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Umgarnt - Roman

Kate Jacobs

 

Verlag Heyne, 2009

ISBN 9783641032784 , 406 Seiten

Format ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR


 

2. Kapitel
Als sie noch jung war, hatte Anita nie daran gezweifelt, einmal Kinder zu bekommen. Es war der natürliche Lauf der Dinge. Heiraten bedeutete Kinder, und Kinder waren ein Synonym für Ehe. Und jeder wunderte sich, wenn es nicht sofort klappte. Für ein Paar wie Darwin und Dan, das auf den Kindersegen gewartet und gehofft hatte, hätte es damals keine Hilfe gegeben. Es wäre auch sehr schwierig gewesen, eine alleinerziehende Mutter zu sein, so wie Georgia es gewesen war und wozu sich Lucie ganz bewusst entschlossen hatte. Allerdings wirkte Lucie in letzter Zeit müde und gestresst, und ihre Tochter Ginger war wesentlich temperamentvoller als Dakota damals. Dennoch war es schön zu sehen, dass die Dinge auch anders sein konnten. Anita fand es wichtig, dass man die Wahl hatte. Andererseits konnte man sich heutzutage vor lauter Möglichkeiten leicht verirren.
Anita war gerade mal Anfang zwanzig gewesen, als sie heiratete. Damals war ihr jedoch nicht bewusst, wie jung ihr das eines Tages vorkommen würde. In ihrem wadenlangen weißen Kleid und dem Spitzenschleier hatte sie geglaubt, den Gipfel des Erwachsenseins erreicht zu haben. Stan hatte so stark und erfahren gewirkt – er wusste auf alles eine Antwort, was sie anfangs beruhigte, später dann amüsierte und ihr auch gelegentlich auf die Nerven ging. Aber seine feste Überzeugung davon, wie die Dinge zu sein hatten, beschützte Anita vor der Welt, und dafür war sie ihm immer dankbar gewesen.
Mit einundzwanzig kannte sie noch keine Probleme und Nöte des Lebens. Es waren die 1950er Jahre – und sie war alt genug, um zu heiraten und eine Familie zu gründen, aber gleichzeitig unbedarft genug, um einen ganzen Weltkrieg bewusst aus ihrem Gedächtnis zu streichen. Man glaubte an ein häusliches Glück voller Elektrogeräte, wo alles leicht und wie von selbst funktionierte. In der Hochzeitsnacht erschien alles möglich, und die ganze Zukunft lag vor ihnen. Sie konnte es kaum erwarten, mit Stan allein zu sein und ihr Wissen zu demonstrieren, das sie sich aus Büchern angelesen hatte. Es war eine ziemliche Überraschung, als sie mit der Zeit feststellte, dass Sex nicht alle Probleme löst. Er konnte zur Routine werden und manchmal, wenn ihr nicht danach war, sogar lästig. Verliebt zu sein, bewahrte nicht vor all den kleinen Ärgernissen und Enttäuschungen. Und auch in einer guten Ehe und wunderbaren Partnerschaft gab es Momente des Zweifels.
Im Laufe der Jahre hatte Anita den Kontakt zu allen sieben Freundinnen verloren, die damals ihre Brautjungfern gewesen waren. Sie wüsste auch nicht, wo sie nach dem Mädchen suchen sollte, das damals die Blumen gestreut hatte. Die Kleine war ihr beim Hochzeitsessen immer gefolgt, das Körbchen mit den Rosenblättern fest an sich gepresst, und hatte sie, als sie mit Stan den Saal verließ, nur widerwillig gehen lassen. Ihre kleine Schwester, die ihr zum Abschied winkte.
Es war schon etwas Besonderes, dass es den Freitagabend-Club jetzt schon so lange gab. Die Mitglieder hatten ihre Kontakte weitaus besser gepflegt als Anita. Was diese Frauen wohl dazu sagen würden, wenn sie Marty heiratete? Ganz bestimmt fänden sie es gut. Auch wenn diese Ehe nichts mit romantischer Träumerei zu tun hatte. Ihre Beziehung mit Marty war eine zwischen zwei Partnern auf Augenhöhe. Sie war fest in der realen Welt verankert. Davon abgesehen, wer heiratet schon, wenn er nicht weiß, wie lange er überhaupt noch da sein wird?
»Erde an Anita!«
Anita hob überrascht den Kopf. Sie hielt einen Strang hellgrüner Wolle in der Hand. Vor ihr stand K.C. und grinste.
»Du bist ja mit den Gedanken ganz woanders, Süße«, sagte K.C. »Warum setzt du dich nicht zu uns? Auf einen dieser neuen Stühle?«
Anita kam sich albern vor und ließ sich weiter in den Raum hinein zu den anderen ziehen. Sie hasste es, wenn die Mädels sie behandelten, als wäre sie alt und brauche besondere Aufmerksamkeit und Fürsorge. Ha! Sollten die doch erst mal knappe achtzig werden. Und sie arbeitete sogar noch tageweise – freiwillig – und setzte sich mit ihren drei Söhnen auseinander, die alles besser wussten. Auch was ihren neuen Lebenspartner anging. Als ob diese Jungs nicht genug mit ihren eigenen Familien zu tun hätten. Was mussten sie sich in die Angelegenheiten ihrer Mutter mischen? Aber sie taten es trotzdem. Anita umklammerte den Wollstrang, dessen Farbe sie an das Kleid des Blumenmädchens auf der Hochzeit erinnerte, und setzte sich. Sie rang sich ein kleines Lächeln für K.C. ab. Die wollte ja nur hilfsbereit sein und glaubte vermutlich, dass Anita so langsam tatterig wurde. Doch das war keineswegs der Fall. Anita war nur mit den Gedanken woanders. Bei Hochzeiten. Bei der Vergangenheit. Bei der Zukunft. Und bei ihren Söhnen mittleren Alters, die Wutanfälle bekamen, sobald Anitas Beziehung mit Marty auch nur einen Hauch von Dauerhaftigkeit annahm. Wo doch all ihre Freunde langsam, aber sicher verschwanden – und mittlerweile nicht mehr nur nach Florida.
»Strickst du etwas Bestimmtes?« Dakota befühlte das Garn. Anita hatte so viele Jahre lang immer an Westen gearbeitet, dass es immer noch überraschte, wenn sie etwas anderes strickte. Westen für Stan, deren Muster und Farben sie sich selbst ausgedacht hatte. Eine Künstlerin – so hatte ihr verstorbener Mann sie genannt. Seit sie mit Marty zusammen war, strickte sie keine Westen mehr. Die gehörten nun mal zu Stan. Natürlich vermisste sie es, das Gefühl, wenn die Weste Gestalt annahm, als könne sie sie durch die Kraft ihrer Gedanken entstehen lassen. Aber es kam ihr nicht richtig vor, immer noch Kleidung für ihren verstorbenen Mann zu stricken, wenn ihr neuer Lebensgefährte neben ihr auf dem Sofa saß und sich eins der zahllosen Baseball-Spiele im Fernsehen ansah. Oh, sie hatte ihm eine Strickjacke mit dem Logo der New York Yankees gestrickt, die er liebte, und einen Sitzkissenbezug, den er mit ins Stadion nehmen konnte. Aber im Unterschied zu den Westen blieb ihr dabei nicht viel Raum für Kreativität. Es gab nur das eine Logo, nur ein Yankee-Blau.
Heimlich arbeitete sie noch an einer Weste, die ganz unten in einem Korb versteckt war. Allein die Existenz dieses unfertigen Teils beruhigte sie, hielt die Verbindung zu vergangenen Tagen aufrecht. Weiterzugehen hieß nicht, sich von der Vergangenheit völlig zu trennen, nicht von Stan und nicht von Georgia. Es ging vielmehr darum, zu akzeptieren, dass diese Menschen nicht mehr zu ihrem Alltag gehörten, und dementsprechend zu leben. Trauer folgte ihren eigenen Gesetzen. Das wusste Anita nur zu gut.
So war sie dann auch dazu gekommen, Mützen und Ähnliches für Wohltätigkeitsveranstaltungen zu stricken. Etwas, woran sie arbeiten konnte, während die Yankees spielten. Sie hatte auch die Mitglieder des Strickclubs dazu gebracht, unter ihrer Anleitung für wohltätige Projekte und ähnliche Anlässe zu stricken. Früher einmal – es schien Lichtjahre her zu sein – hatte der Club versucht, gemeinsame Aktivitäten auf die Beine zu stellen. Damals hatten sie alle einen Pullover nach demselben Muster gestrickt. Es wurde ein komplettes Desaster. K.C. schmiss die Brocken hin, kaum dass sie angefangen hatte, Catherine versuchte es erst gar nicht, Darwin bemühte sich sehr und strickte einen unglaublich hässlichen Pullover – und zwischendurch noch jede Menge anderer Sachen. Nach Georgias Tod hatte sich der Club weiterhin getroffen, aber alle waren zu sehr mit ihren Gefühlen beschäftigt, um ans Stricken zu denken. Dann hatten sie mit ihren Jobs viel um die Ohren. Und obwohl sie sich weiterhin regelmäßig trafen, blieb das Stricken auf der Strecke.
Und deshalb fasste Anita einen Entschluss. Als sie viele Monate nach Georgias Tod an einem sonnigen Vormittag über den Broadway ging, wurde ihr klar, was der Club brauchte. Sie mussten alle gemeinsam noch einmal eine Decke stricken: so eine wie die für Georgia, als sie schon krank gewesen war. Jede von ihnen hatte ein kleines Stück gestrickt, die sie dann zusammennähten zu einer riesigen, sehr »individuellen« Decke. Georgia hatte sie geliebt. Auch wenn sie nicht gerade schick aussah.
Damit sie mit ihrer Idee auch Erfolg hatte, überarbeitete Anita das alte Muster. Es sollte eine kleinere Decke werden, die man sich über die Beine legen konnte – kompakter und praktischer. Außerdem sollten alle mit dickeren Nadeln stricken, damit es schneller ging. Das war entscheidend, damit jemand wie K.C., die so gut wie nie strickte, es überhaupt versuchte. Außerdem bot Anita während ihrer regelmäßigen Treffen einen Auffrischungskurs für die anderen an. Auf die für sie typische Art – freundlich, aber bestimmt – brachte sie die Frauen dazu, abends vor dem Schlafengehen oder am Wochenende wenigstens ein paar Reihen zu stricken. Die Fortschritte wurden von ihr überprüft. Schnell war die frühere Begeisterung am Stricken bei allen wieder zum Leben erweckt. Jede von ihnen strickte so viele »Georgia-Decken« wie sie nur schaffte, um sie dann den Chemo-Patienten im Krankenhaus zu schenken. Jedes Jahr versuchten sie, für ihren Gedenkmarsch im September möglichst viele Decken fertig zu bekommen. Sie setzten sogar einen Preis aus für diejenige, der es gelang, die meisten Decken zu stricken: die Goldenen Nadeln des Freitagabend-Strickclubs. Es waren nur ein paar Stricknadeln, die auf einen Holzblock geklebt und mit Goldlack übersprüht wurden. Anita gewann ihren eigenen Preis fast jedes Mal. Aber das Überreichen der Goldenen Nadeln während des Clubtreffens nach dem Marsch wurde zu einem mit Spannung erwarteten Ritual.
Ihre gemeinsame Vergangenheit und diese gemeinsamen Ziele trugen dazu bei, dass der Club nicht zerbrach, selbst als sich ihre Leben in unterschiedliche Richtungen entwickelten.
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