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Im Koma - Roman

Joy Fielding

 

Verlag Goldmann, 2009

ISBN 9783641027896 , 432 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

KAPITEL 1
 
 
 
 
Weniger als eine Stunde bevor der Wagen sie mit einer Geschwindigkeit von achtzig Stundenkilometern erfasste, drei Meter durch die Luft wirbelte, ihr sämtliche Knochen brach und ihren Kopf auf dem Beton aufschlagen ließ, aß Casey Marshall noch mit ihren beiden besten Freundinnen im Southwark, einem beliebten Nobel-Restaurant in South Philadelphia, zu Mittag und ließ ihren Blick immer wieder aus dem eleganten, schmalen Speiseraum in den wunderschönen abgeschlossenen Innenhof schweifen. Sie fragte sich, wie lange das ungewöhnlich warme Märzwetter wohl noch andauern würde, ob ihr vor ihrem nächsten Termin noch Zeit zum Joggen bliebe und ob sie Janine gestehen sollte, was sie wirklich von ihrer neuen Frisur hielt. Sie hatte behauptet, sie gut zu finden, was gelogen war.
Bei dem Gedanken an die ersten warmen Frühlingstage musste Casey unwillkürlich lächeln, und ihr Blick glitt über den Strauß riesiger, rosafarben leuchtender Pfingstrosen auf dem Stillleben von Tony Scherman und wanderte von dort weiter zu dem prachtvollen Mahagonitresen im vorderen Teil des Restaurants.
»Du hasst sie, oder?«, hörte sie Janine fragen.
»Die Pfingstrosen?«, fragte Casey, obwohl sie bezweifelte, dass Janine das Gemälde je zur Kenntnis genommen hatte. Janine brüstete sich regelmäßig damit, ihre Umgebung gar nicht wahrzunehmen, was sie allerdings nicht davon abzuhalten schien, für ihre gemeinsamen Mittagessen immer nur die edelsten und teuersten Restaurants auszusuchen. »Ich finde sie fantastisch.«
»Meine Frisur. Du findest sie schrecklich.«
»Ich finde sie nicht schrecklich.«
»Aber zu streng.«
Casey blickte direkt in Janines beinahe stechende blaue Augen, die einen ganzen Tick dunkler waren als ihre eigenen. »Ein wenig, ja«, räumte sie ein. Die harten Konturen des präzise geschnittenen Bobs erdrückten Janines langes, schmales Gesicht und betonten ihr ohnehin spitzes Kinn, vor allem in Kombination mit der pechschwarzen Tönung.
»Ich hatte die ewig gleiche Frisur einfach satt«, erklärte Janine und sah ihre gemeinsame Freundin Gail Bestätigung heischend an.
Gail, die Casey gegenüber auf Janines Seite des Tisches saß, nickte gefällig. »Nun, ein bisschen Abwechslung kann bekanntlich nicht schaden«, sagte sie fast zeitgleich mit Janine, sodass die Sätze sich überlappten wie in einem Kanon.
»Ich meine, wir sind schließlich nicht mehr auf der Uni«, fuhr Janine fort. »Wir sind über dreißig. Man muss mit der Zeit gehen...«
»Mit der Zeit gehen ist immer gut«, kam das Echo von Gail.
»Es war einfach überfällig, diese Alice-im-Wunderland-Frisur abzulegen.« Janines spitzer Blick blieb an Caseys schulterlangen, naturblonden Haaren hängen.
»Ich mochte deine Haare lang«, wandte Casey ein.
»Ich auch«, stimmte Gail zu und strich sich ein paar fransige braune Locken hinters Ohr. Gail hatte nie Probleme mit ihrer Frisur. Sie sah immer so aus, als hätte sie gerade in eine Steckdose gefasst. »Aber so mag ich es auch«, fügte sie hinzu.
»Nun ja, irgendwann ist es soweit: Zeit für etwas Neues! Sagst du das nicht immer?« Die Frage war mit einem derart süßen Lächeln garniert, dass Casey nur mit Mühe entscheiden konnte, ob sie gekränkt sein sollte oder nicht. Klar war auf jeden Fall, dass sie nicht mehr über Frisuren redeten.
»Es ist vor allem Zeit für einen Kaffee«, verkündete Gail und winkte dem Kellner.
Casey beschloss, Janines Anspielung zu überhören. Welchen Sinn hatte es, alte Wunden aufzureißen? Stattdessen hielt sie dem gut aussehenden, dunkelhaarigen Kellner ihre Porzellantasse hin und sah zu, wie die heiße, dunkelbraune Flüssigkeit aus der Tülle der silbernen Kaffeekanne plätscherte. Casey wusste, dass Janine es nie ganz verwunden hatte, dass sie ihre gemeinsam nach der Uni gegründete juristische Personalagentur verlassen hatte, um etwas ganz Eigenes auf die Beine zu stellen, noch dazu in der völlig fremden Branche der Innendekoration. Aber sie hatte sich eingeredet, dass Janine nach einem Jahr zumindest ihren Frieden damit geschlossen hatte. Kompliziert wurde die Angelegenheit durch die Tatsache, dass Caseys neue Firma von Beginn an floriert hatte, während Ja nines Unternehmen stagnierte, was jeden geärgert hätte. »Es ist wirklich erstaunlich, wie alles, was du anfasst, zu Gold wird«, hatte Janine schon des Öfteren bemerkt, stets begleitet von jenem breiten Lächeln, das über den leicht giftigen Unterton hinwegtäuschte, der Casey nicht entging. Wahrscheinlich war es nur ihr eigenes schlechtes Gewissen, dachte sie jetzt, ohne recht zu wissen, wofür sie sich schuldig fühlen sollte.
Sie trank einen großen Schluck Kaffee und spürte, wie er in der Kehle brannte. Sie und Janine waren seit ihrem zweiten Studienjahr an der Brown University befreundet. Janine hatte gerade von Jura zu englischer Literatur gewechselt, Casey studierte Englisch und Psychologie. Trotz ihrer offensichtlich völlig gegensätzlichen Charaktere – Casey war eher zurückhaltend und nachgiebig, Janine reizbar und extrovertiert – hatten sie sich auf Anhieb verstanden. Vielleicht ein Fall von Gegensätzen, die sich anziehen. Jede meinte wohl, dass die andere etwas hatte, was ihr selbst fehlte. Casey hatte nie lange über die Frage gegrübelt, was sie zusammengebracht und warum ihre Freundschaft auch die zehn Jahre nach dem Examen überdauert hatte, obwohl in der Zeit ziemlich viel passiert war – darunter Caseys Ausstieg aus der gemeinsamen Firma und vor zwei Jahren ihre Hochzeit mit einem Mann, den Janine – garniert mit dem obligaten strahlenden Lächeln – als »natürlich verdammt perfekt« bezeichnet hatte.
Casey mochte Janine ganz einfach. Und genauso erging es ihr mit Gail, ihrer anderen besten Freundin, die in fast jeder Hinsicht viel unkomplizierter war. Casey kannte Gail seit der Grundschule, und obwohl das mehr als zwanzig Jahre zurücklag, war Gail im Grunde dasselbe arglose nette Mädchen geblieben, das sie immer gewesen war. Bei Gail wusste man immer, woran man war. Sie hatte mit ihren zweiunddreißig Jahren schon ziemlich viel durchgemacht, aber immer noch ein Kichern wie ein schüchterner Teenager. Manchmal kicherte sie sogar mitten im Satz, eine ebenso irritierende wie liebenswerte Marotte. Casey dachte immer, dass es die akustische Entsprechung der Geste war, mit der ein junger Hund sich auf den Rücken warf, um sich den Bauch kraulen zu lassen.
Im Gegensatz zu Janine gab es bei Gail kein Vortäuschen, keine Hintergedanken und auch keine besonders tiefschürfenden Einsichten. Meistens hörte sie sich erst einmal an, was die anderen zu sagen hatten, bevor sie sich zu irgendetwas äußerte. Janine grummelte manchmal über Gails Naivität und ihren »gnadenlosen Optimismus«, aber auch sie musste zugeben, dass Gail ein angenehmer Mensch war, mit dem man gerne zusammen war. Außerdem bewunderte Casey Gails Gabe, beide Parteien eines Streits anzuhören und jeder Seite das Gefühl zu vermitteln, auf ihrer Seite zu sein. Vermutlich war sie deshalb eine so gute Verkäuferin.
»Alles in Ordnung?«, fragte Casey, wandte sich wieder Janine zu und betete, als Antwort ein schlichtes Ja zu hören.
»Alles bestens. Warum fragst du?«
»Ich weiß nicht. Du wirkst ein wenig... ich weiß nicht.«
»Tu nicht so. Du weißt doch immer alles besser.«
»Siehst du – genau das meine ich.«
»Was meinst du damit?«
»Was meinst du damit?«
»Hab ich irgendwas verpasst?«, fragte Gail und blickte aus großen braunen Augen nervös von einer Frau zur anderen.
»Bist du wütend auf mich?«, fragte Casey Janine direkt.
»Warum sollte ich denn wütend auf dich sein?«
»Ich weiß es nicht.«
»Und ich weiß wirklich nicht, was du meinst.« Janine berührte das goldene Medaillon an ihrem Hals und nestelte an dem steifen Kragen ihrer weißen Valentino-Bluse. Casey wusste, dass sie von Valentino war, weil sie sie vor Kurzem auf dem Titelblatt der Vogue gesehen hatte. Sie wusste auch, dass Janine es sich nicht leisten konnte, fast zweitausend Dollar für eine Bluse auszugeben, aber andererseits hatte ihre Freundin schon über ihre Verhältnisse gelebt, so lange Casey denken konnte. »Schöne Klamotten sind für mich wichtig«, hatte Janine erklärt, als Casey einmal Bedenken zu einer ihrer exorbitanteren Neuerwerbungen äußerte. Gefolgt von: »Ich bin vielleicht nicht mit einem Silberlöffel im Mund zur Welt gekommen, aber ich weiß, wie wichtig es ist, sich gut zu kleiden.«
»Okay«, sagte Casey jetzt, nahm den Silberlöffel neben ihrer Tasse und wendete ihn in der Hand, bevor sie ihn wieder weglegte. »Dann ist es ja gut.«
»Nun, ich bin vielleicht ein wenig verärgert«, räumte...