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Herzgesteuert - Roman

Hera Lind

 

Verlag Diana Verlag, 2009

ISBN 9783641031510 , 416 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

2
Nachdem heute wirklich wunderschönes Frühlingswetter ist, schlage ich Fanny mit ihren eigenen Waffen. Mir fällt absolut nicht mehr ein, wie man so eine Autotür öffnet! Wie ging das noch mal?! Muss man da auf der Fernbedienung irgendwas drücken? Oder einen Schlüssel rumdrehen? Aber in welche Richtung?
Da sowieso schon ein hellblauer Zettel an der Windschutzscheibe steckt, wäre ich blöd, den Wagen wegzufahren und dann wieder keinen Parkplatz zu finden.
Der große knallrote Mercedes-Bus mit der auffälligen Aufschrift »Immobilien Glücksgriff – Leben im Paradies« ist ziemlich ungeeignet für die Innenstadt, aber ich brauche ihn, weil ich öfter antike Möbelstücke oder kostbare Teppiche darin transportiere.
Meine zauberhafte Fanny hat das hübscheste Strahlelächeln der Welt. Sie steht da auf der Schultreppe und harrt ihrer Chauffeurin. Als ihr klar wird, dass ich sie zu Fuß von der Schule abhole, knipst sie das bezaubernde Lächeln sofort wieder aus. Ihre Laune sinkt innerhalb von drei Sekunden auf den Nullpunkt. Zufußgehen ist für sie die größte Zumutung der Welt. Das langweiligste und überflüssigste Unterfangen, das ich jemals vorgeschlagen habe.
»Dann fahre ich eben mit dem Bus!«
Wütend will sie sich losreißen und hinter ihren Schulfreundinnen herlaufen, die alle zur Bushaltestelle rennen, aber ich halte sie an der viel zu schweren Schultasche fest. Setz dich durch, Juliane. Setz dich durch.
»O nein, mein Herzenskind. Wir gehen jetzt zusammen nach Hause! Die Sonne scheint!«
»Lass mich LOS!«
Ja, ich weiß, dass ich eine Rabenmutter bin.
Entweder ich vernachlässige das Kind, indem ich berufstätig bin, oder ich will zu Fuß gehen und mich mit meinem Kind unterhalten, damit ich einmal etwas eher weiß als meine altkluge Halbschwester Christiane.
Meine mich leider nervende, vollschlanke Halbschwester Christiane ist fünfzehn Jahre älter als ich und wohnt in dem Reihenhaus schräg gegenüber. Das ist ja auch irgendwie ganz praktisch. Nachdem sie Witwe ist und ich geschieden, hängen wir umständehalber ziemlich eng zusammen. Sie hütet mir hingebungsvoll die Fanny, was ich ja auch sehr zu schätzen weiß, aber alles hat eben eine Kehrseite: Ständig gackert und flattert sie mit den Flügeln wie eine Legehenne, ohne je ein Ei zu legen. Ehrlich gesagt, geht mir Christiane mehr und mehr auf den Geist. Aber wie heißt es im Zauberlehrling, den ich gerade mit Fanny auswendig lernen musste: »Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los! In die Ecke, Besen! Besen! Seids gewesen!« Ach, Goethe! Du kanntest Christiane nicht! Jedenfalls nicht diese! Was hättest du sie bedichtet!
Doch leider: Meine altkluge Halbschwester Christiane löst sich nicht in Luft auf, im Gegenteil: Ständig sondert sie ihren verbalen Unsinn ab:
Fanny kriegt schon einen Busen. Fanny ist mit ihren zwölf Jahren schon in der Pubertät, ganz anders als wir früher, wir wussten ja mit sechzehn noch nicht, was das überhaupt ist. Deshalb braucht Fanny eine starke Hand und konsequente Führung. Außerdem hat Fanny Bindungsängste, weil du dich hast scheiden lassen. Fanny muss erst wieder Vertrauen zu den Menschen fassen, und Fanny hat deshalb keine beste Freundin, weil sie Angst vor Trennungen hat. Fanny träumt davon, Balletttänzerin zu werden, leidet aber unter Lampenfieber und meidet die Öffentlichkeit, weil sie mit Misserfolgen nicht umgehen kann. Fanny hasst ihren Mathelehrer, was sicher daran liegt, dass er ein Mann ist, was wiederum grundsätzliche Bindungs-, Trennungs- und Misserfolgs-Traumata auslöst.
Das hat sich meine Schwester alles in Volkshochschulkursen wie »Der kleine Haus- und Hofpsychologe« oder »Kinderleicht in Kinderseelen blicken« angeeignet. Sie hat eine hervorragende Menschenkenntnis. Sie weiß und spürt alles. Nur nicht, dass sie mir mit ihrem altklugen Gluckengetue fürchterlich auf die Nerven geht.
Und dass ich es war, die ein Ei gelegt hat. Nicht sie. Sie brütet nur darauf herum.
Und deshalb hole ich heute meine Tochter ab. Zu Fuß. Damit wir Zeit zum Reden haben. Da müssen mir das Haus am Hang und die drei Prozent Provision auch mal egal sein. Drei Prozent von 1,4 Millionen Euro, das sind … mir bricht der Schweiß aus … über 40 000 Euro, die mich dieser Spaziergang kostet! Und das alles nur, weil der Penner an der Kasse stand!
Die Provision kassiert jetzt Stefan Stör, mein neuer Mitarbeiter. Ganz toll.
Nicht darüber nachdenken. Fanny ist viel wichtiger. Mit Geld nicht aufzuwiegen.
»Komm, mein Herz, gib mir deine Schultasche. Ich trage sie dir.«
»NEIN, ich will sie selber tragen!«
Zornig reißt Fanny sich los.
»Aber Liebes, ich hole dich von der Schule ab! Freust du dich denn gar nicht?!«
»Wieso muss ich immer zu Fuß gehen?«
Also Moment mal.
»Weil das gesund ist?«, wage ich vorsichtig einzuwenden. »Außerdem bist du in den letzten hundert Tagen kein einziges Mal zu Fuß gegangen!«
»Na und!«, schnauzt Fanny. »Es war ja auch schweinekalt und hat immer gegossen!«
»Aber jetzt scheint sie Sonne«, säusele ich, um Frieden be müht. »Und die schönen Blumen blühen, die Vögel singen, im Park sitzen die Leute schon auf der Bank, und die Enten auf dem Stadtteich haben schon Küken …«
Ja, ich weiß, dass ich klinge wie meine Schwester.
Ist das denn zu fassen, dass ich es mit sechsunddreißig Jahren schon geschafft habe, genauso betulich daherzureden wie sie?
»Das ist mir so was von scheißegal«, schnauzt Fanny mich wütend an.
»Aber warum hast du dann so schlechte Laune?«
»Weil der Scheiß-Rottweiler uns wieder so viele Aufgaben in Mathe aufgegeben hat, die ich einfach nicht kann!«
»Ich helfe dir, mein Schatz«, verspreche ich gutmütig. Einatmen, ausatmen.
Auch dieser Anfall pubertärer Übellaunigkeit geht vorbei. »Mathe kann total Spaß machen. Man muss sich nur reinknien.«
Wir latschen lustlos am Fluss entlang. Das heißt, Fanny latscht. In ihren ausgeleierten Turnschuhen, die sie niemals aufbindet, sondern deren Kappen sie immer mutwillig platt tritt.
Auch so eine morgendliche Diskussion.
Warum bindet das Kind die Schnürsenkel nicht anständig auf und zu?
»Mama, das muss so!«
»Wie, das muss so? Und wozu sind Schnürsenkel da?«
»Zu nix.«
»Das sehe ich aber anders.«
»Wer Schnürsenkel aufmacht, ist voll peinlich.«
»Der schöne teure Turnschuh geht aber davon kaputt!«
»Mama! Du bist so was von spießig!! Das ist kein Turnschuh!«
»Sondern?«
»Ein …« (Markenname, englisch, weigere ich mich, mir zu merken.)
Jedenfalls stinkt der Nicht-Turnschuh, der über hundert Euro gekostet hat, und sieht so was von gar nicht lieblich aus, wenn mein ansonsten graziles Kind darin herumlatscht, dass ich Christiane ausnahmsweise einmal recht geben muss. Ein hübscher lederner Schnürschuh muss her. Mit luftdurchlässiger Sohle. Ein Schuh, in dem der Fuß atmen kann. Da gibt es ganz reizende Mädchenschuhe bei Salamander.
Trotzdem halte ich es nicht für zielführend, jetzt mit dem spießigen Schnürschuh-Thema anzufangen. Ich will doch mein schlecht gestimmtes Töchterchen nicht noch bis zur Weißglut reizen. Nach zwanzig Minuten gelingt es mir, das beleidigte Schweigen meiner Tochter zu brechen. Gnädig willigt sie ein, dass ich ihre Schultasche trage.
»Was ist denn da drin? Steine?«, spule ich schon wieder die ausgeleierte Schallplatte meiner Halbschwester ab.
»Hahaha«, antwortet das liebliche Kind giftig.
Schnaufend setze ich die Tasche (wehe ich sage Tornister oder sonst was Peinliches!) auf eine Parkbank und entnehme ihr eine volle Flasche Wasser und das gesamte Schulfrühstück, das ich ihr noch heute Morgen und stehenden Fußes bereitet habe. Vollkornbrot mit Gurken, Radieschen und Vollwertaufstrich.
»Ja, was ist denn das? Hast du denn gar nichts gegessen und getrunken?«
»Nein.«
»Aber warum denn nicht?«
»Erstens haben wir überhaupt keine Pause, und zweitens ist das total peinlich.«
»Moment. Ihr habt keine Pause?«
»Nein. Nicht eine Sekunde.«
Wie alle in unserer Familie neigt mein Kind zu theatralischen Übertreibungen.
»Und warum ist das peinlich?«
»Mama!!! Welches Kind läuft denn noch mit einem Gurkenbrot durch die Gegend?! Und mit einer Flasche Wasser? Wie peinlich ist das denn?«
»Ähm … was essen denn die anderen?«
»Nix.«
»Kein Kind kann sechs Stunden nichts essen und dann noch...