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Alien Earth - Phase 3 - Roman

Frank Borsch

 

Verlag Heyne, 2009

ISBN 9783641030452 , 560 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

KAPITEL 2
»Das da vorne links. Über Australien!«
Rodrigo dirigierte Wilbur mit derselben Bestimmtheit zu dem Patronenschiff, die ihm in allen Dingen anhaftete, seit sie sich mit ihrem U-Boot, das keines war, in die elektromagnetische Riesenkanone der Seelenspringer eingeschleust und sich in den Orbit über die Erde hatten schießen lassen.
»Ja!«, rief Rodrigo. »Genau den meine ich. Sachte jetzt!«
Wilbur gab in Gedanken Gegenschub, und die Superhero reagierte augenblicklich, als handle es sich bei ihr um eine nahtlose Fortsetzung seines Körpers. Er warf einen Blick zu Rodrigo. Der ehemalige Lauscher der Strawberry Bitch saß kerzengerade im Copilotensitz, den Blick starr auf den dunklen, an eine auf dreißig Meter Länge aufgeblasene Patrone erinnernden Umriss gerichtet, der sich vor ihnen aus der Schwärze des Alls schälte. Rodrigo sah gut aus, besser denn je sogar. Die Sorgenfältchen um seine Augen, die sich in den Jahren in seine Haut gegraben hatten, als sie erfolglos in der klapprigen Strawberry Bitch über dem Pazifik Alien-Artefakten nachgejagt waren, existierten nicht mehr. Sein Bauchansatz war verschwunden. Seine Bewegungen waren trotz der Schwerelosigkeit, die jeder Tätigkeit einen Dämpfer aufsetzte, kraftvoll und präzise. Rodrigo schien zehn, vielleicht zwanzig Jahre jünger. Es war ein Schein, der trog: Stimmte nur die Hälfte dessen, was Wilbur sich über Rodrigo aus seinen Beobachtungen zusammenreimte, war sein Kamerad alterslos geworden, vielleicht sogar unsterblich.
Rodrigo hatte seinen Körper hinter sich gelassen. Er – seine Essenz, das, was ihn ausmachte – lebte im Bordrechner der Superhero. Der jugendlich frische Rodrigo, der neben Wilbur saß, war lediglich eine Projektion, nicht gebunden an die Gesetze der stofflichen Welt.
Allerdings hinderte dies Rodrigo nicht daran zu bestimmen, was in der stofflichen Welt geschah.
»Langsam, langsam!«, wies er Wilbur an.
»Wer steuert hier: ich oder du?«, entgegnete der ehemalige Bordingenieur der Bitch. Er konzentrierte sich, glich mit einem letzten Schubstoß Geschwindigkeit und Kurs der Superhero dem Patronenschiff an. Gleich darauf ging ein Schlag durch das Schiff, als wäre jemandem ein Werkzeug in der Schwerelosigkeit entglitten und gegen die Bordwand geprallt. Wilbur zuckte zusammen; es war widersinnig, aber er konnte sich nicht helfen: Während der Monate, die er unter den Seelenspringern verbracht hatte, war er frei von Furcht gewesen, selbst dann, wenn ihn nur ein strahlender Kokon aus Energie, die weder er noch irgendein anderer Mensch verstand, vor dem Druck in zehn Kilometern Meerestiefe geschützt hatte. Aber hier im Vakuum, das einen Bruchteil der Belastung für den Rumpf der Superhero darstellte, ging ihm jedes Geräusch direkt ins Mark.
»Hero, bist du so weit?«, fragte Rodrigo.
»Schon längst!«
Auf einer Hälfte der Cockpitscheibe, die gleichzeitig als Display diente, erschien ein neues Bild: der Japaner in der geöffneten Schleusenkammer der Superhero. Hinter ihm der Rumpf des Patronenschiffs und dahinter wiederum, in dem schmalen Ausschnitt, der blieb, die Erde, die sich unter ihnen drehte. Es war Tag geworden über Australien. Mehrere tausend der über 60 000 Patronenschiffe, die in einer Vielzahl verschiedener Orbits die Erde umkreisten, glänzten im Licht der Morgensonne.
»Dann los!«, rief Rodrigo.
»Okay!« Hero stieß sich aus der Schleusenkammer ab. Er trug einen der Raumanzüge, die er mithilfe der Seelenspringer konstruiert hatte. Einen Anzug – ging es Wilbur in diesem Moment auf -, wie er ihn Diane gegeben hatte, als sie ihre Kameradin allein in der Schleusenhalle der Seelenspringer unter dem Marianengraben zurückgelassen hatten. Ob sie noch lebte? Wilburs Verstand hatte eine klare Antwort darauf: natürlich nicht. Dank Diane schwebten sie hier oben und spuckten den Aliens in die Suppe. Die Seelenspringer würden ihr kein Pardon gegeben haben. Zumindest hätte er, Wilbur, es an ihrer Stelle nicht getan. Aber da war noch das Gefühl, das Wilbur nicht abzuschütteln vermochte. Er kannte Diane. Sie war nicht totzukriegen. Und er hatte die Seelenspringer kennengelernt. Pasong war ihm fremd geblieben, ein Rätsel. Kannten er und seine Gefährten das menschliche Konzept »Rache«?
Diane lebte. Wilbur spürte es.
»Die Schleuse muss am Bug liegen«, dirigierte Rodrigo.
Hero gab mit einem Handzeichen zu verstehen, dass er verstanden hatte, und schwebte in die angegebene Richtung. Der Japaner hatte darauf verzichtet, sich mit einer Leine zu sichern. »Unnötig«, hatte er Wilbur gegenüber beteuert. Jetzt verstand Wilbur, wieso. Heros Rücken glühte auf, als er den Antrieb des Anzugs zuschaltete. Er erinnerte Wilbur an ein Glühwürmchen in der Nacht. Wieder musste er an Diane denken. Sie trug einen Anzug desselben Typs wie Hero. Wilbur stellte sich vor, wie sie in ihrem Anzug durch die Schwärze der Tiefsee glitt, während ihr Magenkrebs sie auffraß. Sie war ganz allein. Die Vorstellung bedrückte Wilbur. Sie schien ihm schlimmer als alles, was die Seelenspringer Diane antun könnten.
»Gefunden!«, rief Hero.
Er schwebte über dem Bug des Patronenschiffs und zeigte auf den Rumpf. Rodrigo schaltete mit einem Gedanken das Display auf Heros Helmkamera. Eine Fuge zeichnete sich im Rumpf ab, glatt, wie mit einem Messer geschnitten.
»Machst du auf, Rodrigo?«
»Einen Augenblick.«
Rodrigo, die Projektion, sank mit geschlossenen Augen zurück. Von hinten kam unregelmäßiges Klopfen. Wilbur drehte sich um. Rodrigo, der Körper, schlug mit allen vieren aus. Er hing fest; die Platte, welche die Seelenspringer auf seinen Wunsch im Rücken eingelassen hatten, war in der Bordwand der Superhero eingerastet. Harmloses Gekasper, hatte Rodrigo ihm einmal versichert, als er ihn verstört angeschrien hatte. Eine Reaktion seines Körpers auf die Intensität der Konzentration, wenn sein Geist sich anschickte, in das Niemandsland des Seelenspringer-Netzwerks einzudringen. Jeder Vorstoß beschwor einen Gegenstoß der Seelenspringer herauf, und sein Körper reagierte wiederum auf diesen. Aber was bedeutete das schon? Außerdem, so Rodrigo, handelte es sich nur um eine Phase, einen Übergang. Eines Tages würde er sich seines Körpers ganz entledigen.
Harmlos … unnötig … Wilbur hörte solche Versicherungen in letzter Zeit oft von seinen Kameraden. Zu oft. Rodrigo und Hero hatten sich in den Monaten, die sie bei den Seelenspringern verbracht hatten, ganz auf die Aliens eingelassen. Die Seelenspringer hatten ihnen jeden Wunsch erfüllt. Wilburs Kameraden hatten sich förmlich auf das Angebot gestürzt. Rodrigo hatte sich in ein Geistwesen verwandelt, das in Datennetzen lebte, und Hero hatte sich ein Fahrzeug bauen lassen, dessen Vielseitigkeit keine Grenzen zu haben schien: die Superhero. Diese gemeinsame Erfahrung schien die beiden Männer auf eine Art und Weise zusammenzuschweißen, die ihn, Wilbur, außen vorließ. Und während sie ihre hochfliegenden Pläne schmiedeten, gaben sie ihm Pseudoaufgaben wie die, die Superhero zu steuern, um ihn beschäftigt zu halten.
Das Schlagen von Rodrigos Gliedern verlangsamte sich, hörte auf. Rodrigo, die Projektion, richtete sich wieder auf. »Und?«, fragte er, an Hero gerichtet.
»Schleuse öffnet sich«, antwortete der Japaner.
Über Heros Helmkamera verfolgte Wilbur, wie die Schleuse langsam, dann mit einem abrupten Schwung aufging.
»Ich gehe rein.« Hero atmete schwer. »Drückt mir die Daumen!«
»Tun wir!«, versicherte Rodrigo – und hielt sein Wort: Die Projektion drückte beide Daumen so fest, dass die Finger sich weiß verfärbten. Es war der absurdeste Anblick, den Wilbur seit Langem gesehen hatte. Und, wenn er es sich recht überlegte, hatte er in letzter Zeit wenig gesehen, das nicht absurd gewesen wäre.
Hero glitt in die offene Schleuse des Patronenschiffs.
»Wilbur, pass auf, dass wir nicht abdriften!«, wandte sich Rodrigo an ihn.
»Klar«, brachte Wilbur hervor und schluckte den Rest, der ihm auf der Zunge lag, herunter. Was bildete sich Rodrigo ein? Sie waren im Vakuum, nicht auf See. Waren Vektor und Geschwindigkeit von zwei Objekten erst einmal angeglichen, gab es fürs Erste nichts mehr zu tun. Und fürs Erste hieß in diesem Zusammenhang für die nächsten Millionen Jahre. Rodrigo musste nervös sein. Das war die Erklärung. Wilbur schielte zu dem ehemaligen Lauscher herüber. Er drückte jetzt nicht mehr die Daumen, sondern rieb sich die Hände, als könne er es kaum ertragen, untätig dazusitzen.
Hero kam nicht weit. Kaum war er in das Patronenschiff eingedrungen, versperrte ihm eine Wand den Weg. »Rodrigo, Wilbur – es ist eine Schleuse!«, rief Hero. Seine Stimme war hoch und aufgeregt. Seit sie die Erde hinter sich gelassen hatten, wirkte der Japaner wie ausgewechselt. Von der alten Zurückhaltung war wenig geblieben. Rodrigo dagegen schien den umgekehrten Weg zu gehen: Der ehemals ausgelassene Brasilianer wurde mit jedem Tag schweigsamer und zog sich in sich selbst zurück – oder in das Netz der Seelenspringer? Und wenn es so war, machte es einen Unterschied?
»Gut«, antwortete Rodrigo. »Das stimmt mit dem überein, was ich aus dem Alien-Netz herausquetschen konnte. Ich schließe jetzt das äußere Schleusentor.«
»In Ordnung!«
Das Tor der Schleuse schwang zu, schloss Hero ein. Sie hörten ein Zischen. »Luft!«, rief Hero. »Die Schleuse wird geflutet!«
»Ich öffne jetzt das innere Tor«, kündigte Rodrigo an, als das Zischen aufgehört...