
Und die gravierendste Veränderung war, dass man das Hibernaculum verlegt hatte. Sie ging zu einem Fenster und erblickte eine klaffende Wunde in der Erdkruste – eine Schlucht mit Schichten in den staubigen Wänden, die wie die Seiten eines gigantischen Folianten aussahen. Man sagte ihr, das sei der Grand Canyon. Es war ein wirklich spektakulärer Anblick, für die Schläfer im Hibernaculum freilich eine ziemlich überflüssige Darbietung.
Sie fand es im Nachhinein beunruhigend, dass die komplizierte Tiefkühltruhe, in der sie ihren traumlosen Schlaf geschlafen hatte, von der Stromversorgung getrennt, gleichsam entwurzelt und über den ganzen Kontinent transportiert worden war.
Während der Rekonvaleszenz setzte sie sich immer wieder an ein Aussichtsfenster und ließ das statische geologische Drama des Canyons auf sich wirken. Sie hatte bisher nur einmal einen Ausflug zum Canyon unternommen. Dem Lauf der Sonne am Frühlingshimmel nach zu urteilen musste sie sich am Südrand befinden, vielleicht irgendwo in der Nähe von Grand Canyon Village. Die lokale Flora und Fauna schien sich von der globalen Verwüstung durch den Sonnensturm wieder erholt zu haben; das Land war mit Kakteen, Yucca-Pflanzen und Blackbush übersät. Bei ihrer geduldigen Beobachtung machte sie eine kleine Herde von Dickhornschafen aus, erhaschte einen Blick auf einen Cojoten, und einmal glaubte sie sogar eine Klapperschlange zu sehen.
Auch wenn der Canyon sich wieder erholt haben mochte, schien sich doch sehr viel geändert zu haben. Am östlichen Horizont erkannte sie eine Art Struktur, ein flaches metallisches Gebilde auf Beinen wie das Gerüst einer im Bau befindlichen Einkaufspassage. Manchmal sah sie auch Fahrzeuge um und unter diesem Gerüst umherfahren. Sie hatte aber keine Ahnung, was das darstellen sollte.
Und manchmal sah sie Lichter am Himmel. Da war ein heller sich bewegender Funke, der in vierzig Minuten oder so den südlichen Abendhimmel bestrich: Da musste etwas Großes im Orbit sein. Aber es standen noch seltsamere Zeichen am Himmel, und viel größere: fahle Flecken im blauen Tageslicht, und verschwommenes Sternenlicht des Nachts. Ein fremdartiger Himmel in dieser neuen Zeit. Sie sagte sich, dass sie nicht allzu neugierig und schon gar nicht ängstlich sein sollte, und anfangs war sie das auch nicht.
Doch das änderte sich schlagartig, als sie das Brüllen hörte. Es war ein tiefes Grollen, bei dem die Erde zu beben schien – eher ein geologisches als ein animalisches Geräusch.
»Was war das
»Bisesa? Sie haben eine Frage?«
 
Die Stimme war männlich und sonor, klang leicht künstlich und ertönte in der Luft.
»Aristoteles?« Aber sie wusste schon, dass das nicht möglich war, noch bevor er geantwortet hatte.
Die Antwort erfolgte mit einer eigenartigen Verzögerung. »Leider nicht. Ich bin Thales.«
»Thales, natürlich.«
Vor dem Sonnensturm hatte es drei große künstliche Intelligenzen auf den von Menschen bewohnten Welten gegeben, entfernte Nachkommen der Suchmaschinen und anderer intelligenter Software-Agenten früherer technischer Generationen, und alle waren sie Freunde der Menschheit gewesen. Gerüchten zufolge waren »Sicherungskopien« von ihnen angelegt worden, die man dann als Bit-Ströme in den interstellaren Raum abgestrahlt hatte. Im Übrigen hatte nur Thales den Sonnensturm überlebt, weil er in den einfacheren Netzwerken des robusten Bodens gespeichert war.
»Ich freue mich, wieder deine Stimme zu hören.«
Pause. »Und ich freue mich, Ihre zu hören, Bisesa.«
»Thales – wieso diese Reaktionsverzögerungen? Ach so. Du bist noch immer auf dem Mond stationiert?«
»Ja, Bisesa. Und ich bin durch die LichtgeschwindigkeitsVerzögerung gehandikapt. Wie Neil Armstrong.«
»Wieso bringt man dich nicht einfach auf die Erde runter? Das wäre doch viel bequemer.«
»Es geht auch so. Lokale Assistenten unterstützen mich, wenn die Zeitverzögerung zum Problem wird – zum Beispiel bei medizinischen Eingriffen. Doch sonst wird die Situation als zufriedenstellend beurteilt.«
Diese Antworten kamen Bisesa wie einstudiert vor. Fast wie einprogrammiert. Es musste noch andere Gründe für Thales’ Stationierung auf dem Mond geben, die er ihr verschwieg. Aber sie wollte auch nicht weiter in ihn dringen.
»Sie wollten wissen, was es mit dem Gebrüll auf sich hat«, sagte Thales.
»Ja. Das hat sich wie ein Löwe angehört. Wie ein afrikanischer Löwe.«
»Es war auch einer.«
»Und was macht ein afrikanischer Löwe hier, im Herzen Nordamerikas?«
»Der Grand Canyon National Park ist nun ein Jefferson, Bisesa.«
»Ein was?«
»Ein Jefferson-Park. Er ist Teil der Renaturierung. Wenn Sie einmal nach rechts schauen …«
Am Horizont, jenseits des Nordrands vom Canyon, sah sie kompakte graue Gebilde, wie Felsbrocken auf Wanderschaft. Thales veranlasste das Fenster, die Darstellung zu vergrößern. Sie erkannte Elefanten, eine ganze Herde mit Jungen – ein unverwechselbares Profil.
»Ich verfüge über ausführliche Informationen über den Park.«
»Da bin ich mir sicher, Thales. Und noch etwas. Was ist das dort drüben für eine Struktur? Sie sieht aus wie ein Gerüst.«
Die Anlage erwies sich als eine sogenannte Energie-Matte, die Bodenstation eines Orbitalkraftwerks. Sie war ein Kollektor für Mikrowellen, die aus dem Orbit heruntergestrahlt wurden.
»Die ganze Anlage ist ziemlich groß – zehn Quadratkilometer.«
»Ist sie auch sicher? Ich habe nämlich Fahrzeuge darunter hindurch fahren sehen.«
»Ja, für Menschen ist sie sicher. Für Tiere auch. Aber es gibt eine Sperrzone.«
»Und, Thales, diese Lichter am Himmel – das Schimmern …«
»Spiegel und Sonnensegel. Es gibt nun eine ganze orbitale Architektur, Bisesa. Das alles ist ziemlich spektakulär.«
»Dann wird der Traum also verwirklicht. Bud Tooke würde sich freuen.«
»Oberst Tooke ist leider tot …«
»Ich weiß.«
»Bisesa, es gibt menschliche Berater, mit denen Sie sprechen können. Über alles, was Sie auf dem Herzen haben. Zum Beispiel über die Einzelheiten des Tiefschlafs.«
»Das wurde mir schon erklärt, bevor ich mich in die Tiefkühltruhe legte …«
Die Hibernacula waren ein Produkt des Sonnensturms. Das erste war noch vor dem Ereignis in Amerika eingerichtet worden, weil die Reichen so die schweren Jahre bis zur Zeit des Wiederaufbaus überbrücken wollten. Bisesa selbst hatte den Tiefschlaf erst 2050 angetreten, also acht Jahre nach dem Sturm.
»Ich kann Ihnen auch den medizinischen Fortschritt seit dem Einfrieren erläutern«, sagte Thales. »Zum Beispiel hat es nun den Anschein, dass die Affinität Ihrer Körperzellen zu Wasserstoffsulfid ein Relikt eines sehr frühen Stadiums der Evolution des Lebens auf der Erde ist, als aerobe Zellen sich noch die Welt mit Methanbildnern teilten.«
»Das klingt geradezu poetisch.«
»Und dann wäre da noch der motivationale Aspekt«,...